geboren am 31. Mai 1949
erschossen am 16. März 1981
nahe der Kopenhagener Straße in Wilhelmsruh
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Reinickendorf und Berlin-Pankow
"Bleib’ doch stehen, bleib’ doch stehen und mach’ keinen Blödsinn", soll der Posten gerufen haben, während er versucht, ihn an der Jacke festzuhalten. Johannes Muschol scheint zunächst innezuhalten; dann reißt er sich plötzlich los, rennt durch die Panzersperren zum Grenzsignalzaun, zieht den Stacheldraht auseinander und klettert durch die Öffnung.Johannes Muschol, geboren am 31. Mai 1949 im bayerischen Aschau, ist 23 Jahre alt und studiert Medizin, als bei ihm eine schizophrene Psychose diagnostiziert wird. 1972 und in den Jahren darauf muss er sich deswegen mehrfach in Behandlung begeben. Dennoch kann er sein Medizinstudium abschließen. Doch dann holt ihn seine inzwischen chronisch gewordene Krankheit wieder ein; im Mai 1979 wird er bis auf Weiteres berufsunfähig geschrieben. [1]
Gemeinsam mit einem Bekannten fährt Johannes Muschol am 14. März 1981 mit dem Auto nach West-Berlin, um an einer Wohnungseinweihung teilzunehmen. [2] Auf der Transitstrecke kommt es zu einem Streit mit seinem Begleiter, weil Johannes Muschol unbedingt aussteigen will; sein Begleiter mutmaßt später, dass er möglicherweise eine Tante in der DDR besuchen wollte, von der er ihm erzählt habe. In West-Berlin angekommen, gehen die beiden Männer auf Grund des Konflikts getrennte Wege. Am Abend treffen sie sich auf der Einweihungsparty wieder und verabreden sich für den nächsten Morgen, 11.00 Uhr, am Bahnhof Zoo, um von dort die Heimfahrt gemeinsam anzutreten.
Doch Dr. Johannes Muschol erscheint nicht zum vereinbarten Zeitpunkt. Am Abend des 15. März wird er in einem Altenheim im Ost-Berliner Stadtteil Treptow aufgegriffen und an die Grenze nach West-Berlin zurückgebracht. [3] Was wollte er in Ost-Berlin? Unter welchen Umständen wurde er "zurückgeführt"? Wo verbrachte er die Nacht? Am Morgen des 16. März erkundigt er sich auf der Westseite des Grenzübergangs Bornholmer Straße, wie die Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze beschaffen seien. [4] Dann irrt er durch den West-Berliner Bezirk Reinickendorf, wo er mehrere Anwohner anspricht und sie um Brot, Wasser und eine Gelegenheit, sich zu waschen, bittet. Schließlich begibt er sich an der Sektorengrenze zwischen Alt-Reinickendorf und dem Ost-Berliner Ortsteil Wilhelmsruh auf eine unmittelbar an der Mauer stehende Aussichtsplattform.
Es ist kurz nach 11.00 Uhr, als Johannes Muschol an diesem sonnigen und klaren 16. März über die Brüstung der Aussichtsplattform auf die Mauerkrone steigt. "Was machen Sie denn da, sind Sie verrückt, kommen Sie zurück!", will eine Zeugin gerufen haben. [5] Aber Johannes Muschol springt über die Mauer und rennt durch den Todesstreifen in Richtung Ost-Berlin. Zwei Grenzposten entdecken ihn, einer der Posten verlässt den Turm, um ihn festzunehmen, er deutet das seltsame, wirre Verhalten des "Grenzverletzers" als Einfluss von Alkohol oder Drogen, was nicht zutrifft, wie sich später erweist. "Bleib’ doch stehen, bleib’ doch stehen und mach’ keinen Blödsinn", soll der Posten gerufen haben, während er versucht, ihn an der Jacke festzuhalten. [6] Johannes Muschol scheint zunächst innezuhalten; dann reißt er sich plötzlich los, rennt durch die Panzersperren zum Grenzsignalzaun, zieht den Stacheldraht auseinander und klettert durch die Öffnung. Erfolglos versucht er mehrmals die Hinterlandmauer zu überwinden, während der ihn verfolgende Posten ihn auffordert, aufzugeben und sich festnehmen zu lassen. Der zweite Grenzsoldat, an diesem Tag Postenführer, beobachtet das Geschehen vom gut zehn Meter entfernten Turm aus: "Nun schieß’ doch endlich, du Trottel!", soll er gerufen haben. [7] Das tut der Posten aber nicht; nur wenige Meter von Muschol entfernt redet er stattdessen begütigend auf den offenbar verwirrten Flüchtenden ein, der seiner Ansicht nach kurz davor ist, sein Vorhaben aufzugeben. "Ich will nicht schießen, komm’ runter und mach’ keinen Blödsinn", will er zum Turm hin dem Postenführer zugerufen haben. [8]
Obwohl offensichtlich ist, dass Muschol die drei Meter hohe Mauer nicht überwinden kann, schießt der Postenführer von seinem Wachturm aus zwölf Meter Entfernung auf ihn. Von jedem der drei abgegebenen Schüsse getroffen, stürzt Johannes Muschol zu Boden und stirbt innerhalb weniger Sekunden an den Folgen eines durch den Rücken erlittenen Herzdurchschusses. "Bist du blöd!", will der andere Grenzposten gerufen haben, empört über die seiner Ansicht nach völlig überflüssigen Schüsse, die obendrein ihn selbst gefährdeten. [9]
Stunden später, im Schutz der Dunkelheit, wird der Leichnam abtransportiert und im Gerichtsmedizinischen Institut der Militärmedizinischen Akademie Bad Saarow, einer Einrichtung der Nationalen Volksarmee, obduziert. Der Totenschein wird zunächst auf den Namen Johannes Muschol ausgestellt, dann jedoch vom gleichen Militärmediziner ein neuer Totenschein unterschrieben, der aus Johannes Muschol einen "unbekannten" Toten macht. [10]
Auch die Militärstaatsanwaltschaft beim DDR-Generalstaatsanwalt beteiligt sich durch Urkundenfälschung an der Vertuschungsaktion: der Militärstaatsanwalt, der die Obduktion von Johannes Muschol noch unter dessen Namen angeordnet hat, deklariert ihn danach in der für die Leichenfreigabe erforderlichen "Anzeige eines unnatürlichen Todesfalls" an den Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte als "unbekannte männliche Person". [11]
Erst 14 Tage später wird der Leichnam von der Stasi ins Krematorium Baumschulenweg überführt und eingeäschert; die Kosten begleicht die Stasi mit dem Geld, das der Tote bei sich trägt. [12] Unterlagen über den Verbleib der Urne können nach 1990 weder im Krematorium noch bei der Verwaltung des Friedhofes Baumschulenweg aufgefunden werden. Vernehmungen von mutmaßlichen Mitwissern verlaufen im Sande.
Die beteiligten Grenzposten werden wenige Tage nach dem Vorfall belobigt, ausgezeichnet und in Sonderurlaub geschickt. Die Staatssicherheit verpflichtet sie zur strengsten Verschwiegenheit und lässt sie von nun an überwachen.
Meldungen über einen an der Mauer angeschossenen bzw. erschossenen Unbekannten beherrschen in den Tagen nach dem 16. März 1981 die Schlagzeilen der West-Berliner und westdeutschen Presse. [13] Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin ersucht bereits am 17. März das DDR-Außenministerium um Auskunft über die Identität des Angeschossenen, seinen Aufenthaltsort und seinen Gesundheitszustand sowie um die Möglichkeit, persönlichen Kontakt aufzunehmen. Der verantwortliche DDR-Diplomat erklärt die Ständige Vertretung für nicht zuständig und weist die Bitte zurück. [14]
Bereits in der Woche nach dem Vorfall informieren die Geschwister von Johannes Muschol das Münchner Polizeipräsidium über ihre Vermutung, bei dem Angeschossenen könne es sich um ihren Bruder handeln. Am 1. Juni 1981 gibt die Familie schließlich eine förmliche Vermisstenanzeige auf. [15] Es vergehen weitere Monate, ehe Zeugen des Vorfalls den von DDR-Grenzposten niedergeschossenen Mann auf Fotos zweifelsfrei als Johannes Muschol identifizieren. [16] "Der Mann im Todesstreifen war ein Arzt", heißt es im Januar 1982 in der "Bild-Zeitung", und die "Berliner Morgenpost" fragt: "Was ist mit Dr. Muschol?" [17] Um Antwort zu finden, suchen Familienangehörige Ende Januar 1982 auf eigene Initiative den DDR-Unterhändler für humanitäre Fragen, Wolfgang Vogel, auf. Dieser schließt aus, dass es sich bei der fraglichen Person um Johannes Muschol handeln könne, weil ihm dies sicher mitgeteilt worden wäre. Ein solcher Vorfall lasse sich "heute auch in der DDR nicht mehr totschweigen", behält der Bruder des Getöteten die Auskunft Vogels in Erinnerung. [18]
Der Vertraute Honeckers irrt oder gibt bewusst eine unzutreffende Auskunft. Die tödlichen Schüsse vom 16. März 1981 kamen der SED-Führung politisch denkbar ungelegen. Am Tag zuvor wurde die Leipziger Frühjahrsmesse eröffnet, am 16. März ist der österreichische Bundespräsident Rudolf Kirchschläger in der DDR zu Gast, am 17. März wird der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt erwartet. Auf Grund zunehmender wirtschaftlicher Probleme ist die DDR mehr denn je auf den Handel mit dem Westen angewiesen, für den sich ein gutes politisches Klima als vorteilhaft erwiesen hat. Um genau das auszuschließen, was nun eingetreten war, ist der Schießbefehl für die Grenzsoldaten am 16. März sogar ausdrücklich abgemildert und auf reine Notwehrsituationen beschränkt worden. [19] Die Vertuschung der tödlichen Schüsse an der Mauer scheint den DDR-Verantwortlichen in dieser Situation für das politische Klima und das Messegeschäft offenbar nützlicher als dessen Bestätigung. Und einmal begonnen, setzen sie das Vertuschungsmanöver konsequent fort. Das DDR-Außenministerium antwortet Anfang 1982 auf weitere Anfragen der Ständigen Vertretung, dass ein Johannes Muschol "in der DDR nicht bekannt sei" und dass er sich dort auch nicht "als Leiche" befände. [20]
So sehr die Ungewissheit über sein Schicksal die Angehörigen belastet: ihre jahrelang fortgesetzten Bemühungen, über den offiziellen Behördenweg und auf eigene Faust über den inoffiziellen Anwalts-Kanal Aufschluss zu erhalten, bleiben bis zum Ende der DDR ohne Erfolg.
Die Abgabe der tödlichen Schüsse vom 16. März 1981 verstieß gegen die regulären Dienstvorschriften der Grenztruppen und gegen die besondere, politisch motivierte Befehlslage dieses Tages; die Tat war insofern auch in der DDR rechtswidrig. Strafrechtliche Ermittlungen wurden zu DDR-Zeiten gleichwohl nicht eingeleitet. Erst 15 Jahre später wird der Todesschütze angeklagt. Der bedauert 1996 vor dem Landgericht Berlin, einen Menschen erschossen zu haben; seine Tat habe ihn die ganzen Jahre nicht losgelassen. [21] Weil er damals jedoch "ohne Skrupel und innere Abwehr" auf Johannes Muschol geschossen habe, obwohl er ihn ohne weiteres hätte festnehmen können, verurteilt ihn das Landgericht wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. [22]
Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin wegen des Verdachts der Rechtsbeugung und der Begünstigung bzw. Strafvereitelung muss 1998 eingestellt werden. Die Beschuldigten, – darunter der damalige Leiter der Berliner Stasi-Bezirksverwaltung, Wolfgang Schwanitz, und sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Siegfried Hähnel –, schweigen in der Regel zur Sache oder geben vor, sich daran nicht erinnern zu können. Offenbar ist diesen Tschekisten und ihren Erfüllungsgehilfen jede Form von Ehre und Menschlichkeit fremd, durch ihre Aussage einem Getöteten, für dessen anonyme Verscharrung sie Mitverantwortung tragen, wenigstens zu einem menschenwürdigen Begräbnis zu verhelfen. Insoweit verläuft das Ermittlungsverfahren im Sande, weil es an aussagebereiten, informierten und zugleich unverdächtigen Zeugen mangelt. [23]
Die Grabstelle von Dr. Johannes Muschol konnte bis heute nicht ermittelt werden.
Text: Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
Gemeinsam mit einem Bekannten fährt Johannes Muschol am 14. März 1981 mit dem Auto nach West-Berlin, um an einer Wohnungseinweihung teilzunehmen. [2] Auf der Transitstrecke kommt es zu einem Streit mit seinem Begleiter, weil Johannes Muschol unbedingt aussteigen will; sein Begleiter mutmaßt später, dass er möglicherweise eine Tante in der DDR besuchen wollte, von der er ihm erzählt habe. In West-Berlin angekommen, gehen die beiden Männer auf Grund des Konflikts getrennte Wege. Am Abend treffen sie sich auf der Einweihungsparty wieder und verabreden sich für den nächsten Morgen, 11.00 Uhr, am Bahnhof Zoo, um von dort die Heimfahrt gemeinsam anzutreten.
Doch Dr. Johannes Muschol erscheint nicht zum vereinbarten Zeitpunkt. Am Abend des 15. März wird er in einem Altenheim im Ost-Berliner Stadtteil Treptow aufgegriffen und an die Grenze nach West-Berlin zurückgebracht. [3] Was wollte er in Ost-Berlin? Unter welchen Umständen wurde er "zurückgeführt"? Wo verbrachte er die Nacht? Am Morgen des 16. März erkundigt er sich auf der Westseite des Grenzübergangs Bornholmer Straße, wie die Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze beschaffen seien. [4] Dann irrt er durch den West-Berliner Bezirk Reinickendorf, wo er mehrere Anwohner anspricht und sie um Brot, Wasser und eine Gelegenheit, sich zu waschen, bittet. Schließlich begibt er sich an der Sektorengrenze zwischen Alt-Reinickendorf und dem Ost-Berliner Ortsteil Wilhelmsruh auf eine unmittelbar an der Mauer stehende Aussichtsplattform.
Es ist kurz nach 11.00 Uhr, als Johannes Muschol an diesem sonnigen und klaren 16. März über die Brüstung der Aussichtsplattform auf die Mauerkrone steigt. "Was machen Sie denn da, sind Sie verrückt, kommen Sie zurück!", will eine Zeugin gerufen haben. [5] Aber Johannes Muschol springt über die Mauer und rennt durch den Todesstreifen in Richtung Ost-Berlin. Zwei Grenzposten entdecken ihn, einer der Posten verlässt den Turm, um ihn festzunehmen, er deutet das seltsame, wirre Verhalten des "Grenzverletzers" als Einfluss von Alkohol oder Drogen, was nicht zutrifft, wie sich später erweist. "Bleib’ doch stehen, bleib’ doch stehen und mach’ keinen Blödsinn", soll der Posten gerufen haben, während er versucht, ihn an der Jacke festzuhalten. [6] Johannes Muschol scheint zunächst innezuhalten; dann reißt er sich plötzlich los, rennt durch die Panzersperren zum Grenzsignalzaun, zieht den Stacheldraht auseinander und klettert durch die Öffnung. Erfolglos versucht er mehrmals die Hinterlandmauer zu überwinden, während der ihn verfolgende Posten ihn auffordert, aufzugeben und sich festnehmen zu lassen. Der zweite Grenzsoldat, an diesem Tag Postenführer, beobachtet das Geschehen vom gut zehn Meter entfernten Turm aus: "Nun schieß’ doch endlich, du Trottel!", soll er gerufen haben. [7] Das tut der Posten aber nicht; nur wenige Meter von Muschol entfernt redet er stattdessen begütigend auf den offenbar verwirrten Flüchtenden ein, der seiner Ansicht nach kurz davor ist, sein Vorhaben aufzugeben. "Ich will nicht schießen, komm’ runter und mach’ keinen Blödsinn", will er zum Turm hin dem Postenführer zugerufen haben. [8]
Obwohl offensichtlich ist, dass Muschol die drei Meter hohe Mauer nicht überwinden kann, schießt der Postenführer von seinem Wachturm aus zwölf Meter Entfernung auf ihn. Von jedem der drei abgegebenen Schüsse getroffen, stürzt Johannes Muschol zu Boden und stirbt innerhalb weniger Sekunden an den Folgen eines durch den Rücken erlittenen Herzdurchschusses. "Bist du blöd!", will der andere Grenzposten gerufen haben, empört über die seiner Ansicht nach völlig überflüssigen Schüsse, die obendrein ihn selbst gefährdeten. [9]
Stunden später, im Schutz der Dunkelheit, wird der Leichnam abtransportiert und im Gerichtsmedizinischen Institut der Militärmedizinischen Akademie Bad Saarow, einer Einrichtung der Nationalen Volksarmee, obduziert. Der Totenschein wird zunächst auf den Namen Johannes Muschol ausgestellt, dann jedoch vom gleichen Militärmediziner ein neuer Totenschein unterschrieben, der aus Johannes Muschol einen "unbekannten" Toten macht. [10]
Auch die Militärstaatsanwaltschaft beim DDR-Generalstaatsanwalt beteiligt sich durch Urkundenfälschung an der Vertuschungsaktion: der Militärstaatsanwalt, der die Obduktion von Johannes Muschol noch unter dessen Namen angeordnet hat, deklariert ihn danach in der für die Leichenfreigabe erforderlichen "Anzeige eines unnatürlichen Todesfalls" an den Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte als "unbekannte männliche Person". [11]
Erst 14 Tage später wird der Leichnam von der Stasi ins Krematorium Baumschulenweg überführt und eingeäschert; die Kosten begleicht die Stasi mit dem Geld, das der Tote bei sich trägt. [12] Unterlagen über den Verbleib der Urne können nach 1990 weder im Krematorium noch bei der Verwaltung des Friedhofes Baumschulenweg aufgefunden werden. Vernehmungen von mutmaßlichen Mitwissern verlaufen im Sande.
Die beteiligten Grenzposten werden wenige Tage nach dem Vorfall belobigt, ausgezeichnet und in Sonderurlaub geschickt. Die Staatssicherheit verpflichtet sie zur strengsten Verschwiegenheit und lässt sie von nun an überwachen.
Meldungen über einen an der Mauer angeschossenen bzw. erschossenen Unbekannten beherrschen in den Tagen nach dem 16. März 1981 die Schlagzeilen der West-Berliner und westdeutschen Presse. [13] Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin ersucht bereits am 17. März das DDR-Außenministerium um Auskunft über die Identität des Angeschossenen, seinen Aufenthaltsort und seinen Gesundheitszustand sowie um die Möglichkeit, persönlichen Kontakt aufzunehmen. Der verantwortliche DDR-Diplomat erklärt die Ständige Vertretung für nicht zuständig und weist die Bitte zurück. [14]
Bereits in der Woche nach dem Vorfall informieren die Geschwister von Johannes Muschol das Münchner Polizeipräsidium über ihre Vermutung, bei dem Angeschossenen könne es sich um ihren Bruder handeln. Am 1. Juni 1981 gibt die Familie schließlich eine förmliche Vermisstenanzeige auf. [15] Es vergehen weitere Monate, ehe Zeugen des Vorfalls den von DDR-Grenzposten niedergeschossenen Mann auf Fotos zweifelsfrei als Johannes Muschol identifizieren. [16] "Der Mann im Todesstreifen war ein Arzt", heißt es im Januar 1982 in der "Bild-Zeitung", und die "Berliner Morgenpost" fragt: "Was ist mit Dr. Muschol?" [17] Um Antwort zu finden, suchen Familienangehörige Ende Januar 1982 auf eigene Initiative den DDR-Unterhändler für humanitäre Fragen, Wolfgang Vogel, auf. Dieser schließt aus, dass es sich bei der fraglichen Person um Johannes Muschol handeln könne, weil ihm dies sicher mitgeteilt worden wäre. Ein solcher Vorfall lasse sich "heute auch in der DDR nicht mehr totschweigen", behält der Bruder des Getöteten die Auskunft Vogels in Erinnerung. [18]
Der Vertraute Honeckers irrt oder gibt bewusst eine unzutreffende Auskunft. Die tödlichen Schüsse vom 16. März 1981 kamen der SED-Führung politisch denkbar ungelegen. Am Tag zuvor wurde die Leipziger Frühjahrsmesse eröffnet, am 16. März ist der österreichische Bundespräsident Rudolf Kirchschläger in der DDR zu Gast, am 17. März wird der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt erwartet. Auf Grund zunehmender wirtschaftlicher Probleme ist die DDR mehr denn je auf den Handel mit dem Westen angewiesen, für den sich ein gutes politisches Klima als vorteilhaft erwiesen hat. Um genau das auszuschließen, was nun eingetreten war, ist der Schießbefehl für die Grenzsoldaten am 16. März sogar ausdrücklich abgemildert und auf reine Notwehrsituationen beschränkt worden. [19] Die Vertuschung der tödlichen Schüsse an der Mauer scheint den DDR-Verantwortlichen in dieser Situation für das politische Klima und das Messegeschäft offenbar nützlicher als dessen Bestätigung. Und einmal begonnen, setzen sie das Vertuschungsmanöver konsequent fort. Das DDR-Außenministerium antwortet Anfang 1982 auf weitere Anfragen der Ständigen Vertretung, dass ein Johannes Muschol "in der DDR nicht bekannt sei" und dass er sich dort auch nicht "als Leiche" befände. [20]
So sehr die Ungewissheit über sein Schicksal die Angehörigen belastet: ihre jahrelang fortgesetzten Bemühungen, über den offiziellen Behördenweg und auf eigene Faust über den inoffiziellen Anwalts-Kanal Aufschluss zu erhalten, bleiben bis zum Ende der DDR ohne Erfolg.
Die Abgabe der tödlichen Schüsse vom 16. März 1981 verstieß gegen die regulären Dienstvorschriften der Grenztruppen und gegen die besondere, politisch motivierte Befehlslage dieses Tages; die Tat war insofern auch in der DDR rechtswidrig. Strafrechtliche Ermittlungen wurden zu DDR-Zeiten gleichwohl nicht eingeleitet. Erst 15 Jahre später wird der Todesschütze angeklagt. Der bedauert 1996 vor dem Landgericht Berlin, einen Menschen erschossen zu haben; seine Tat habe ihn die ganzen Jahre nicht losgelassen. [21] Weil er damals jedoch "ohne Skrupel und innere Abwehr" auf Johannes Muschol geschossen habe, obwohl er ihn ohne weiteres hätte festnehmen können, verurteilt ihn das Landgericht wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. [22]
Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin wegen des Verdachts der Rechtsbeugung und der Begünstigung bzw. Strafvereitelung muss 1998 eingestellt werden. Die Beschuldigten, – darunter der damalige Leiter der Berliner Stasi-Bezirksverwaltung, Wolfgang Schwanitz, und sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Siegfried Hähnel –, schweigen in der Regel zur Sache oder geben vor, sich daran nicht erinnern zu können. Offenbar ist diesen Tschekisten und ihren Erfüllungsgehilfen jede Form von Ehre und Menschlichkeit fremd, durch ihre Aussage einem Getöteten, für dessen anonyme Verscharrung sie Mitverantwortung tragen, wenigstens zu einem menschenwürdigen Begräbnis zu verhelfen. Insoweit verläuft das Ermittlungsverfahren im Sande, weil es an aussagebereiten, informierten und zugleich unverdächtigen Zeugen mangelt. [23]
Die Grabstelle von Dr. Johannes Muschol konnte bis heute nicht ermittelt werden.
Text: Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
[1]
Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Bodo W. vom 21.6.1996, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 8, Bl. 29.
[2]
Vgl. zum Folgenden: Vernehmung eines Bekannten von Johannes Muschol durch die Münchner Polizei vom 3.12.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 2, Bl. 167-168.
[3] Anklageschrift der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin gegen Bodo W., 27/2 Js 110/90 vom 27.11.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 7, Bl. 79. [4] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei: Hinweis auf Grenzzwischenfall Kopenhagener Straße, 20.3.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 2, Bl. 48.
[5] Vernehmung einer Zeugin durch die Berliner Polizei vom 10.4.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 5, Bl. 7; vgl. auch Anklageschrift der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin gegen Bodo W., 27/2 Js 110/90 vom 27.11.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 7, Bl. 80.
[6] Vernehmung einer Zeugin durch die Berliner Polizei vom 10.4.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 5, Bl. 7. [7] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Bodo W. vom 21.6.1996, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 110/90, Bd. 8, Bl. 30.
[8] Ebd., Bl. 35. [9] Ebd., Bl. 35. [10] Beide Totenscheine sind überliefert in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 1, Bl. 4 und 6. [11] Der Generalstaatsanwalt der DDR/Militär-Oberstaatsanwalt/Abt. IA, Anzeige eines unnatürlichen Todesfalles, Berlin, 26.3.1981, in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 1, Bl. 9-10. [12] MfS/HA IX/7, Aktenvermerk, 10.4.1981, in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 2, Bl. 112.
[13] Vgl. "Nach Osten über die Mauer: Niedergeschossen", Berliner Morgenpost, 17.3.1981; "Mauer: Mann sprang in Osten – Schüsse, tot?", Bild-Zeitung, 17.3.1981; "Gezielte Schüsse aus 15 Meter Entfernung vom Grepo-Wachturm", BZ, 17.3.1981; "DDR-Posten schossen Mann an der Berliner Mauer nieder", Der Tagesspiegel, 17.3.1981; "Wenig wissen wir von dem, der fliehen wollte", Die Welt, 19.3.1981.
[14] Vermerk des MfAA/HA Konsularische Angelegenheiten über ein Gespräch in der HA Konsularische Angelegenheiten am 17. März 1981, von 14.00 bis 14.25 Uhr, Berlin, 17.3.1981, in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 2, Bl. 3-6. [15] Vgl. Vermisstenmeldung der Polizei Landshut vom 1.6.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 1, Bl. 150-151. [16] Vgl. "Seit Zwischenfall an der Mauer verschollener Mann identifiziert", Der Tagesspiegel, 16.1.1982.
[17] Vgl. Bild-Zeitung, 16.1.1982; Berliner Morgenpost, 16.1.1982.
[18] Gesprächsnotiz des Bruders von Johannes Muschol über die Besprechung mit Rechtsanwalt Dr. Vogel am 27.1.1982 in Ost-Berlin (im Privatbesitz). [19] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Bodo W. vom 21.6.1996, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 8, Bl. 27.
[20] Schreiben der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland an den Bruder von Johannes Muschol vom 2.6.1982 (im Privatbesitz). [21] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Bodo W. vom 21.6.1996, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 8, Bl. 34.
[22] Vgl. ebd., Zitat Bl. 50. [23] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin zu 28 Js 99/96 vom 25.6.1998, in: StA Berlin, Az. 28 Js 99/96, Bl. 211-221.
[3] Anklageschrift der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin gegen Bodo W., 27/2 Js 110/90 vom 27.11.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 7, Bl. 79. [4] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei: Hinweis auf Grenzzwischenfall Kopenhagener Straße, 20.3.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 2, Bl. 48.
[5] Vernehmung einer Zeugin durch die Berliner Polizei vom 10.4.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 5, Bl. 7; vgl. auch Anklageschrift der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin gegen Bodo W., 27/2 Js 110/90 vom 27.11.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 7, Bl. 80.
[6] Vernehmung einer Zeugin durch die Berliner Polizei vom 10.4.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 5, Bl. 7. [7] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Bodo W. vom 21.6.1996, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 110/90, Bd. 8, Bl. 30.
[8] Ebd., Bl. 35. [9] Ebd., Bl. 35. [10] Beide Totenscheine sind überliefert in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 1, Bl. 4 und 6. [11] Der Generalstaatsanwalt der DDR/Militär-Oberstaatsanwalt/Abt. IA, Anzeige eines unnatürlichen Todesfalles, Berlin, 26.3.1981, in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 1, Bl. 9-10. [12] MfS/HA IX/7, Aktenvermerk, 10.4.1981, in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 2, Bl. 112.
[13] Vgl. "Nach Osten über die Mauer: Niedergeschossen", Berliner Morgenpost, 17.3.1981; "Mauer: Mann sprang in Osten – Schüsse, tot?", Bild-Zeitung, 17.3.1981; "Gezielte Schüsse aus 15 Meter Entfernung vom Grepo-Wachturm", BZ, 17.3.1981; "DDR-Posten schossen Mann an der Berliner Mauer nieder", Der Tagesspiegel, 17.3.1981; "Wenig wissen wir von dem, der fliehen wollte", Die Welt, 19.3.1981.
[14] Vermerk des MfAA/HA Konsularische Angelegenheiten über ein Gespräch in der HA Konsularische Angelegenheiten am 17. März 1981, von 14.00 bis 14.25 Uhr, Berlin, 17.3.1981, in: BStU, MfS, AU 90/90, Handakte Bd. 2, Bl. 3-6. [15] Vgl. Vermisstenmeldung der Polizei Landshut vom 1.6.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 1, Bl. 150-151. [16] Vgl. "Seit Zwischenfall an der Mauer verschollener Mann identifiziert", Der Tagesspiegel, 16.1.1982.
[17] Vgl. Bild-Zeitung, 16.1.1982; Berliner Morgenpost, 16.1.1982.
[18] Gesprächsnotiz des Bruders von Johannes Muschol über die Besprechung mit Rechtsanwalt Dr. Vogel am 27.1.1982 in Ost-Berlin (im Privatbesitz). [19] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Bodo W. vom 21.6.1996, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 8, Bl. 27.
[20] Schreiben der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland an den Bruder von Johannes Muschol vom 2.6.1982 (im Privatbesitz). [21] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Bodo W. vom 21.6.1996, in: StA Berlin, Az. 27 Js 110/90, Bd. 8, Bl. 34.
[22] Vgl. ebd., Zitat Bl. 50. [23] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin zu 28 Js 99/96 vom 25.6.1998, in: StA Berlin, Az. 28 Js 99/96, Bl. 211-221.