I. Fünfundzwanzig Jahre Berliner Mauer
(Auszug)
[...]
25 Jahre sind seit dem Bau der Berliner Mauer vergangen - ein Vierteljahrhundert europäischer
und deutscher Geschichte. Nicht nur die Publizistik, auch die Wissenschaft hat sich seitdem ausgiebig mit dieser Zäsur befasst. [...]
Trotz umfangreicher Forschungen blieb ein Aspekt des Mauerbaus bislang unberücksichtigt, zumindest aber sehr vernachlässigt: Wie haben die Bürger der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere die West-Berliner den Mauerbau aufgenommen und sich auf ihn eingestellt - nicht nur am 13. August 1961 und den nachfolgenden Wochen und Monaten, sondern innerhalb von 25 Jahren? Daß diese Fragestellung bislang ausgeblendet geblieben ist, hat seine Gründe: die fehlende zeitliche Distanz zu den Vorgängen, aber auch die schlechte Quellenlage, die dazu nötigt, überall verstreute Zeugnisse zusammenzusuchen und mosaikartig zu einem Gesamteindruck zu verarbeiten. Dieser Beitrag, er sich mehr auf die veröffentlichte als auf die öffentliche Meinung stützt, versucht, anhand gedruckter Materialien den Wahrnehmungs- und Einstellungswandel ein Vierteljahrhundert nach dem Bau der Mauer zu analysieren. Ausgewertet werden vor allem Berichte von Zeitungskorrespondenten, die als Augenzeugen ihre Erlebnisse und Eindrücke schildern.
II. Der Mauerbau als Schock
1. Schrecken, Angst und Erregung schlagen in Empörung und Wut um
Wegen des militärischen Aufmarsches schreckten die Ost-Berliner bereits in den frühen Sonntagsstunden aus dem Schlaf hoch, zumal schwere Panzer durch die Straßen rollten (u. a. T-34). Frühaufsteher unter den West-Berlinern hörten erstmals aus den Morgennachrichten von den Absperrmaßnahmen. Wie ein Lauffeuer sprach es sich in der Millionenstadt herum, dass Volkspolizisten und Volksarmisten an der Sektorengrenze aufmarschiert seien und sie abriegelten. Gerüchte und Spekulationen steigerten noch die Verwirrung.
Die ersten Reaktionen der Berliner bestanden aus einem Gemisch von Neugier, Schrecken, Angst und Erregung; sie motivierten viele von ihnen an jenem arbeitsfreien Tag zur Sektorengrenze zu eilen und sich selbst davon zu überzeugen, was vor sich ging. Da die Berlin-Krise fast drei Jahre lang ununterbrochen schwelte und Chruschtschows Drohung, die „anormale Lage" in Berlin zu beseitigen, wie ein Damoklesschwert über der Stadt schwebte, lag die Befürchtung nahe, daß ein militärischer Gewaltakt geplant sei. Nicht umsonst sprach man. von der „Frontstadt" und einem „Nervenkrieg", der um sie geführt werde; die Schlußfolgerung lag nahe, daß dieser nun in seine heiße Phase eintrete. Denn seit Chruschtschows Ultimatum vom 27. November 1958 lebten die meisten Berliner in ständiger Angst: Es lag - wie sie sagten - etwas in der „Berliner Luft", nur wußte niemand, was und wann etwas geschehen würde. Offensichtlich hatten sich die meisten von ihnen trotz Chruschtschows und Ulbrichts Drohungen in Sicherheit gefühlt, weil zuvor die drei westlichen Alliierten wiederholt die Freiheit West-Berlins verbürgten. US-Präsident Kennedy hatte noch am 25. Juli 1961 in einer Rundfunk- und Fernsehansprache seine Entschlossenheit versichert, West-Berlin zu verteidigen, notfalls sogar atomar
6.
Tausende von Berlinern säumten bald die Sektorengrenze, wo sie zunächst stumm den Abriegelungsmaßnahmen zusahen - als könnten sie nicht fassen, was geschehe. Tatenlos, aber voll innerer Erregung sahen sie zu, wie ihre Stadt hermetisch in zwei Teile geteilt wurde - sozusagen über Nacht . [...]
Angst und Erregung schlugen in Empörung und Wut um, als die Berliner sich vergegenwärtigten, was Stacheldraht, Preßlufthämmer und Barrikaden bedeuteten: „Aus dem Gefängnis Sowjetzone ist das große Konzentrationslager geworden. Wir stehen erschüttert vor einer zur. Staatsgrenze deklarierten Sektorengrenze, erschüttert vor einer Grenze, die nun für 17 Millionen zur Klagemauer werden wird." Sprechchöre forderten am Brandenburger Tor: „Nieder mit Ulbricht!", „Hängt den Spitzbart auf - Waffen weg!" Die erregte Menge konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, zur Sektorengrenze vorzustürmen. Die West-Berliner Polizei versuchte mit Lautsprechern mäßigend zu wirken und so die explosive Stimmung zu mindern. Wo es dennoch zu Übergriffen kam und Steine flogen, marschierten Volkspolizisten mit Karabinern und aufgepflanzten Bajonetten auf, sie wurden mit Schreien, Pfiffen und Pfui-Rufen empfangen.
Auch Ost-Berliner nahmen zunächst kein Blatt vor den Mund: Sie schrien SED-Agitatoren, die die Abriegelungsmaßnahmen rechtfertigen wollten, nieder oder beschimpften sie, vielfach quittierten sie die Propagandaparole, die DDR müsse sich vor „Kriegshetzern", „Menschenhändlern" und „Spekulanten" schützen, mit Hohngelächter und Rufen wie „Blödsinn", „glaubt Ihr doch selber nicht". Oft gelang es nur mit Drohung von Gewalt, Demonstrantengruppen zu zerstreuen. „Meine Geduld ist zu Ende, machen Sie Platz oder es passiert was", tobte ein NVA-Offizier, der ankündigte, er werde Schießbefehl erteilen. Nur mit Maschinenpistolen im Anschlag gelang es schließlich, empörte Menschenmengen aufzulösen .
2. Wo bleiben die Amerikaner?
Die Berliner stimmten darin überein, daß die westlichen Alliierten die Verletzung des Vier-Mächte-Status nicht dulden dürften. „Was geschieht jetzt?", „Was machen die Amerikaner?", „Wo bleiben sie?" - solche Fragen kursierten in der erregten Menge, die stündlich hoffte, Truppen der Besatzungsmächte würden vorfahren und dem Spuk an der Sektorengrenze ein Ende bereiten. Viele kochten innerlich vor Wut darüber, daß der Westen sich wieder in die Defensive hatte drängen lassen, statt von selbst initiativ zu werden. Trotz aller Empörung herrschte aber auch die Überzeugung vor, daß es gelte, die Nerven zu be wahren und unbedachte Handlungen zu vermeiden. Ein Journalist gab die Stimmung wie folgt wieder: „Die Westmächte werden in diesen Tagen geprüft, wie weit sie über Nacht geschaffene Tatsachen hinnehmen; und es dürfte wohl klar auf der Hand liegen, daß papierene Proteste bei der Sowjetregierung allein nicht ausreichen ... Es ist ein simples Gesetz, daß Druck Gegendruck erzeugt-. bleibt aber der Gegendruck aus, erhöht sich der Druck automatisch. Die Westmächte müssen daher handeln - in welcher Form dies geschehen kann, darf nicht vorher durch lautes Denken zerredet werden."
In den Nachmittags- und vor allem Abendstunden des 13. August 1961 spitzte sich die Lage am Brandenburger Tor explosiv zu, da sich eine riesige Menschenmenge versammelt hatte, um gegen die Abriegelungsmaßnahmen zu protestieren und zu demonstrieren. Sprechchöre forderten: „Öffnet das Tor" und „Wir fordern freie Wahlen". Einzelne Gruppen entzündeten Fackeln und sangen das Deutschlandlied. Als Panzerspähwagen und Wasserwerfer heranrollten, drängte die West-Berliner Polizei die erregte Masse hinter eine Seilabsperrung zurück, um Gewalttätigkeiten vorzubeugen. Die Wut von West-Berlinern richtete sich daraufhin auch gegen die eigene Polizei, der sie vorwarfen, „Ulbrichts KZ" zu schützen. Am Nachmittag des 14. August 1961 wurde der Platz vor dem Brandenburger Tor geräumt, da Volkspolizisten Tränengas-Bomben geworfen und Demonstranten diesen Angriff mit einem Steinhagel erwidert hatten . Zutritt zum geschlossenen Brandenburger Tor erhielten nur noch Vertreter der internationalen Presse.
Das abwartende Verhalten der westlichen Alliierten und der Bonner Regierung löste bei den West-Berlinern Befremden und Unbehagen aus, bei der DDR-Bevölkerung dagegen Bitterkeit, Verzweiflung und Resignation. Adenauer hatte zwar am 13. August 1961 öffentlich erklärt: „Im Verein mit unseren Alliierten werden die erforderlichen Gegenmaßnahmen getroffen. Die Bundesregierung bittet alle Deutschen, auf diese Maßnahmen zu vertrauen und nichts zu unternehmen, was die Lage nur erschweren, aber nicht verbessern" könnte . Aber die „deutschen Brüder und Schwestern" konnten nicht verstehen, weshalb sie Adenauer mit schönen Reden vertröstete, statt sofort nach Berlin zu kommen und ihnen nahe zu sein. Jetzt fühlten sie sich „abgeschrieben" und fürchteten, die vielen Worte von Wiedervereinigung seien nur „leeres Gerede" gewesen . Auch die überwältigende Mehrheit der West-Berliner war davon überzeugt, der Westen könne nicht länger abwarten, ohne weitere Gewaltakte herauszufordern. „Das Maß der Brüskierung der Westmächte, der Vertragsbrüche, des Unrechts und der Unterdrückung, begangen durch das Ulbricht-Regime mit Unterstützung des gesamten Ostblocks, ist seit dem gestrigen Tage zum überlaufen voll. Die Westmächte sind jetzt zum Handeln herausgefordert worden. Es geht nicht nur um die Wahrnehmung ihrer Rechte in Berlin, um ihre Verantwortung aufgrund des Vier-Mächte-Status für ganz Berlin, sondern weit darüber hinaus um ihre eigene Sicherheit." Manche befürchteten sogar einen Aufstand in Ost-Berlin und in der „Zone", falls die Bevölkerung nur mit lahmen Protesten der Westmächte abgespeist werde .
3. Willy Brandt ab Repräsentant der West-Berliner
Was der Regierende Bürgermeister Willy Brandt(SPD) empfand, darf als typisch für die meisten West-Berliner gelten. Wie sie, so traf auch ihn die Nachricht von den Abriegelungsmaßnahmen völlig unerwartet - sie überraschte ihn auf einer Wahlkampfreise im Schlafwagen. Als er mit der ersten Morgenmaschine aus Hannover in Berlin eintraf und den Potsdamer Platz, dann das Brandenburger Tor besichtigte, fühlte er, eigenen Worten zufolge, wie die Menschenmenge: „Es wurde mir schwer, ruhig und beherrscht zu bleiben. Einen kühlen Kopf hatten wir in mancher Berliner Krise behalten und beweisen müssen. Dies war, seit der Blockade von 1948, die ernsteste Herausforderung - keine kriegerische und unmittelbare Bedrohung, denn nicht wir wurden von der Außenwelt mit Gewalt abgeschlossen wie damals, ein Regime schloß vielmehr sich und seine Bürger gegen uns ab. Dennoch, die fieberhaft betriebene Arbeit der Abriegelung, die waffenstarrenden Wachkommandos an den Grenzen - das war ein Bild der Drohung. Das Militär der DDR hatte, nach unserer Interpretation des Vier-Mächte-Status der Stadt, auf dem Territorium Ost-Berlins nichts zu suchen. Mußte man den brutalen Akt der Verletzung des über und für Deutschland geltenden Rechts hinnehmen? Mußte man dulden, was unseren Landsleuten, was den Bürgern Ost-Berlins und der ‚Zone’ angetan wurde? Würden die Alliierten die Hände in den Schoß legen und geschehen lassen, was hier begonnen wurde? Sollten wir - wie es mehr als einer an diesem Sonntagvormittag ausdrückte - wieder nur mit lahmen Protesten abgespeist werden?"
Nach einer kurzen Krisensitzung des Senats suchte Brandt sofort Kontakt mit den Repräsentanten der westlichen Alliierten in Berlin, die ihn jedoch mit Konsultationen zwischen Washington, London und Paris vertrösteten. Er drängte, sie sollten doch wenigstens in Moskau und in den anderen Hauptstädten der Warschauer Pakt-Staaten protestieren, auch sofort PatrouilIen an die Sektorengrenze schicken. Die Enttäuschung schwingt noch nach, wenn Brandt in seinen Memoiren feststellt: „Zwanzig Stunden vergingen, bis die erbetenen Militärstreifen an der innerstädtischen Grenze erschienen. Vierzig Stunden verstrichen, bis eine Rechtsverwahrung beim sowjetischen Kommandanten auf den Weg gebracht worden war. Zweiundsiebzig Stunden dauerte es, bis - in Wendungen, die kaum über die Routine hinausreichten - in Moskau protestiert wurde." Trotz der ohnmächtigen Wut, die, eigenen Aussagen zufolge, in ihm aufstieg, sah er sich als Regierender Bürgermeister verpflichtet, zur Besonnenheit zu mahnen und dadurch risikoreichen Kurzschlußreaktionen vorzubeugen.
Nachdem die Westmächte die Abriegelungsmaßnahmen drei Tage lang mehr oder weniger tatenlos hingenommen hatten, artikulierte die „Bild-Zeitung" die Verbitterung der Bevölkerung: „Wir sind enttäuscht" hieß es, denn der Westen tue nichts: US-Präsident Kennedy schweige, der britische Premierminister gehe auf die Jagd und Adenauer treibe Wahlkampf . Um die Vertrauenskrise zu bannen, aber auch, um Gewalttätigkeiten an der Sektorengrenze vorzubeugen, rief Brandt am Nachmittag des 16. August 1961 zu einer Protestkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus auf. Er versuchte, den dichtgedrängten Massen neuen Mut einzuflößen, indem er versicherte, daß die Stadt, die den Frieden wünsche, nicht kapitulieren werde. Brandt teilte mit, daß er an US-Präsident Kennedy geschrieben habe, damit leitete er eine neue Phase der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem inzwischen begonnenen Bau der ersten Mauer ein .[...]
III. Die Mauer muß weg
1. Neue Zuversicht: Johnsons und Clays Mission
Nach Brandts Appell ließ es Präsident Kennedy nicht an guten Worten und Taten fehlen: Er kündigte an, er werde die amerikanische Garnison verstärken und Vizepräsident Lyndon B. Johnson nach Berlin entsenden. Dieser wurde dort am 19. August 1961 zusammen mit dem sehr beliebten Stadtkommandanten während der 1948er Blockade, General Lucius D. Clay, stürmisch begrüßt. Als sie tags darauf im offenen Wagen durch die Stadt rollten, kannte der Jubel keine Grenzen. Auch die symbolische Kampfgruppe von 1500 Mann empfingen die Berliner emphatisch. Zeitgenössische Kommentatoren diagnostizierten einen Gesinnungsumschwung: Zwar habe sich nach der „Katastrophe" des 13. August ein „Gefühl der Enttäuschung über die westliche Untätigkeit und angebliche Gleichgültigkeit" ausgebreitet, doch sei es Präsident Kennedy überraschend gelungen, die Niedergeschlagenheit zu bannen und die Zweifel zu zerstreuen; die West-Berliner seien von einer „Welle der Begeisterung und der neu gestärkten Zuversicht" getragen . Die Parole hieß: „Die Mauer muß weg!"
Damals konnte die Öffentlichkeit nicht ahnen, was sich hinter den Kulissen abspielte. Johnson verbürgte zwar „Leben", „Gut" und „heilige Ehre" der USA für die Freiheit West-Berlins und den freien Zugang nach Berlin, doch hatte seine Mission, wie wir heute wissen, vornehmlich demonstrativen Charakter. Sie hatte eine Doppelaufgabe zu erfüllen: Sie sollte das gestörte Vertrauen zu den Amerikanern wiederherstellen und Brandt zur politischen Mäßigung mahnen. Gegenmaßnahmen irgendwelcher Art gegen die Mauer lehnte Johnson ab, auch warnte er vor einer Kündigung des Interzonen-Handelsabkommens, weil sie eine neue Berlin-Krise heraufbeschwören könnte. Nicht ohne Ironie schildert Brandt in seinen Erinnerungen, was Johnson an „Taten" erwartete. So wollte er abends, nach Geschäftsschluß, Schuhe kaufen, die ihm gut gefielen, sonntags wünschte er sich eine Kollektion von elektrischen Rasierapparaten und Porzellan, die er als Reisepräsente auswählen wollte . Den äußeren Schein vermochten damals nur wenige zu durchdringen. Ein Kommentar wie der folgende zählte zu den Ausnahmen: „Der geradezu triumphale Besuch des US-Vizepräsidenten Johnson und die Truppenparade der 1500 kamen gerade noch zur rechten Zeit. Sie waren und bleiben von unsagbar großem psychologischem Wert. An der effektiven Lage indessen hat sich kaum etwas geändert. Was seit dem 13. August 1961 anders geworden ist, kann nicht mehr zurückentwickelt werden. Der Tag bedeutet einen Bruch, eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Und deshalb können wir auch nicht so tun, als wäre ab heute oder morgen wieder alles wie vorher."
Verbittert waren viele Berliner über Bundeskanzler Adenauer, der Berlin erst am 22. August 1961, also sehr spät, besuchte. Er kam mit trostreiche. Worten, aber leeren Händen. Die Bevölkerung nahm diese „Pflichtübungen" mit gemischten Gefühlen auf: Adenauer erntete nicht nur gefälligen Beifall, sondern auch wütende Pfiffe.
Die Sympathien der West-Berliner galten General Clay, den Präsident Kennedy am 30. August 1961 zu seinem persönlichen Vertreter ernannt hatte. Der „Held der Blockade" schien einen harten Kurs zu verbürgen, zumal er es an markigen Worten nicht hatte fehlen lassen. Um Entschlossenheit zu demonstrieren, ließ Clay Ende Oktober 1961 Panzer am Ausländerübergang Checkpoint Charlie auffahren. Darüber hinaus aber konnte er sich mit seinen Vorstellungen bei seinen eigenen Landsleuten nicht durchsetzen, so daß es bald zu einer Einstellung der amerikanischen „Kraftdemonstrationen" kam . Im Mai 1962 resignierte Clay, indem er seine Sondermission aufgab. Er ging nach eigenen Worten mit dem Gefühl, daß Kennedy ihm einen – „Fußtritt gegeben" habe.
2. Die „Schandmauer" als Provokation
Ende August 1961 begann sich das Leben in Berlin allmählich zu konsolidieren. Die Atmosphäre blieb aber weiter explosiv, denn spektakuläre Zwischenfälle an der Mauer putschten die Leidenschaften in der Stadt immer wieder auf. Am 24. August 1961 war der erste Flüchtling erschossen worden. Danach rissen Meldungen von mißglückten Fluchtversuchen nicht mehr ab. Die West-Berliner „Mordkommission" fahndete mit riesigen Steckbriefen - die hohe Belohnung versprachen - nach den Todesschützen. Zu erregten Szenen kam es, als die SED ihre Schmutzkampagnen gegen westdeutsche Politiker mit weit schallenden Lautsprecherwagen an die Sektorengrenze verlagerte: „Wirtinnen-Verse" über „Willy-Wein-Brandt", den „Giftzwerg" und „Kapaun von Schöneberg", gehörten ebenso dazu wie Schlagerparodien über Adenauer, den „alten Häuptling der Indianer", sowie die Persiflage der Inschrift der Freiheitsglocke durch den „Sender Freies Baldrian": „Ich glaube an die Unanfaßbarkeit des Stacheldrahtes und an die Hürden jedes einzelnen Grenzübergangs." Erschütternde Szenen spielten sich während der Zwangsräumung ganzer Wohnblocks entlang der Bernauer Straße in Wedding ab. Es verging kein Tag, an dem es nicht zu Steinwürfen und Warnschüssen an der Sektorengrenze kam, zum Einsatz von Wasserwerfern und Tränengasbomben.
Die Zwischenfälle nahmen in dem Maße ab, wie die SED die „Grenzsicherungsanlagen" zu einem Festungsgürtel ausbaute, vor allem durch eine zusätzliche zweite Mauer. Dies verminderte die direkte Konfrontation von Mensch zu Mensch, die sich anfangs nur wenige Schritte voneinander entfernt haßerfüllt gegenübergestanden hatten - die West-Berliner auf der einen Seite, die „Grenzwachen" auf der anderen. Auch das Bonner Regierungs-Bulletin vom 8. September 1961 kam daher zu dem Schluß: „An der Berliner Sektorengrenze aus Beton und Stacheldraht hat sich in den letzten Tagen der Zustand ‚normalisiert’, d. h. aber nicht, daß diese Schandmauer als eine unabänderliche Tatsache hingenommen wird. Täglich finden sich auf beiden Seiten die Menschen an dieser Absperrung ein. Aber sie provozieren nicht und sie lassen sich nicht provozieren. Gelegentliche Aktionen der östlichen Wasserwerfer und der prompten Antwort durch Rauchbomben von westlicher Seite sind eher darauf zurückzuführen, daß die Grenzlinie nicht unbedingt mit der Schandmauer zusammenfällt." Ausländischen Korrespondentenberichten zufolge stellten viele Bürger schon die bange Frage, „ob die jahrelang liebevoll gepflegte Vorstellung, daß die Wiedervereinigung unter annehmbaren Bedingungen zu erreichen wäre, nicht eine große Illusion gewesen sei....". Auch in Ost-Berlin gab es Anzeichen dafür, daß man begann, die „Hoffnungen zu Grabe" zu tragen .
Spektakuläre Todesfälle an der Mauer machten den Berlinern bewußt, was die Stunde geschlagen hatte: Am 9. Dezember 1961 wurde der 20jährige Student Dieter Wohlfahrt bei einem Fluchthilfeversuch an der Mauer angeschossen und verblutete zwei Stunden lang - die West-Berliner Polizei und die britische Militärpolizei halfen dem tödlich Verletzten nicht. Für Sebastian Haffner signalisierte dieser Mord an der Mauer- eine wachsende Entfremdung: „Die Berliner hüben und drüben sind nicht gewillt, die Ungeheuerlichkeit der -Mauer hinzunehmen, weder de jure noch de facto. Die Alliierten dagegen und unter ihrem Druck die West-Berliner Behörden benehmen sich in der Praxis mehr und mehr, als sei die Mauer bereits de facto und de jure anerkannt." Haffner konstatierte einen erschreckenden Erosionsprozeß: „Wo sind die Zeiten hin, da man das Foto eines Kampfgruppen-Scharfschützen, der einen Flüchtling im Teltowkanal totgeschossen hatte, in ganz Berlin plakatierte und 10.000 Mark Belohnung für seine Ermittlung aussetzte. Heute fischt die Zonenpolizei alle paar Tage die Leiche eines ihrer Opfer aus dem eiskalten Dezemberwasser, und niemand nimmt mehr Notiz davon."
Noch deprimierender war der „Mordfall" Peter Fechter knapp ein Jahr nach dem Mauerbau: Der 18jährige Bauarbeiter wollte am 17. August 1962 flüchten, wurde an der Mauer angeschossen und verblutete - fast eine Stunde lang hatte er um Hilfe gerufen, bis er verstummte. US-Soldaten sahen tatenlos zu. „It's not our problem", erklärten sie, als West-Berliner sie erregt aufforderten, unverzüglich einzuschreiten. Nochmals drohte sich die ohnmächtige Wut in Gewalt- und Zerstörungsakten gegen die Mauer zu entladen, und nur mühsam ließen sich entfesselte Leidenschaften in Massenkundgebungen abreagieren. Zum letzten Male bäumten sich die West-Berliner massiv gegen eine Realität auf, die sie nicht wahrhaben wollten. Aber die „Reaktionen der Großmächte beim Sterben Peter Fechters hatten es bewiesen: Ein Jahr nach ihrer Errichtung war die Berliner Mauer Teil des Status quo in Europa geworden - vom Osten gebaut, vom Westen akzeptiert."
Wenig später beendete die Kuba-Krise die immer noch schwelende „heimliche" Berlin-Krise, als nämlich Chruschtschow in Kuba Raketen stationieren wollte und die USA im Oktober 1962 vor der eigenen Haustüre Härte demonstrierten. Während Kennedy in Berlin die westliche Einfluß- und Machtsphäre ungefährdet sah, reagierte er hart, entschlossen und kompromißlos, als die westliche Hemisphäre unmittelbar von der Sowjetunion bedroht schien. Seitdem gab es keinen Zweifel mehr: Keine Weltmacht könne der anderen den Willen aufzwingen und die weltpolitische Lage zu ihren Gunsten verändern. Mit dem Gleichgewicht des Schreckens wuchs zugleich die Bereitschaft, an die Stelle der Konfrontation die Entspannung zu setzen. Das galt auch für Berlin.
IV. Mit der Mauer leben
1. An der Mauer kehrt der Alltag ein
Als die Einsicht sich durchsetzte, daß die Mauer sich nicht beseitigen lasse, schlugen Empörung und Wut in Ohnmacht, oft in Resignation um. Die Berliner sahen sich genötigt, mit dem „Schandmal" leben zu müssen, obgleich sie es nach wie vor hassten. Je lückenloser die Mauer wurde, um so mehr gewann sie nicht nur an Perfektion, sondern auch an normativer Kraft des Faktischen - sozusagen einen Anschein von Berechtigung. Wut und Empörung flammten schließlich nur noch zeitweilig auf, immer dann, wenn ein „Mordfall" an der Mauer die Leidenschaften neu aufputschte.
So begannen die Berliner, sich an die „Provokation" der „Schandmauer" zu gewöhnen. Daß dort allmählich der Alltag einkehrte, läßt sich mit Beispielen belegen. In Kreuzberg entstand an der Mauer ein Kneipengarten - offenbar störte es die Besucher wenig oder nicht mehr, in unmittelbarer Nähe einer steingewordenen Unmenschlichkeit ihr Bier und ihren Klaren zu trinken! Kinder erfanden besondere „Mauerspiele": Polizisten oder Soldaten ziehen Stacheldraht, bauen Barrikaden, sperren Flüchtlinge ein, verfolgen oder erschießen sie gar. In ihrer Unbefangenheit sahen Kinder offensichtlich als erste in der Mauer eine Attraktion, sofern sie dort auf westlicher Seite inmitten einer Großstadt ungestört buddeln, spielen und herumtollen konnten.
Der wachsende Fremdenverkehr, um den Berlin seit m 13. August 1961 verstärkt geworben hatte, plante die Mauer fest in das Besichtigungsprogramm ein. Die meist subventionierten Berlinreisen sollten ursprünglich Anteilnahme am Schicksal der geteilten Nation wecken; viele dürften sie jedoch als preiswerte Vergnügungsfahrt „mitgenommen" haben, die mehr dem Tourismus als deutscher Selbstbesinnung diente. Für die meist vom Senat eingeladenen ausländischen Gäste gehörte der Besuch an der Mauer zu einer Pflichtübung, und da sie wußten, was sich gehörte, versäumten sie es nicht, dem Gastgeber ihre Abscheu über das „Schandmal" zu versichern. Viele dieser Urteile, oft spontan angesichts der Mauer gefällt, waren sicher ernst und echt gemeint , doch wirkten sie auf die Dauer abgedroschen und klischeehaft.
Amerikanische Reisegesellschaften entdeckten die Mauer erstmals als touristische Attraktion, mit der sie in Prospekten für Berlinbesuche warben: Warum in den Fernen Osten fahren, um die „Chinesische Mauer" zu besichtigen, wenn Deutschland nicht nur mittelalterliche Städte und Mauern (z. B. in Rothenburg) biete, sondern sogar eine „kommunistische Mauer" inmitten einer Millionenstadt . Berlin war für Amerikaner sozusagen jetzt eine Reise wert geworden - wegen seiner Mauer, mit der sonst keine andere Stadt der Welt konkurrieren konnte.
2. Die Berliner Mauer-Krankheit
Prominente Politiker beteuerten wiederholt, daß die Berliner sich an die Mauer nicht gewöhnen würden, sie hätten sich allenfalls mit ihr „eingerichtet." „Natürlich haben wir uns irgendwie an sie gewöhnt", meinte dagegen Werner Steltzer, der das „Informations-Zentrum Berlin" leitete, jene Stelle, die im Auftrage des Senats Besucher betreute . Zwar beeindruckten die Zahlen der eingeladenen Ausländer und Journalisten, doch entsprachen die Reaktionen dieser „Prominenten" nicht immer den Erwartungen: Nachdem sie von den Podesten einen Blick über die Mauer geworfen und sich abfällig über sie geäußert hatten, interessierten sie sich oft mehr für das Berliner Nachtleben als für das Schicksal der geteilten deutschen Nation.
Als Berliner Bürgermeister äußerte Heinrich Albertz (SPD) fünf Jahre nach dem Mauerbau: „Ich glaube, daß es noch nicht überall erkannt worden ist, daß, je länger die Mauer steht, die Zeit gegen uns arbeitet und daß die wichtigste Aufgabe für uns Deutsche die ist, die Substanz der Nation zu retten, weil es in wenigen Jahren niemand mehr geben wird, der die Wiedervereinigung wünscht" Als Nachfolger Brandts äußerte sich Albertz ein Jahr später vorsichtiger. Er hoffte, daß sich noch „niemand" an die Mauer, die ein Schock und eine schwere Enttäuschung gewesen sei, gewöhnt habe. Hoffentlich wisse jeder, daß in West-Berlin die Menschen in einer Art Gefängnis lebten, und daß der Auftrag, die Mauer zu überwinden, bestehen bleibe. Wie jedoch Meinungsumfragen dokumentierten, nahm das Wissen über die und das Interesse an der Mauer rapide ab. 1967 wußten danach nur 30 % der Bundesbürger, in welchem Jahr die Mauer gebaut worden war, 21 % gaben zu, das Jahr nicht zu kennen, 22 % gingen davon aus, die Mauer sei zwischen 1953 und 1960 errichtet worden, 27 % nannten die Jahre 1962 bis 1965 . Die Deutschen hatten nicht nur begonnen, mit der Mauer zu leben, sondern sie auch zu ignorieren. Dazu trug wesentlich der wirtschaftliche Aufschwung West-Berlins bei, den die Bundesrepublik Deutschland verstärkt förderte.
Wenn sich auch allmählich die Erkenntnis durchsetzte, daß die Mauer ein Teil des Status quo geworden sei, so änderte dies doch nichts daran, daß sie ein Symbol der Unmenschlichkeit blieb, unter der viele Berliner bitter litten. Manche von ihnen hatten sich nur scheinbar an die Gegebenheiten angepasst, d. h., sie hatten den „Mauerschock" nicht verarbeitet oder verkraftet, sondern verdrängt. Ein Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, der lange Zeit in Ost-Berlin praktiziert hatte, stellte fest, daß in ganz Berlin die „Mauer-Krankheit" grassiere, die er in einem medizinischen Fachbuch ausführlich beschrieb . Es handelte sich um ein Syndrom psychischer und psychosomatischer Störungen, die Müller-Hegemann damit erklärte, daß unerträglicher Druck und Streß auf Familien und Menschen lastete, sofern ihre zwischenmenschlichen Bindungen und Verbindungen durch den Mauerbau zerstört worden waren. Sie äußerten sich häufig in Klaustrophobien, d. h. Ängsten von Berlinern, sie seien „eingesperrt" oder „eingemauert", so daß sie es in ihren eigenen vier Wänden nicht aushalten konnten. Hinzu kamen Depressionen, Verhaltensstörungen, Organbeschwerden und sogar Psychosen. Sie stellten häufig psychische und somatische Spätfolgen des „Mauerschocks bzw. -traumas" dar, das zwar äußerlich-bewußt bewältigt schien, jedoch innerlich-unbewußt langfristig verheerende Schäden anrichtete.
Es war auch kein Zufall, daß Berlin einen traurigen Rekord bei Selbstmorden und Selbstmordversuchen verzeichnete. West-Berlin galt nach dem Mauerbau als Stadt mit der höchsten Selbstmordquote in der Welt überhaupt. Für Ost-Berlin, wo Müller-Hegemann die „Mauer-Krankheit" diagnostiziert hatte, liegt keine offizielle Statistik vor, nach Schätzungen geflüchteter Ärzte muß man jedoch annehmen, daß die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche im Ostsektor noch höher lag als im Westsektor .
V. Die. Mauer durchlässig machen
1. In Anbetracht der Mauer: Deutschlandpolitische Initiativen der Berliner SPD unter Brandt/Bahr
Wenn es galt, mit der Mauer zu leben, so erforderte dies langfristig, ihre brutalen Folgen für die Menschen, die unter ihr litten, zu mildern. Das bedeutete: An die Stelle der Devise „Die Mauer muß weg", mußte immer mehr die Forderung treten, sie durchlässig zu machen. Die verantwortlichen Politiker waren gezwungen umzudenken und einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in die sich die Bonner Deutschlandpolitik hineinmanövriert hatte. Langfristig gesehen ließ sich nicht mehr leugnen, „wie sehr die Existenz und der Fortbestand der Mauer zur Grundtatsache der deutschen Politik geworden sind. Es gilt, sich immer wieder aufs neue bewußt zu werden, daß die am 13. August 1961 bewirkte Trennung der beiden Teile Deutschlands solcherart ist, daß hinfort keine deutsche Politik getrieben werden kann, die an der Mauer und am Stacheldraht auch nur für eine Stunde vorbeisieht" .
Willy Brandt sah im Mauerbau eine tiefe Zäsur, die Logik einer Entwicklung, „die sehr viel früher begonnen hatte: als Bestätigung einer Abgrenzung der Interessen, die die Siegermächte bei Kriegsende vorgenommen hatten". Er sprach davon, der Vorhang sei weggezogen worden, um „uns eine leere Bühne zu zeigen. Man kann es auch schroffer sagen: Uns sind Illusionen abhanden gekommen, die das Ende der hinter ihnen stehenden Hoffnungen überlebt hatten - Illusionen, die sich an etwas klammerten, das in Wahrheit nicht mehr existierte" . Die Realität der Mauer zwang Brandt und seine Berater zum Nachdenken darüber, ob die traditionellen Zielsetzungen und Formen westdeutscher Wiedervereinigungspolitik noch brauchbar seien.
Aus diesem Lernprozeß zog Brandts damaliger Pressesprecher und engster Vertrauter Egon Bahr aufsehenerregende Schlußfolgerungen. Vor der Evangelischen Akademie Tutzing vertrat er am 15. Juli 1963 in einem „Diskussionsbeitrag" die Auffassung, daß die kommunistische Herrschaft in der „Zone" nicht beseitigt, aber verändert werden könne – so paradox dies klinge. Im Sinne der von Kennedy proklamierten „Strategie des Friedens" gehe es darum, den „Menschen" zu helfen, z. B. durch „technische Kontakte" mit dem „Zonenregime" die Mauer, die Bahr für ein Zeichen der Schwäche hielt, durchlässig zu machen: „Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung." Diese „Politik der kleinen Schritte" und der „menschlichen Erleichterungen" sollte, so Bahr, das Zwischenstadium bis zur Wiedervereinigung überbrücken.
Bahrs Thesen schockierten viele Zeitgenossen. Widerspruch meldete vor allem die CDU an, die „Aufweichungstendenzen" oder gar den „Ausverkauf deutscher Interessen" befürchtete. Aus wahltaktischen Gründen identifizierte sich auch die Berliner SPD nicht mit Bahr; sie ließ sogar öffentlich verkünden, er habe nur für sich selbst gesprochen. Unter dem Druck der CDU, insbesondere ihres Bürgermeisters Franz Amrehn, hatte Brandt bereits im Januar 1963 sein geplantes Treffen mit Chruschtschow in letzter Minute abgesagt.
Trotz aller Kritik an Bahr praktizierte der West-Berliner Senat jene Politik der „kleinen Schritte" und „menschlichen Erleichterungen". Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten der West-Berliner Senatsrat Horst Korber und DDR-Staatssekretär Erich Wendt das erste Passierscheinabkommen am 17. Dezember 1963, das West-Berlinern zum ersten Male seit dem Mauerbau ermöglichte, über Weihnachten/Neujahr 1963/64 Verwandte in Ost-Berlin zu besuchen. Die Bundesregierung meldete rechtliche Bedenken gegen die Aufwertung des „Zonenregimes" an, wollte jedoch den Konflikt mit ihm nicht auf dem Rücken der Berliner austragen. Unbeschadet aller politischen und juristischen Meinungsunterschiede kam es daher zu weiteren Passierscheinabkommen; sie gingen von der Existenz der Mauer aus, erstrebten aber, ihre Unmenschlichkeit zu mildern. Nach dem 4. und letzten Passierscheinabkommen vom 7. März 1966 blieb die Passierscheinstelle für dringende Familienangelegenheiten, also Härtefälle, erhalten .
2. Kontinuität und Wandel: Deutschlandpolitik im Übergang zwischen Adenauer- und sozialliberaler Ära
Auch in den Bonner Regierungsparteien gab es Vertreter, die mit dem Kurs der Berliner SPD sympathisierten, wenngleich unter Vorbehalten. Wie sich traditionelle Auffassungen gewandelt hatten, läßt sich anhand der Kommentare analysieren, die politische Entscheidungsträger der Bundesrepublik Deutschland zum fünften Jahrestag des Mauerbaus („Ein Mahnmal der Schande") öffentlich abgaben.
Den Denkkategorien des Kalten Krieges am stärksten verpflichtet blieb Bundeskanzler Erhard - auch in der Sprache. Er wollte nicht müde werden, für die Wiederherstellung der deutschen Einheit zu arbeiten: „Und niemand kann uns den Glauben und die Hoffnung rauben, daß trotz aller Widerwärtigkeiten des kommunistischen Regimes, trotz schreienden Unrechts und brutaler Gewalt dieses Ziel erreicht wird und an diesem Tage auch die Schandmauer quer durch Berlin in Trümmer fällt." Zurückhaltender äußerte sich der Berlin-Beauftragte Ernst Lemmer (CDU). Er zeigte sogar Verständnis dafür, „daß das kommunistische Regime durch die anhaltende Massenflucht in einen gesellschaftlichen und politischen Notstand geraten war". Er wollte auch nicht voraussagen, wie lange die Mauer fortbestehen werde: „Aber sicher ist, daß diese schreckliche Mauer, die uns so gewaltsam voneinander trennt, nicht überwunden werden kann durch Deklamationen, schöne Worte, oder gar durch Gewalt. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat für unser Land schwerwiegende Folgen hinterlassen. Dieser Einsicht wollen wir uns gemeinsam nicht entziehen." Noch weiter ging der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende (FDP). Man habe, so meinte er, in der ersten Zeit Hoffnungen gehegt, „die sich später als Illusionen herausstellten" - dazu habe auch die Devise „Die Mauer muß weg!" gehört. Er beklagte, daß die Mauer und die Teilung Deutschlands „uns nicht so bedrückt und quält, wie ich mir das wünschte" . Ähnlich äußerten sich Parteipolitiker, z. B. der Berliner FDP-Landesvorsitzende William Born und der spätere Minister für gesamtdeutsche Fragen Johann Baptist Gradl (CDU). Auch die Öffentlichkeit begann Abschied von gesamtdeutschen Illusionen zu nehmen, die bislang den Blick für Realitäten verstellt hatten. Zwar flammten bei Zwischenfällen an der Mauer Emotionen und Leidenschaften immer wieder neu auf, doch trat an die Stelle der moralischen Verurteilung des „Schandmals" immer mehr die nüchterne politische Betrachtungsweise. War bislang die Massenflucht von DDR-Bürgern mit Schadenfreude und gehässigen Kommentaren quittiert worden, so sah man jetzt auch die Ursachen: daß dieser Aderlaß die SED letztendlich dazu gezwungen hatte, dem „Bankrott" des Landes Einhalt zu gebieten. Und das hieß: Die DDR hatte das politisch-psychologische Debakel des Mauerbaus in Kauf genommen, um ihren wirtschaftlichen Kollaps an „perniziöser Anämie" zu verhindern. Die Zäsur des 13. August 1961 leitete dann auch eine politische und ökonomische Konsolidierung ein, ohne die die unbestreitbaren wirtschaftlichen Erfolge der DDR undenkbar sind. Die Mauer symbolisierte daher nicht nur die Teilung Deutschlands, sondern sie ermöglichte auch den Aufstieg der DDR in den Kreis der zehn leistungsstärksten Industriestaaten der Welt - mit einem Lebensstandard, den kein anderes Ostblockland aufweist.
Die DDR hatte sich allen Widerständen zum Trotz als zweiter deutscher Staat behauptet. Ihre innenpolitische und ökonomische Konsolidierung, die der Mauerbau eingeleitet hatte, führte langfristig auch zur internationalen Aufwertung des SED-Regimes, denn es konnte schließlich jene Fesseln abwerfen, die ihm die Hallstein-Doktrin auferlegt hatte. In der Bundesrepublik Deutschland setzte sich die schmerzliche Erkenntnis durch, daß am 13. August 1961 eine sichtbare Mauer an die Stelle der bisher unsichtbaren getreten war, und daß sich auf deutschem Boden zwei Staaten entwickelt hatten, deren Existenz sich nicht mehr leugnen ließ. Die DDR hatte ihren Anspruch, ein eigenständiger Staat zu sein, mit dem Mauerbau nicht nur dokumentiert, sondern - langfristig gesehen - auch erfolgreich durchgesetzt. Nun mußte mit Tabus gebrochen werden, die in der Ära Adenauer regierungsamtlich gepflegt worden waren. Ein britischer Journalist formulierte dies so: „Westdeutschland wird sich mit der Aussicht abfinden müssen, daß die häßliche Grenze bis auf weiteres bestehen bleibt, daß die DDR ein Faktum und die deutsche Wiedervereinigung so unerreichbar ist wie das Schlaraffenland."
3. Berlin geht zur Tagesordnung über
Was Willy Brandt in West-Berlin im kleinen begonnen hatte, setzte er in der sozialliberalen Koalition seit 1969 im großen fort. Als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland legten er und sein Außenminister Walter Scheel (FDP) den Grundstein für die Normalisierung und den Ausgleich mit osteuropäischen Staaten. Diese sozialliberale Ostpolitik beruhte auf der Prämisse, daß zwar die politischen, ideologischen und rechtlichen Meinungsverschiedenheiten fortbestünden und unüberbrückbar seien, aber durch einen Modus vivendi auf der Basis des Status quo reguliert werden könnten.
Brandt und Scheel machten die Ratifizierung der Ostverträge, d. h. des Moskauer Vertrags mit der Sowjetunion vom 12. August 1970 und des Warschauer Vertrags mit der Volksrepublik Polen vom 7.'Dezember 1970, davon abhängig, daß die Existenz und Freiheit West-Berlins völkerrechtlich abgesichert werde. Trotz unterschiedlicher Rechtspositionen kam am 3. September 1971 das Vier-Mächte-Berlin-Abkommen zustande, das auf der Grundlage eines Gewaltverzichts „praktische Verbesserungen der Lage" gewährleistete. Die Sowjetregierung garantierte darin erstmals den unbehinderten Zivilverkehr von und nach Berlin. Ergänzende innerdeutsche Vereinbarungen folgten: Das Transitabkommen zwischen beiden deutschen Staaten vom 17. Dezember 1971 regelte den zivilen Durchreiseverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, und nach einer Vereinbarung des West-Berliner Senats mit der DDR-Regierung vom 20. Dezember 1971 konnten die West-Berliner wieder generell trotz des Mauerbaus Ost-Berlin und die DDR besuchen. Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin trat zusammen mit den ergänzenden innerdeutschen Vereinbarungen sowie den Ostverträgen am 3. Juni 1972 völkerrechtlich in Kraft .
Auch nach dem Vier-Mächte-Abkommen bestand die Mauer fort: Sie war aber nicht nur durchlässig
gemacht worden, wie z. B. durch die Passierscheinabkommen, sondern auch politisch indirekt überwunden worden. West-Berlin konnte freier atmen und aufatmen. Nach einem von Rolf Heyen herausgegebenen Sammelband, der die neue Situation darstellt, bedeutete dies die Entkrampfung Berlins, das „zur Tagesordnung" überging . Die DDR-Führung mußte umdenken und sich widerstrebend mit der Existenz West-Berlins abfinden, und das hieß, mit dem Scheitern jener Konfrontationspolitik, die das Ziel verfolgt hatte, die westlichen Alliierten aus Berlin zu vertreiben. Schon Mitte der sechziger Jahre hatte die DDR begonnen, die ursprünglich nur provisorische Mauer durch „neue Generationen" von Mauern zu ersetzen und zur „modernen Grenze" auszubauen. Ulbricht, der sich gegen die Entspannungspolitik gesträubt hatte, mußte am 3. Mai 1971 als SED-Chef zurücktreten, und auf ihrem VI 11. Parteitag vom 15. - 19. Juni 1971 kündigte die Partei die bislang stets von ihr vertretene Einheit der deutschen Nation auf. Die Ära Honecker hatte begonnen und mit ihr auch ein neues Selbstverständnis der DDR .
Vl. „So schlimm ist sie gar nicht..."
1. Der Mauer den Rücken kehren
Nach dem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin blieb die Mauer das „Symbol der Teilung", an dem sich politische Auseinandersetzungen entzündeten. Für den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl war sie „zum Kennzeichen einer endlosen Kette von Gewaltanwendung und Menschenrechtsverletzungen geworden"; zwar habe die SPD Wandel durch Annäherung versprochen, „aber angenähert haben nur wir uns, und gewandelt hat sich drüben nichts". Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) bezweifelte, daß die Mauer noch zu seinen Lebzeiten fallen werde; daher hätten er und seine Amtsvorgänger versucht, „in die Mauer Türen einzusetzen, die nicht nur von der westlichen Seite, sondern auch von der östlichen Seite benutzt werden können".
Die meisten West-Berliner wandten sich in den siebziger Jahren mehr und mehr von der Mauer ab, sie kehrten ihr, wie der Schriftsteller Wolfgang Paul es formulierte, den Rücken zu. Seit 1973 erhielt die „Arbeitsgemeinschaft 13. August" durch eine „Entscheidung von grundsätzlicher Art" keine amtliche Förderung mehr; ihr bereits geschlossenes „Haus am Checkpoint Charlie" konnte nur mit Hilfe von Spenden wieder eröffnet werden . Nach Auffassung der „Financial Times" hatten sich die Berliner in knapp 16 Jahren so an die Mauer gewöhnt, "daß sie erst von auswärtigen Besuchern dazu angestoßen werden müssen, sich ihrer schlagenden Wirkung zu vergegenwärtigen". Das angesehene Wirtschaftsblatt führte Beispiele auf, wie häuslich sich West-Berliner direkt an der Mauer eingerichtet hatten - mit Gärten, Hundezwingern, Kaninchenställen und Geräteschuppen . In der Tat gab es viele West-Berliner, die das zum DDR-Territorium zählende Niemandsland vor der Mauer für ihre Privatzwecke nutzten: Sie richteten Schrebergärten ein. die sie wie ein kleines Paradies gestalteten, es entstanden Anlagen für Kleintierhaltung und zur Freizeitgestaltung, häufig Schuppen, Holzhäuser und in Einzelfällen sogar Schwimmbecken. Ost-Berliner Behörden protestierten wiederholt gegen die „provisorischen Gebäude im Vorfeld der Mauer" - aber niemand kümmerte sich um diese sogenannten „Kaninchenproteste".
Zwar kommt es gelegentlich auch noch in den achtziger Jahren zu Demonstrationen an und zu Aktionen gegen die Mauer, die in der DDR als „Grenzverletzungen" oder „Grenzprovokationen" bezeichnet und hart bestraft werden. Nicht immer handelt es sich um politische Manifestationen, denn viele Einzelgänger benutzen die Mauer, um ihre privaten Aggressionen abzureagieren. Wer heute noch Grenzschilder übermalt, Steine über die Mauer wirft oder Wachposten als „Mörder" beschimpft, legt damit nicht unbedingt ein politisches Bekenntnis ab.
2. Die Mauer als Attraktion
In den achtziger Jahren entdeckten West-Berliner an der Mauer Vorzüge und Reize, die aus der Sicht der Wochen nach dem 13. August 1961 grotesk erscheinen. So erklärte eine Familie in einem Dokumentarfilm, den das Gesamtdeutsche Institut verleiht: „Durch die Mauer gebe es Vorteile, da die Kinder wunderbar Tischtennis spielen könnten. Kein Nachbar könne einem mehr reingucken, man fühle sich geborgen wie im Atrium. Jedes Fest werde viel attraktiver, weil die Mauer da ist. Wenn Amerikaner zu Besuch kämen, pulten sie manchmal ein Steinchen als Souvenir heraus." Junge Berliner halten die Mauer oft schon für eine Selbstverständlichkeit, vor allem dann, wenn sie nach 1961 geboren sind, und machen sich über sie keine Gedanken mehr. Jogger bezeichnen sie sogar als „dufte", da sie ungestört vom Verkehr und in relativ guter Luft inmitten einer Großstadt laufen können. Wer Maueranwohner befragt, gerät ins Staunen. Mehrheitlich stört lediglich noch das gelegentliche Jaulen oder Bellen der Wachhunde, vor allem nachts, das als Beeinträchtigung der Nachtruhe angesehen wird.
Touristen hatten die Mauer als Attraktion entdeckt - und mit ihnen das Fremdenverkehrsgewerbe. Der alte Werbeslogan „Berlin ist eine Reise wert" schien im nachhinein auch auf die Mauer gemünzt zu sein, denn nirgendwo auf der ganzen Welt wird ähnliches geboten: das längste Bauwerk Europas, etwa 166 km lang, mit fast 300 Wachtürmen, etwa 140 Bunkern, dazu Kfz-Gräben, Kontroll- und Todesstreifen, Peitschenleuchten und Scheinwerferanlagen, Stolperdrähte, Stacheldraht, Spanische Reiter und Panzersperren, nicht zuletzt auch „Bluthunde" mit lebenden Wachposten in Uniform, Feldstecher und Bewaffnung. Wer nach Berlin kommt, muß deshalb die Mauer sehen. Bei den Stadtrundfahrten karren Busse in den späten Vormittagstunden Massen von Touristen an den Potsdamer Platz, wo sie vor den Aussichtsplattformen lange Schlangen bilden. Die Fremdenführer versäumen dabei nicht, auf einen grünen Hügel im Niemandsland hinzuweisen, wo der „Führerbunker" gestanden hatte.
Aber die Mauer bietet mehr als zeitgeschichtlichen Anschauungsunterricht und gruselige Reminiszenzen. Streckenweise präsentiert sie sich als Kunstwerk: bemalt mit Bildern, verziert mit Graffiti und vollgeschrieben mit Spruchweisheiten und Platitüden .Vor eindrucksvollen Objekten warten die Touristen geduldig, bis sie zu einem „Schnappschuß" kommen.
Wo sich Touristen drängeln, etablieren sich gewöhnlich auch Händler. Für sie ist die Mauer ein Geschäft, von ihrer Vermarktung können sie gut leben: An Ständen bieten sie Ansichtskarten und Souvenirs feil, z. B. Wimpel, Aschenbecher, Teller, „Freiheitsglöckchen", „Berliner Bären".
Der Journalist Helmut Kopetzky hat in einer Hörfunk-Reihe Besucher interviewt und ihre Eindrücke festgehalten: Ausländische Reisegruppen, die die Mauer zum erstenmal sehen, sind oft „sehr erschüttert" und haben „kein Verständnis" für den Rummel, deutsche Besucher hatten es sich „nicht vorgestellt", daß „hier noch Würstchenbuden stehen und solche Dinge... Es ist schon schlimm genug, daß die Mauer überhaupt da steht!" Was einige „beschämend", „schrecklich" oder „unmöglich" finden, sehen andere toleranter oder gar als „normal" an. Einen Berliner „bedrückt" doch ein „bisschen", daß Teddybären und Ansichtskarten verkauft werden. „Das ist wie'n Ausflug zu den Niagarafällen oder so..." Touristen begrüßen nicht nur, daß die Mauer bemalt worden ist, sondern schlagen sogar vor, sie auf westlicher Seite „freundlicher" zu gestatten, z. B. mit Anlagen. „So, daß es hier wenigstens, hier vorne, etwas hübscher aussieht! Das ist ja nun deprimierend genug, aber hier vorne, also ... daß es etwas freundlicher wird!" Kopetzky kommt zu dem Schluß, daß die Berliner Mauer nach 25 Jahren zur „Normalität des Anormalen" geworden sei.
VII. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis
1. Billy Wilders Mauerfilm „Eins - zwei - drei" (1961)
Der Filmsatiriker Billy Wilder, der seine Karriere in Berlin begonnen hatte, 1933 aber emigrieren mußte, brachte 1961 den Film „Eins – zwei – drei" (One - two - three) heraus - eine Art Mauer-Komödie mit galligem Humor. Wilder machte sich darin über jene Berliner lustig, die noch dem preußischen Untertanengeist huldigen; er zog den bornierten Antikommunismus ebenso durch den Kakao wie den Antikapitalismus, das dümmlich-arrogante Auftreten von Militärs, die Angst vor Spionen u. a. Mit anderen Worten: Wilder nahm alles aufs Korn, was die meisten Deutschen während der Berlin-Krise bitter ernst nahmen.
Als der Film 1961 nach dem Bau der „Schandmauer" anlief, verging den West-Berlinern buchstäblich das Lachen. Er galt als der „scheußlichste Film über diese Stadt". Eine Boulevardzeitung meinte: „Wem das Elend der geteilten Stadt so nah ist, der ist nicht geneigt, darüber Witze zu machen. Aber Billy Wilder findet komisch, was uns das Herz zerreißt...". Der Film verletzte die Gefühle, denn er nahm sie nicht ernst, sondern machte sich über sie lustig. Vor allem West-Berliner empfanden den Film als peinlich, zum Teil verließen sie verärgert das Kino. „Eins - zwei –drei" wurde kein Kassenschlager - anders als viele Produktionen Billy Wilders wie z. B. „Manche mögen's heiß" (1959) oder „Das Mädchen Irma la Douce" (1963). Ein Kinobesitzer, von Kopetzky befragt, meinte dazu: „Die Berliner waren so gedrückt, weil die Mauer gebaut worden ist. Das war ja ein Schlag damals, ein Keulenschlag für uns Berliner grade, daß die Mauer jetzt zu ist, daß keiner mehr rüberkam. Und da waren wir natürlich ablehnend für diesen Film, wir wollten sowas nicht haben.. ."
Daß sich die Einstellungen der West-Berliner zur Mauer von Grund auf geändert hatten, bewies die Aufnahme des Films Mitte der achtziger Jahre: Er lief wochenlang vor ausverkauften Filmtheatern. Aus der Distanz von über 20 Jahren konnten die West-Berliner über jene Mauersatire lachen, die sie früher angewidert hatte. Sie hatten sich zunächst mit der Zweiteilung ihrer Stadt nicht abfinden wollen, schließlich aber doch abfinden müssen und sich sogar in ihrer Lage zurechtgefunden. Nachdem sie vom Geist des Kalten Krieges Abstand gewonnen hatten und Berlin nicht mehr als „Frontstadt" betrachteten, zeigten sie sich fähig, Bespöttelung zu ertragen. Nicht der Film, sondern die Menschen und ihre Einstellungen zur Mauer hatten sich geändert. Eine Kinobesucherin umschrieb diesen Sachverhalt in einem Interview mit folgenden Worten: „Ich find einfach, daß man im Moment den richtigen Abstand hat zu der Situation.... diese totale Schwarzweißmalerei, in der man damals drin gesteckt hat, in der man gelebt hat ... die Amis waren die Guten und die Russen die Bösen ... Man ist irgendwo so weit davon entfernt, man sieht so viel ... mehr Grautöne..., daß man tatsächlich über sowas und über sich selber damals lachen kann..."
2. Einstellungswandel im Schulbereich und Geschichtsdenken
Das Schulbuch stellt das Medium dar, in dem der heranwachsenden Generation das herrschende Geschichtsbild vermittelt wird. Je näher zeitgeschichtliche Vorgänge an die Gegenwart heranrücken, um so mehr ist ihre Bewertung von parteipolitischen Einstellungen abhängig. Dies gilt durchgängig für die deutsche Frage und Berlin-Frage, die in zeitgeschichtlichen Schulbüchern und den Richtlinien der Bundesländer einen wichtigen Stellenwert einnehmen .
Nach der Analyse von Marienfeld und Overesch wird der Mauerbau wegen seiner herausragenden Bedeutung in allen zeithistorischen Schulbüchern seit 1962 behandelt. Kennzeichnend ist eine moralisierende Betrachtungsweise, die emotionale Betroffenheit weckt, aber sachliche Information vernachlässigt oder vermissen läßt. Im Vordergrund steht die moralische Entrüstung über die „Schandmauer" und Ulbrichts „KZ".
Diese Tendenz ist in Volksschulbüchern stärker ausgeprägt als in Büchern weiterführender Schulen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Ulbricht, der „während des Krieges Bürger der UdSSR geworden und mit der Roten Armee zurückgekommen war", habe am 13. August 1961 aller Welt sichtbar gemacht, daß „der Bauern- und Arbeiterstaat der Deutschen Demokratischen Republik" in Wirklichkeit ein „riesiges Gefängnis" sei. „Mauer und Stacheldraht sollen den Weg in die Freiheit versperren." Sie bedeuteten eine „unmenschliche Belastung", vor allem für Kinder, Familien und Pfarrgemeinden, aber auch eine „Verletzung der internationalen Verträge über Berlin". „Da aber die Sowjetunion die Kommunisten in der SBZ an der Macht halten will, können unsere westlichen Verbündeten wenig unternehmen. Trotz Mauer, Stacheldraht und Volkspolizei versuchen täglich Menschen aus dem ‚Paradies der Werktätigen’ zu fliehen. Immer wieder büßen Flüchtlinge ihren Willen zur Freiheit mit dem Leben. Die Volkspolizisten haben Befehl, auf jeden ,Republikflüchtigen’ zu schießen. Viele führen diesen Mordauftrag aus, manche schließen sich den Flüchtlingen an." Abschließend werden die Schüler ermahnt, die „SBZ" mit der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen: „Wir leben in Freiheit, wir können an jeden Ferienort fahren, der uns gefällt, wir können unseren Feierabend verbringen, wie wir ihn wünschen - kein Schulungskurs versucht, unsere politische Meinung zuzuschneiden; unsere Zeitungen bringen Berichte und Bilder aus aller Weit. Vielleicht sollten wir öfter darüber nachdenken, was es bedeutet, als freier Bürger zu leben." Abbildungen der „häßlichen Mauer" mit Stacheldraht und Betonpfählen veranschaulichen diese moralisierende Darstellung.
Zwar wird der Zusammenhang zwischen der „Abstimmung mit den Füßen" und dem Mauerbau gesehen, doch bleibt die Frage nach den Folgen der Massenflucht für die DDR-Wirtschaft im allgemeinen ausgeklammert. Es fehlen Hinweise, daß zwischen dem Mauerbau und der Neuorientierung der Deutschland- und Ostpolitik in der Bundesrepublik Deutschland Zusammenhänge bestehen. Auch verschließen sich die Schulbücher der Erkenntnis, daß die Mauer den Status quo gefestigt und damit zugleich die Teilung Deutschlands und Berlins fixiert habe.
Bei den Neuausgaben der Schulbücher in den siebziger Jahren haben sich die Akzente verschoben: An die Stelle moralischer Empörung tritt stärker die politische Betrachtungsweise. Die Texte sind gekürzt und nüchterner und beschränken sich häufig auf die Wiedergabe von Fakten. Polemik gegen die DDR tritt zurück.
Die Zäsur des Mauerbaus erscheint so in neuem Licht. Hatte die Massenflucht „qualifizierter Arbeitskräfte" bislang Anlaß geboten, gegen die „sogenannte DDR" zu polemisieren, so werden nun die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen vorgestellt: „Nach dem Bau der Sperrmauer in Berlin macht die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR bemerkenswerte Fortschritte. Die DDR gehört heute zu den zehn stärksten Industriestaaten der Welt und ist für Moskau der wichtigste Handelspartner. Sie hat auch den höchsten Lebensstandard im Ostblock." Diese Erfolge hätten zu „berechtigtem Stolz auf die eigene Leistung" geführt. „In der DDR hat sich weithin ein eigenes Staatsbewußtsein gebildet." Auch verschließen sich die Schulbücher nicht mehr Erkenntnissen, die in der Ära Adenauer tabu waren und ein neues Geschichtsdenken erforderten: .Nach dem Bau der Berliner Mauer setzte sich auch im Westen langsam die Auffassung durch, daß auf lange Sicht mit der Existenz zweier deutscher Staaten gerechnet werden müsse. Da eine Wiedervereinigung nach den Vorstellungen der fünfziger Jahre nicht möglich war, wurde eine Neubestimmung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zu ihren östlichen Nachbarn, einschließlich der DDR, notwendig. Vergleicht man diese Belege mit Textstellen aus den sechziger Jahren, so werden Einstellungsänderungen deutlich, die sich im Geschichtsdenken vollzogen haben.
3. Fazit
Billy Wilders Film „Eins - zwei - drei" (1961) und die heutigen Reaktionen darauf sowie Neuausgaben der Schulbücher dokumentieren einen Einstellungswandel zur Mauer von den sechziger zu den achtziger Jahren: von der „Schandmauer" bis zur Erkenntnis, daß sie eine Realität sei. Anfangs hatten die Abriegelungsmaßnahmen einen Schock ausgelöst: Schrecken, Angst, Verwirrung, vielfach Empörung. Sie schlugen um in Haß und Wut, denn die Mauer schien unerträglich zu sein: als inkarnierte Unmenschlichkeit, als provozierender Rechtsbruch, als nackter Gewaltakt des „KZ-Regimes" Ulbrichts. Daher durfte es keinen Kompromiß geben: „Die Mauer muß weg!"
Aber die politischen Leidenschaften der Deutschen, vor allem der Berliner, kühlten sich in dem Maße ab, wie sie ihre Ohnmacht erkannten, die Mauer zu beseitigen; denn die Westmächte, insbesondere die USA, ließen es zwar nicht an markigen Worten fehlen, nahmen jedoch die Mauer hin, da sie ihres Erachtens den territorialen Status quo nicht zu ihren Ungunsten verändert hatte. So blieb den Berlinern nichts anderes übrig, als sich mit dem „Schandmal" zu arrangieren, mit dem sie leben mußten. Sie nahmen damit zugleich Abschied von gesamtdeutschen Illusionen.
Im Zeichen des Vier-Mächte-Abkommens entkrampfte sich die Lage allmählich. Die meisten Berliner haben sich seitdem an die Mauer gewöhnt. Viele von ihnen fühlen sich nur noch wenig von ihr gestört, und einige von ihnen leben sogar von ihr und den Touristen, für die die -Mauer eine Attraktion ist, wenn auch eine nach wie vor unheimliche, weil unmenschliche.
25 Jahre Berliner Mauer lehren, daß sich die Zeiten ändern und wir uns mit ihnen: „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis." Aber in Wirklichkeit sind es nicht die Zeiten, die sich ändern, sondern die Menschen selbst, wenn sich die Realitäten nicht ändern lassen. Nicht die Tatsachen haben sich dann geändert, sondern die Wahrnehmungen und Einstellungen der Menschen zu ihnen. Sie schlagen damit eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart und versöhnen so beide miteinander. 25 Jahre hat es gedauert, bis die Westdeutschen, insbesondere die Berliner, den Schock des 13. August 1961 verarbeitet und so die Mauer, obgleich sie fortbestand, dennoch politisch und geistig indirekt überwunden hatten.