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31 Texte der bpb

Informationen zur politischen Bildung: Der Weg zur Einheit

Informationen zur politische Bildung: Der Weg zur Einheit
Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 endeten 40 Jahre deutscher Zweistaatlichkeit. Die überarbeitete Neuauflage zeichnet wesentliche Stationen des Weges zur Einheit nach: Von der Entspannungspolitik Willy Brandts über die Proteste gegen das SED-Regime und den Zusammenbruch des sozialistischen Staates bis zu den "Zwei-plus-Vier"-Verhandlungen mit den Alliierten des Zweiten Weltkriegs. Die politische, ökonomische und kulturelle Gestaltung der Vereinigung wird ebenso diskutiert wie neue Entwicklungen, die sich aus der veränderten Weltlage ergaben. Thema sind auch soziale Probleme des Einigungsprozesses, die bis heute aktuell sind und Herausforderungen für Politik und Gesellschaft darstellen.

Informationen zur politische Bildung (Heft 250): Der Weg zur Einheit, Bonn 2015

Jarausch, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945 -1995

(Auszug)

Jarausch, Konrad: Die Umkehr -  Deutsche Wandlungen 1945 -1995
Der demokratische Aufbruch kulminierte in der Einrichtung des Runden Tisches, der die Reformdiskussionen außerhalb der unglaubwürdigen Instanzen institutionalisierten sollte. Nach der Maueröffnung sorgten sich loyale Kritiker des Systems wie Christa Wolf um das Ausbluten der DDR und mahnten daher energischere Reformen an. Runde Tische waren ein Ausdruck des gesellschaftlichen Patts, in dem die SED und ihre Massenorganisationen bis zu den Betriebskampfgruppen alle Machtmittel kontrollierte, die in rivalisierende Organisationen und neue Parteien zersplitterte Opposition aber die Glaubwürdigkeit und dadurch auch die Unterstützung der Bevölkerung besaß. Unter der Vermittlung der Kirchen bot der zentrale Runde Tisch einen neutralen Ort, an dem sich die diversen Initiativen wie Neues Forum und SDP mit der Regierung, den Massenorganisationen und den Blockparteien treffen konnten, um die Zukunft des Landes zu diskutieren. Dahinter stand ein Grundkonsens, der beide Seiten zu Kompromissen beflügelte: "Es ist die demokratisch-sozialistische Idee einer reformierbaren DDR." Die auf allen Ebenen aus dem Boden schießenden Runden Tische waren ein Versuch der Institutionalisierung der Zivilgesellschaft, weil ihre Vertreter dadurch den sozialen Reformprozess mitbestimmen konnten.

Entscheidend war jedoch die halb gewollte, halb erzwungene Maueröffnung am 9. November, die eine spontane Vereinigung von unten in dem geteilten Berlin ermöglichte: "Die Deutschen feiern ihr Wiedersehen." Die Bonner Politik unterstützte diesen demokratischen Aufbruch mit weiteren Reformappellen, Kontakten mit den neu entstandenen Oppositionsgruppen und Forderungen nach "freien Wahlen in der DDR" als Bedingung für eine "ganz neue Dimension wirtschaftlichen Beistands". Zwar hielt die SED daran fest, dass die Wiedervereinigung "nicht auf der Tagesordnung" stehe, und Oppositionelle riefen zu Aktionen "wider die Vereinigung" auf. Aber in internationalen Kommentaren hob "die schlafende Löwin der Einheit" ihr Haupt, und die westdeutsche Bevölkerung hielt die Wiedergewinnung staatlicher Einheit nicht nur für wünschbar, sondern plötzlich auch für machbar.

Kempe, Frederick: Berlin 1961

Kempe, Frederick: Berlin 1961
„Berlin ist der gefährlichste Ort der Welt", urteilte Nikita Chruschtschow im Jahr 1961. In der Tat: Am 27. Oktober dieses Jahres stehen sich sowjetische und amerikanische Panzer am Sektorenübergang Checkpoint Charlie gegenüber. Der „Kalte Krieg" ist kurz davor, zu einem „heißen" – einem Atomkrieg – zu werden. Wie aber konnte es so weit kommen? Basierend auf neu zugänglichen Dokumenten zeichnet der Journalist Frederick Kempe den Weg der Berlin-Krise nach. Dabei beschränkt er sich nicht auf die große Politik, sondern lässt auch Zeitzeugen zu Wort kommen, mit Hilfe deren Perspektive er nah am Geschehen ein lebendiges Bild vom „gefährlichsten Ort der Welt" entwirft.

Kempe, Frederick: Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt (Auszug)

Kleßmann, Christoph: Aufbau eines sozialistischen Staates

(Auszug)

Mauerbau 1961


Informationen zur politischen Bildung (Heft 256): Deutschland in den 50er Jahren
In der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 marschierten entlang der innerstädtischen Demarkationslinie Volkspolizei, Nationale Volksarmee und Betriebskampfgruppen auf und riegelten die Grenze zunächst durch Stacheldraht ab, der bald darauf durch eine Mauer aus Hohlblocksteinen und Betonpfählen ersetzt wurde. Eine lange vorbereitete, komplizierte Aktion wurde technisch präzise innerhalb weniger Tage realisiert. Die Tatsache, dass zunächst ein Stacheldrahtzaun gezogen wurde, lässt darauf schließen, dass sich die Initiatoren des Risikos durchaus bewusst waren. Die Reaktion des Westens auf die Verletzung des Viermächtestatus Gesamtberlins ließ sich noch nicht genau kalkulieren. Die westliche Antwort fiel jedoch überraschend zurückhaltend aus. Es dauerte zwei Tage, bis sich auf heftige Vorwürfe des Berliner Regierenden Bürgermeisters, Willy Brandt, die westlichen Stadtkommandanten überhaupt zu einem Protest bewegen ließen. Umso größer war die Erbitterung der Berlinerinnen und Berliner.

Um die Erregung der Bevölkerung zu besänftigen und wenigstens eine symbolische Geste der Verteidigungsbereitschaft zu zeigen, kam am 17. August General Lucius D. Clay, der legendäre Vater der Luftbrücke von 1948, zusammen mit dem amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson in die deutsche Hauptstadt und sicherte den Westberlinern die Unterstützung der USA zu. Eine geringfügige Verstärkung der amerikanischen Garnison in Berlin sollte diese politische Geste unterstreichen. Intern machte jedoch der amerikanische Präsident deutlich, dass es sich um eine grundlegende „sowjetische Entscheidung” handelte, „die nur ein Krieg rückgängig machen könnte”.

Die Mauer blieb und wurde ebenso wie die gesamte innerdeutsche Grenze durch Kontrollstreifen, Hundelaufanlagen und Selbstschussgeräte perfektioniert. Das letzte Schlupfloch war versperrt, Deutschland brutal und offenbar definitiv geteilt. Nach den Memoiren des westdeutschen Botschafters in Moskau, Hans Kroll, hat Chruschtschow dem Mauerbau zugestimmt, um den ökonomischen Zusammenbruch der DDR zu verhindern, auch wenn ihm bewusst war, dass die Mauer eine „hässliche Sache” sei, die eines Tages wieder verschwinden müsse, wenn die Gründe ihrer Errichtung entfielen.

Sie entfielen bekanntlich nicht. Die Gründe lagen sowohl in dem enormen Wohlstandsgefälle zwischen Bundesrepublik und DDR als auch in der fehlenden politischen Legitimation des SED-Regimes und in der blinden Entschlossenheit, die forcierte sozialistische Umgestaltung des zweiten deutschen Staates fortzusetzen. Die Existenz der DDR war damit an die Mauer gebunden, die von der Sowjetunion und vom Warschauer Pakt politisch abgesegnet worden war. Erst als diese Rückendeckung 1989 überraschend entfiel, konnte auch die Mauer fallen.

Insgesamt sind nach Ermittlungen der westdeutschen „Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter” von 1949 bis 1989 bei Fluchtversuchen aus der DDR 899 Menschen getötet worden. 255 starben an der Grenze um West-Berlin, 371 an der innerdeutschen Grenze und 189 in der Ostsee, die übrigen an den DDR-Grenzen zum Ausland.

Aus der Rückschau lassen sich die Langzeitwirkungen des Mauerbaus deutlicher erkennen. Einerseits begann nun ein Stabilisierungs- und Modernisierungsprozess. Im Inneren gab es auf der Basis der - im wörtlichen Sinne - Ausweglosigkeit neue Formen des Arrangements zwischen Regime und Bevölkerung. Andererseits bildete die vollständige Abgrenzung die Voraussetzung für die Weiterführung eines sozialistischen Experiments, das ohne tiefgreifende Reformen auf die Dauer nicht lebensfähig war. Die groteske offizielle Bezeichnung der Mauer als „antifaschistischer Schutzwall” hat dieses Problem propagandistisch zuzudecken versucht.

In der DDR stellte sich nach anfänglicher großer Verbitterung ein allmählicher Prozess der Gewöhnung an das Unvermeidliche ein. Ein verstärkter Rückzug ins Private war die Folge, den auch die SED in Grenzen akzeptierte. Die deprimierende Grunderfahrung des „Eingeschlossenseins” entwickelte aber auf lange Sicht auch bequeme Seiten. Der „vormundschaftliche Staat” (Rolf Henrich) setzte zwar enge Grenzen und reduzierte radikal die Bewegungsfreiheit, er schuf aber gleichzeitig unter der Bedingung politischer Anpassung ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit.

Quelle: Informationen zur politischen Bildung (Heft 256): Deutschland in den 50er Jahren, Bonn 1997.

bpb.de

Kleßmann, Christoph: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970

Die „Grenzsicherungsmaßnahmen" vom 13. August 1961



(Auszug)

Kleßmann, Christoph: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970
Angesichts der chronischen Krisen in der Versorgungslage und der damit parallel laufenden Fluchtbewegung sind die Pläne zur Abriegelung Berlins schon vor 1961 ventiliert worden. So wurde im Westen bereits 1958 die „Operation Chinesische Mauer" bekannt, die man jedoch zu den Akten legen mußte, da die Sowjetunion zu dieser Zeit einem Mauerbau nicht zustimmte [93]. Noch im März 1961 hatte Ulbricht nach Angaben des 1968 geflüchteten stellvertretenden tschechischen Verteidigungsministers vergeblich versucht, Zustimmung zu seiner Lösung der Berlin-Frage zu erhalten [94]. Erst die Konferenz der kommunistischen Parteichefs des Warschauer Pakts Anfang August gab schließlich grünes Licht [95]. Im Westen erwartete zwar jedermann, daß etwas geschehen würde, aber die Möglichkeit der vollständigen Abriegelung Ost-Berlins wurde offenkundig verdrängt. Insofern traf die in der Nacht zum Sonntag des 13. August beginnende Aktion alle überraschend. Damit ging ein außenpolitischer Konflikt zu Ende, der drei Jahre zuvor begonnen hatte.

Noch vor Chruschtschows Ultimatum hatte Ulbricht die Auseinandersetzung um Berlin auf eine neue Ebene gehoben. In einer Wahlversammlung vom Oktober 1958 erklärte er (ähnlich wie kurz darauf der sowjetische KP-Chef), Berlin sei 1945 Teil der sowjetischen Besatzungszone geblieben. „Ganz Berlin liegt auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik." Die Westmächte hätten mit der Spaltung Deutschlands und Berlins die Rechtsgrundlage und den moralisch-politischen Anspruch ihrer Anwesenheit in West-Berlin verwirkt [96]. Zwar sprach Ulbricht nicht von einer „selbständigen politischen Einheit", aber den Status West-Berlins stellte er doch deutlich in Frage. Zusammen mit Chruschtschows Berlin-Ultimatum erhielt nun das Thema „Republikflucht" einen neuen dramatischen Akzent. Seit der Änderung des Paßgesetzes im Dezember 1956 war der Kampf gegen die Republikflucht verstärkt worden.

Die Einschränkung der legalen Reisen führte zu einem Absinken der Westreisen von 2,5 Millionen (1956) auf rund 700.000 (1958). Parallel lief eine verstärkte Propagandakampagne, um die Bevölkerung gegen Fluchtgedanken zu immunisieren [97] [...] So erklärte Ulbricht auf der 33. ZK-Sitzung im Oktober 1957: „Es ist notwendig, eine große Aufklärungsarbeit zu führen, daß kein Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sich von westdeutschen Werbern dazu verleiten läßt, nach Westdeutschland zu fliehen. Wir müssen alle Menschen davor bewahren, daß sie von den westdeutschen Großkapitalisten ausgebeutet und erniedrigt werden. Vor allem ist es notwendig, den Menschen zu erklären, warum das System des militaristischen Obrigkeitsstaates keine Zukunft hat und warum die Erhaltung des Friedens die Stärkung der DDR erfordert und deshalb kein Arbeiter, kein Angehöriger der Intelligenz, kein Bauer aus kleinlichen wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen nach Westdeutschland ziehen darf." [98]

Daß dieses Ziel nicht zu erreichen war, mußte Ulbricht im Juli 1961 vor dem ZK eingestehen: „Es ist bisher nicht gelungen, die Massen der Bevölkerung auch nur in den Grundfragen der Politik der Arbeiter- und Bauernmacht aufzuklären und zu überzeugen." Daher sei es notwendig, die Machtmittel des Staates einzusetzen [99]. Die immer massiver werdenden Kampagnen, insbesondere gegen die „Grenzgänger" in Berlin, aber auch allgemein gegen „Abwerbung", „Menschenhandel" und „Kopfjäger" und die drakonische Bestrafung gescheiterter Fluchtversuche dämmten den Flüchtlingsstrom in keiner Weise ein [100], sondern wirkten in Verbindung mit den politischen Angriffen auf den Berlin-Status eher kontraproduktiv [...]. Insofern lag die Ursache der dramatischen Zuspitzung im Sommer 1961 nicht nur in der miserablen Versorgungslage - die zeitweilige Wiedereinführung der Rationierung war ein Beweis dafür -, sondern auch in dieser selbstproduzierten psychologischen Konstellation: Da die Maßnahmen der politischen Führung auf längere Sicht nicht zu kalkulieren waren, wurde der innere Druck zu flüchten, solange es noch möglich war, ständig größer [101] [...]. Daß andererseits ein schneller Stop der ökonomischen ruinösen Fluchtbewegung für die politische Führung zwingend war, belegen die Zahlen. Vom September 1949 bis zum ersten Halbjahr 1961 flüchteten insgesamt 2,691 Millionen Menschen aus der DDR. Besonders einschneidend war der hohe Anteil der „Intelligenz", für die seit 1954 genaue Daten vorliegen. Bis 1961 flüchteten: 3371 Ärzte, 1329 Zahnärzte, 291 Tierärzte, 960 Apotheker, 132 Richter und Staatsanwälte, 679 Rechtsanwälte und Notare, 752 Hochschullehrer 16724 Lehrer und 17082 Ingenieure und Techniker [102].

Die Fluchtgründe waren, wie Umfragen ergaben, vielfältig und lassen kaum eindeutige Kategorisierungen zu [103]. Die pauschale Behauptung der SED von „Abwerbung" und „Menschenhandel" gehört in jedem Falle in das Arsenal abstruser Propaganda, die zur Rechtfertigung des Mauerbaus diente. Aber auch die Vorstellung, politische Motive hätten primär den Entschluß zur Flucht bestimmt, ist schief. Nur für eine Minderheit waren politische Gründe im engeren Sinne maßgeblich. In den meisten Fällen war die Flucht, wie Ernst Richert 1966 schrieb, „Binnenwanderung zu den günstigeren Lebensverhältnissen", allerdings illegal und unter Aufgabe von Hab und Gut" [104]. Es hat zudem eine im Westen selten registrierte - und auch nicht präzise erfaßbare - Rückwanderung von West nach Ost gegeben, deren Gesamtumfang bis 1961 auf etwa 500.000 Personen geschätzt worden ist" [105]. Der Hinweis auf die Problematik des Fluchtbegriffs kann die Proportionen wieder zurechtrücken, die in der zeitgenössischen Publizistik bisweilen aus den Fugen gerieten. Er sollte jedoch nicht zur Bagatellisierung der politischen Fluchtbewegung führen. Schon in einem Brief vom 11. November 1960 an Ministerpräsident Grotewohl wies die Synode der Evangelischen Kirche der Union darauf hin, daß viele Menschen aus allen Berufen flüchteten, „weil sie das Mindestmaß an Freiheit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit vermissen, das für sie zu einem sinnvollen menschlichen Leben gehört" [106].

Die Absicht, als „ultima ratio" eine Mauer zu bauen, wurde bis zuletzt abgeleugnet. Noch am 15. Juni 1961 erklärte Ulbricht auf einer Pressekonferenz auf die Frage einer Korrespondentin der „Frankfurter Rundschau" nach den Konsequenzen der Bildung einer „Freien Stadt": „Ich verstehe Ihre Frage so, daß es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, daß wir die Bauarbeiter in der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten ... Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." [107] Nach Kennedys Erklärung über die drei „Essentials« vom 25. Juli [...] war jedoch trotz aller Risiken eine Abriegelung absehbar, da eine westliche Intervention nicht erfolgen würde, solange keines dieser „Essentials" berührt war. Folgt man den Memoiren des Botschafters der Bundesrepublik in Moskau, Hans Kroll, so hat Chruschtschow selber den Befehl zum Mauerbau gegeben, um den ökonomischen Zusammenbruch der DDR zu verhindern, auch wenn er sich bewußt war, daß die Mauer „eine häßliche Sache" sei und eines Tages wieder verschwinden müsse, wenn die Gründe ihrer Errichtung entfielen [108]. Im Amtsdeutsch des Ministerratsbeschlusses vom 12. August lautete die Begründung so: „Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist." [109] Die These vom Mauerbau als Präventivmaßnahme zur Sicherung des Friedens hat sich dauerhaft in der DDR-Historiographie gehalten. Die innere Logik einer solchen Vorstellung, angebliche „Blitzkriegspläne der BRD" [110] könnten durch Stacheldraht und Mauerbau zu Fall gebracht werden, ist seitdem nicht überzeugender geworden.

Die Vorbereitung und Durchführung der Aktion übertrug Walter Ulbricht Erich Honecker, damals Sekretär des ZK und Politbüromitglied [111]. Begonnen wurde in der Nacht zum 13. August mit Absperrungen durch Polizeiposten, Betriebskampfgruppen und Verbände der NVA. Zunächst wurden Stacheldrahtbarrieren entlang der Sektorengrenze errichtet, die dann in den folgenden Tagen durch Mauern ersetzt und langfristig zur „modernen Grenzanlage" perfektioniert wurden.

Was der Mauerbau für die Bevölkerung Berlins und der DDR bedeutete, ist punktuell in zahllosen zeitgenössischen Reportagen und Bilddokumentationen illustriert worden, obwohl wir letztlich wenig darüber wissen, wie die Wirkung unter der DDR-Bevölkerung war [112]. Die zynischen offiziellen Begründungen und die zeitweilig verbreitete groteske Bezeichnung der Mauer als „antifaschistischer Schutzwall" sind stets auf wenig Glauben gestoßen. Die demagogischen Tiraden des Chefpropagandisten des (Ost-)Berliner Rundfunks, Karl Eduard von Schnitzler [113], dürften ebenfalls schwerlich dazu beigetragen haben, die Notwendigkeit des Mauerbaus plausibler zu machen. Abenteuerliche Fluchtversuche und blutige Zwischenfälle bestimmten monate- und jahrelang die Situation an der Mauer. Der Ton der politischen Auseinandersetzung zwischen der DDR und „dem Westen" wurde gehässiger denn je [...]. Vor allem der Regierende Bürgermeister, Willy Brandt, war Zielscheibe einer mit geschmacklosesten Einlagen versehenen Rundfunkkampagne [114].

Als die Absperrung erfolgreich durchgeführt war, bescheinigte Ulbricht seinen „lieben Berlinern": „Ihr habt diese Prüfung gut bestanden" [115]. Drei Tage später resümierte der Leitartikel des „Neuen Deutschland": „Die Sicherung der Grenzen unserer Republik in und um Berlin hat auch bei den erbittertsten Feinden des Sozialismus, auch bei den verbohrtesten Gegnern unserer Arbeiter- und Bauernmacht die Hoffnung zerstört, daß es den Adenauer, Strauß und Brandt gelingen könnte, mit Hilfe der offenen Flanke die DDR aufzurollen, und das Deutschlandproblem durch Annexion der DDR zu ‚lösen’." [116] Die nach innen gerichtete Funktion der Mauer erschien in der Propaganda vor allem als erfolgreicher Schlag gegen westliche „Schieber und Spekulanten".

Das innenpolitische Klima in Ost-Berlin und in der DDR blieb in den Monaten nach dem Bau der Mauer äußerst gespannt. NVA-Formationen und bewaffnete Kampfgruppen demonstrierten Stärke und sorgten dafür, daß potentielle Opposition eingeschüchtert wurde [117]. Gegen die „geistigen Grenzgänger" zog Karl Eduard von Schnitzler zu Felde [118]. Im Rahmen dieser Kampagne war auch die Aktion „Blitz contra NATO-Sender" der FDJ vom September 1961 zu sehen, in der nach Westen gerichtete Dachantennen abmontiert oder „richtig eingestellt" wurden [119].

Zeitgenössische und rückblickende Perspektive klaffen selten tiefer auseinander als bei der Beurteilung des Mauerbaus. Denn was damals als Gipfel kommunistischer Unterdrückungspolitik erschien, erwies sich längerfristig als „heimlicher Gründungstag der DDR" [120]. Ein allmählicher, wenn auch mühsamer Prozeß innerstaatlicher Konsolidierung und zwischenstaatlicher Normalisierung konnte sich erst auf dieser Basis entwickeln. Dies gehört zu den bitteren Aporien der Situation Nachkriegsdeutschlands. Daß es Alternativen gab, läßt sich theoretisch mühelos vorstellen. In der Praxis der Politik sind sie angesichts der konsequenten Orientierung der DDR am 1952 verkündeten „Aufbau des Sozialismus" und der nicht weniger konsequenten Nichtanerkennungspolitik der Bundesrepublik schwer erkennbar. Aus der Sicht der SED waren jetzt die Voraussetzungen geschaffen, um „die nun objektiv heranreifenden Aufgaben der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft schrittweise auszuarbeiten und zu verwirklichen" [121].

Kowalczuk, Ilko-Sascha: DDR-Geschichte

(Auszug)

Das Jahr 1961


Nach dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 bemühte sich die SED-Führung, die Auseinandersetzungen um „revisionistische und objektivistische Tendenzen" zu beenden. Jetzt kam der Entwicklung eines „sozialistischen Bewusstseins" und dem forcierten „Aufbau des Sozialismus" im Zusammenhang mit der „nationalen Grundkonzeption" eine besondere Bedeutung zu. Bis 1961 sollte die DDR die Bundesrepublik „erreichen und übertreffen". Dazu bedurfte es nicht nur ökonomischer und politischer Anstrengungen, sondern ebenso ideologischer Eingriffe, um ein „neues Bewusstsein" bei den Menschen herauszubilden. Dieser „neue Mensch" sollte sich dadurch auszeichnen, dass er den Weisungen der Parteiführung unbedingt Folge leistet und die Wendungen der Politik kritiklos und ohne oppositionelles Aufbegehren mitträgt. Der Mauerbau war nicht nur eine Bewährungsprobe für den „neuen Menschen", sondern speziell für die Intelligenz.

In seinem Vorfeld verschlechterte sich die Stimmung beinahe stetig. Anfang August 1961 mobilisierte die SED ihre Parteigruppen an den Hochschulen. Ohne dass genau gesagt worden wäre, was geschehen wird, herrschte erhöhte Alarmbereitschaft. Unmittelbar nach dem 13. August war die Lage an den Hochschulen zunächst ruhig - es waren Semesterferien. Da parteiliche Kräfte an den Hochschulen zusammengezogen worden waren, überrascht es auch nicht, dass in den ersten Stimmungsberichten die Zustimmung zu den „Maßnahmen" überwog. Allerdings ist auch schon in dieser Zeit vielfach die Meinung vertreten worden, der Mauerbau sei einem bevorstehenden Zusammenbruch der DDR zuvorgekommen. Und „wenn die Regierung der DDR Panzer und Bajonette auffährt, dann bestätigt das, wie wenig Freiheit es gibt". Aus der Bergakademie Freiberg etwa wurde gemeldet, „bevor solche rigorosen Maßnahmen getroffen werden, hätte man besser den Lebensstandard erhöhen sollen, durch das Abriegeln der Grenzen hat die Regierung der DDR jetzt die Möglichkeit, unsere eigenen Arbeiter zu unterdrücken und auszubeuten". Der Propaganda, wonach sich der Mauerbau gegen die „Rollback-Politik" des Westens richte, wurde häufig die rhetorische Frage entgegengehalten, „warum die Kampfgruppen mit dem Gewehr nach Osten und mit dem Rücken zum Brandenburger Tor stehen. Sind die Gewehre', so fragt man, gegen unsere Bevölkerung gerichtet'"?

Die Intelligenz verhielt sich zurückhaltend und abwartend. Zwar waren kaum zustimmende Meinungsäußerungen zu vermelden, aber ebenso hielten sich direkt ablehnende in Grenzen. Vielerorts argwöhnten Intelligenzler, dass die sozialen Zugeständnisse nunmehr rückgängig gemacht würden, weil die Gefahr der „Republikflucht" weitgehend gebannt sei. Außerdem befürchteten viele, dass man nun endgültig vom internationalen Wissenschaftsbetrieb abgeschnitten sei und die Einheit der deutschen Wissenschaft, an die insbesondere im Osten noch viele glaubten, zerbreche. Ausgesprochen feindlich gegenüber der SED trat nur eine kleine Minderheit auf. Dies passte in den Gesamtkontext. Zwar sind bis zum 4. September 1961 insgesamt 6 041 Personen aus allen Bevölkerungskreisen verhaftet und davon 3 108 inhaftiert worden, zumeist wegen Hetze und Staatsverleumdung, aber es kam nicht zu mehr Streiks als in vergleichbaren Zeiträumen der Vorjahre. Obwohl nach dem Mauerbau die größte Verhaftungs- und Verurteilungswelle seit 1953 losbrach, sind die meisten „strafbaren Handlungen" Aktionen Einzelner gewesen, sodass im Gegensatz zu 1953 die allgemeine Lage relative Entspanntheit vermittelte. Die Erklärung für die relative Ruhe liegt auf der Hand: Die Bevölkerung hatte seit 1953 lernen müssen, ihre Ablehnung zu verbergen. Zustimmung zu ihrer Politik konnte die SED nicht erwarten, aber eine offene Rebellion brauchte sie angesichts des Waffenmonopols und der sowjetischen Panzer im Lande ebenfalls nicht zu befürchten. Die meisten Intelligenzler verhielten sich nicht anders als Arbeiter und Bauern.

Ab Ende August 1961 begann sich an den Hochschulen die Situation allmählich zu verschärfen. Die Berichterstatter notierten, dass zwar die meisten mit irgendwelchen Maßnahmen gerechnet hatten, aber kaum jemand den Bau einer Mauer mitten durch eine Stadt für möglich gehalten hatte. Immer häufiger artikulierten Hochschullehrer und Studenten, die DDR habe sich ins Unrecht gesetzt: „Man redet von Einheit, aber man zieht Stacheldraht." Ein Institutsdirektor aus Dresden sagte gar: „Wenn ich gewusst hätte, dass die am 13. August solche Maßnahmen ergreifen, wäre ich nie bei den Nazis ins Zuchthaus gegangen und wäre auch nicht in die DDR gekommen." Mit einem Parteiausschluss kam dieser Mann glimpflich davon. Zugleich steigerte sich der Unmut unter den Wissenschaftlern, weil alle bezweifelten, dass die geplante „Störfreimachung" auch nur den Hauch einer Chance hätte zu gelingen. Ohne westliche Apparaturen, Gerätschaften, Bücher und Fachzeitschriften sei eine „normale" Wissenschaft nicht mehr möglich.

Der Mauerbau zog an den Universitäten und Hochschulen kurzfristig zwei Konsequenzen nach sich. Zum einen flüchteten Hunderte Universitätsangehörige in den Westen, vom Professor bis zum Studenten und Angestellten. Allein an der Berliner Charité fehlten nach dem 13. August über fünfzig Ärzte, nahezu jeder zehnte der dort beschäftigten Ärzte. Das hing auch damit zusammen, dass gerade in Berlin eine Reihe Mediziner, Natur- und Agrarwissenschaftler noch immer im Westteil der Stadt wohnten. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des 13. August 1961 flohen mehr Studenten und Wissenschaftler als in den Jahren 1959 oder 1960 insgesamt.

Die zweite kurzfristige Folge der Absperrmaßnahmen waren scharfe Auseinandersetzungen der SED mit einzelnen Personen, die sich kritisch gegenüber der kommunistischen Politik äußerten. An der Humboldt-Universität zu Berlin kam es nach dem 13. August 1961 zu 57 parteiinternen Verfahren. Die eigentlichen Auseinandersetzungen spielten sich jedoch zwischen SED-Leitungen und staatlichen Behörden (Staatssekretariat für Hochschulwesen [SfH], MfS) einerseits und Universitätsmitgliedern, die nicht der SED angehörten, andererseits ab. Es kam an allen Universitäten und Hochschulen zu Relegationen und Exmatrikulationen, allein an der Universität in Leipzig bis zum 22. September 1961 zu insgesamt 54. Die Gründe waren allesamt politischer Natur, weshalb einige der exmatrikulierten Studenten vom MfS verhaftet und verurteilt wurden. Im Zusammenhang mit dem Mauerbau erfolgten 227 Exmatrikulationen, wobei die höchsten Anteile auf Leipzig und Berlin entfielen. Es gab darüber hinaus fast doppelt so viele Disziplinarverfahren. Bis Anfang Januar 1962 sind wegen oppositioneller Handlungen gegen den Mauerbau mindestens 30 Studenten und Studentinnen verhaftet und verurteilt worden. An der Humboldt-Universität betraf das bis zum 11. September 1961 allein mindestens 15 Studierende.

Der wichtigste Anlass für heftige Diskussionen an den Universitäten war neben dem Mauerbau die forcierte Militarisierung und die Einführung der Wehrpflicht. Nach anfänglichem Zögern der Studierenden konnte schon bald gemeldet werden, dass rund neunzig Prozent der Studenten den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) ableisten würden. Die Berichterstatter räumten ein, dass die hohen Prozentzahlen „nicht darüber hinwegtäuschen [dürften], dass bei vielen Studenten noch erhebliche Unklarheiten bestehen". Vor allem äußerten viele Studenten, dass sie nicht auf ihre „deutschen Brüder und Schwestern" schießen würden.

1961 gab es im Gegensatz zu 1953 oder 1956/57 kaum graduelle Unterschiede im Verhalten zwischen den einzelnen sozialen Gruppen und Schichten, die Ablehnung des Mauerbaus war allgemeiner Natur. An den Universitäten existierten aus zwei verschiedenen Gründen Unruheherde. Zum einen sollte die studentische Jugend ihre ideologische „Feuertaufe" bestehen, indem sie sich als „Avantgarde" an der weiteren Militarisierung der Gesellschaft beteiligte - eine Vorgabe der SED-Führung, die trotz beachtlicher Widerstände weitgehend und schnell umgesetzt wurde. Zum anderen erfolgten eine Reihe politischer Auseinandersetzungen mit Hochschullehrern, die durch den Bau der Mauer ihre wissenschaftliche Arbeit bedroht sahen. Vor allem Naturwissenschaftler, Human- und Veterinärmediziner befürchteten, in Zukunft vom westdeutschen und internationalen Wissenschaftsbetrieb vollends isoliert zu werden. Weil der Mauerbau die Arbeitsbedingungen der Wissenschaftler in einem höheren Maße als die der Arbeiter beeinträchtigte, kam es nach dem 13. August 1961 an den Universitäten teilweise zu schärferen Auseinandersetzungen als in den Betrieben. In Jena etwa flüchtete nach jahrelangen Auseinandersetzungen der angesehene Mathematiker Walter Brödel noch nach dem Mauerbau in den Westen. An der Universität waren beinahe einhundert Agitatoren eingesetzt, um die Universitätsangehörigen über das „schändliche Treiben" von Brödel aufzuklären. Dazu kamen Zeitungsartikel, Flugblätter und die obligatorischen Stellungnahmen, auch aus Großbetrieben Jenas. Die Historiker der Universität forderten pflichtgemäß, „Prof. Brödel jede Möglichkeit zu entziehen, an unserer Universität weiterhin gegen unsere gemeinsamen Aufgaben und Ziele zu wirken".

[...]

Neben den vereinzelten Protesten und dem mehrheitlichen Schweigen der Intelligenz artikulierte sich aber in weitaus umfangreicherem Maße als 1953 oder 1956/57 offene Zustimmung zum Mauerbau und zur SED-Politik. Dafür existieren Beispiele aus allen Hochschulen, Fakultäten und Instituten. Besonders einhellig äußerten sich die Gesellschaftswissenschaftler, wobei als Beispiel auf die Historiker verwiesen wird. Denn im Gegensatz zu den medizinischen, veterinärmedizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten, an denen „in breitem Umfang Unverständnis für die Maßnahmen vom 13. August" herrschte, zählten die Historischen Institute zu den ideologischen Vorposten an den Universitäten. Die Historiker gehörten zu den wichtigsten geistigen Vorkämpfern und den ideologischen Maurern der Mauer. Nach dem Mauerbau bekannte sich ein „weltoffener Historiker" wie Walter Markov „vorbehaltlos und öffentlich zur Politik von Partei und Regierung". In Berlin warfen die „Genossen Historiker" die Frage auf: „Warum gibt es bei uns an der Universität keine Kampfgruppe? Es sei notwendig, dass auch wir über einen festen Einsatzstamm verfügen, der notfalls mit Waffen umzugehen versteht." Der „bürgerliche" Historiker Eduard Winter erteilte den „politischen und ideologischen Dunkelmännern der Vergangenheit, die sich in Westdeutschland wieder die Macht erschlichen haben" eine Absage. [...]

Quelle: Politik und Zeitgeschichte (B 30-31/2001), S. 27ff.

Aus Politik und Zeitgeschichte (B 30-31/2001), S. 22-30

Kowalczuk, Ilko-Sascha: DDR: Opposition und Widerstand

Opposition zwischen Mauerbau und der Biermann-Ausbürgerung 1976:


(Auszug)


In der Geschichte von Opposition und Widerstand bedeutete der Mauerbau einen tiefen Einschnitt. Während bis dahin die eindeutige Ablehnung des Regimes überwog und selbst die sozialistische Opposition für ein einheitliches Deutschland eintrat, verlagerte sich nach dem Mauerbau die Opposition zunächst in scheinbar vorpolitische Felder und Aktionsräume. Obwohl sich die Formen der Repressalien nach 1961 verfeinerten und sich ihrer brachialsten Methoden scheinbar entledigten, nahm die DDR nun viel deutlichere Züge des Orwellschen Überwachungsstaates an. Opposition in den 60er Jahren hieß nun vor allem Kulturopposition, ein Phänomen, das sich im Anschluß an den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen im August 1968 in Prag und unter dem Eindruck der westeuropäischen und nordamerikanischen Studentenproteste noch deutlicher ausprägte. Vor allem in der Jugend setzte ein Rückzug von Staat und Gesellschaft ein. Man wollte seine Geschicke wieder in die eigenen Hände nehmen und die Grenzen der Diktatur ausloten, indem neue Lebensweisen ausprobiert und praktiziert worden sind. Diese Entwicklung wurde noch durch die scheinbare kulturpolitische Liberalität in der Anfangsphase der Honecker-Ära unterstützt.

Kowalczuk, Ilko-Sascha: Das bewegte Jahrzehnt

Kapitel 1: 1949 bis 1961
Von der Gründung der DDR bis zum Mauerbau


(Auszug)


Kowalczuk, Ilko-Sascha: Das bewegte Jahrzehnt
Um 0 Uhr am 13. August 1961 gingen an der Sektorengrenze die Lichter aus, Posten zogen auf, die Grenze wurde geschlossen. Anderthalb Stunden später wurde der S- und U-Bahn-Verkehr eingestellt. Gegen 6 Uhr morgens war die Sektorengrenze dicht. Verschiedene NVA-Einheiten und Einheiten der Bereitschaftspolizei waren ab Mitternacht in Berlin eingerückt. Bei der NVA wurde ebenso wie bei den sowjetischen Truppen in der DDR Gefechtsalarm ausgelöst. Im Gegensatz zur NVA blieb die GSSD in den Kasernen. Die eigentlichen Absperrmaßnahmen führten die Schutzpolizei und Formationen der "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" durch. Damit versuchte die SED-Führung zu suggerieren, es seien die Arbeiter, die ihren Staat gegen die westdeutschen "Revanchisten" schützten.

[...]

Am 24. August 1961 wurde der 20-jährige Schneider Günter Litfin beim Versuch, den Humboldt-Hafen zu durchschwimmen, erschossen. Es war das erste Todesopfer seit dem 13. August. Ihm sollten Hunderte folgen. Traurige Berühmtheit erlangte der Tod des 18-jährigen Peter Fechter, der beim Versuch, die Sperren in Richtung Westen zu durchbrechen, am 17. August 1962 angeschossen wurde. Er verblutete im Niemandsland zwischen Ost und West. Weder die Westberliner Polizei noch die Alliierten griffen ein: Sie hatten Angst, die Russen zu provozieren, lag Fechter doch auf deren Gebiet. Erst als der junge Mann qualvoll vor den Augen der Weltöffentlichkeit gestorben war, bargen DDR-Grenzer seinen leblosen Körper aus dem Stacheldrahtverhau.

[...]

Mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 fiel das Ansehen des SED-Regimes auf einen neuen Tiefpunkt. Alle Schutzbehauptungen, man sei einer Aggression der Bundesrepublik zuvorgekommen, konnten nicht die offensichtliche Tatsache verschleiern, dass die DDR diese Mauer brauchte, um das Weglaufen der eigenen Bürgerinnen und Bürger zu unterbinden. Dennoch resultierte gerade aus der offenbaren Brutalität der Mauer bei westlichen Politikern die Erkenntnis, dass die Spaltung Deutschland nicht durch eine Politik der Konfrontation zu beseitigen, sondern ihre Folgen nur durch allmählichen Wandel zu mildern seien. Die DDR wurde durch den Mauerbau zu jener geschlossenen Gesellschaft, die sie bis 1989 blieb. Sie kam gewissermaßen zu sich selbst. Angesichts der scheinbaren Endgültigkeit des Mauerbaus und der Untätigkeit des Westens begannen viele Menschen, sich mit ihren Gegebenheiten zu arrangieren. Die oft beschriebene Pseudo-Idylle in der DDR wurde erst möglich durch die Mauer. Sie war insofern nicht allein ein Bauwerk, sondern Voraussetzung für eine Lebensform. Im Laufe der Jahre wurden die Sperranlagen technisch immer perfekter, politisch aber zunehmen brüchiger. Insgesamt kamen an der innerdeutschen Grenze und an der Berliner Mauer bis zum November 1989 nach jüngsten Ermittlungen 994 Menschen ums Leben, weitere 757 wurden schwer oder dauerhaft verletzt.

Lehmann, Hans Georg: DDR: Vom Mauerbau bis zum Sturz Ulbrichs 1961 – 1971

(Auszug)

16.3. DDR: Vom Mauerbau bis zum Sturz Ulbrichs 1961 – 1971, S. 170ff



13. August 1961: Die DDR beginnt mit Rückendeckung des Warschauer Pakts eine Mauer entlang der Westsektoren Berlins aufzubauen und die Grenze zur BRD zu befestigen. Diese Sperr- und Kontrollmaßnahmen werden damit begründet, dass man dem Treiben der westdeutschen Revanchisten und Militaristen einen Riegel vorschieben, die „systematische Bürgerkriegsvorbereitung durch die Adenauer-Regierung", „feindliche Hetze", „Abwerbung", „Menschenhandel" und „Diversionstätigkeit" durchzukreuzen müssen.

Die spektakuläre Aktion war im Auftrag Ulbrichs streng geheim von Erich Honecker als zuständigem Sekretär für Sicherheitsfragen im ZK der SED vorbereitet worden. Noch auf einer Pressekonferenz am 15.6.1961 hatte Ulbrich versichert: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Am 13.8. – einem Sonntag – löst Honecker um Mitternacht „Alarm" aus: das Signal für Abriegelungsmaßnahmen an der Sektorengrenze West-Berlins unter den Schutz bewaffneter Einheiten der NVA, der Volkspolizei und von Betriebskampfgruppen. Damit wird die Millionenstadt hermetisch in zwei Teile abgesperrt.

Der Mauerbau wirkt wie ein Schock. Er löst zunächst Angst, Schrecken und Erregung aus, schließlich Ratlosigkeit, Ohnmacht, Empörung und Wut. „Die Mauer muss weg", „Nieder mit Ulbricht", „Was machen die Amerikaner?", „Wo bleiben Sie?" – so lauten die Reaktionen.

Die Gegenmaßnahmen der westlichen Alliierten und Schutzmächte beschränken sich auf verbale Proteste und demonstrative Akte wie die Entsendung des US-Vizepräsidenten Johnson und des beliebten General Clay („Held der Blockade") nach Berlin am 19.8.1961. Der Tod des angeschossenen Flüchtlings Peter Fechter, der am 17.8.1962 hilflos an der Mauer verblutet, lässt endgültig keinen Zweifel mehr daran, dass sich der Westen mit dem neuen Status quo minus in Berlin abgefunden hat. Zwar bekräftigen die USA ihre Sicherheitsgarantien für West-Berlin, dich stellen sie im Rahmen der „Friedensstrategie" Kennedys den Besitzstand der Sowjetunion nicht mehr infrage.

[...]

34.1. DDR: „Wir wollen raus": Massenflucht und politischer Wandel als Vorläufer der „Wende" 1989, S. 359



19. Januar 1989: Partei- und Staatschef Honecker versichert, die Mauer werde „so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 Jahren und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind."

34.2. DDR: „Wir bleiben hier": Massendemonstrationen und Reformbestrebungen bis zum Fall der Mauer 1989, S. 376f



9. November 1989: Öffnung der Mauer: Auf einer vom Fernsehen direkt übertragenen zunächst langweiligen Pressekonferenz verliest SED-Politikbüromitglied Schabowski um 18.57 Uhr auf eine Frage zur neuen Ausreiseregelung beiläufig den Entwurf für eine Presseerklärung über einen Beschluss, den ihm ein Bote des SED-Chefs Krenz kurz vorher zugesteckt hatte: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt." Visa für ständige Ausreisen, die über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen könnten, seien unverzüglich zu erteilen. – Auf eine Nachfrage erklärt Schabwoski in Unkenntnis über die Tragweite seiner Antwort, das trete nach seiner Kenntnis „sofort, unverzüglich" in Kraft. – Geplant gewesen ist dies tatsächlich erst später und nur auf Antrag.

Die sensationelle Meldung löst eine Kettenreaktion aus: In Windeseile verbreiten sich Gerüchte, die Grenzübergänge seien geöffnet, obwohl davon keine Rede gewesen ist. An den abends üblicherweise menschenleeren Kontrollstellen entlang der Mauer wimmelt es binnen kurzer Zeit von Ost-Berlinern. Sie wollen eine Probe aufs Exempel machen. Der Bundestag in Bonn unterbricht seine laufende Beratung über das Vereinsförderungsgesetz und stimmt die Nationalhymne an. Die Grenzwachen sind überrascht, ratlos und überfordert. Weisungsgemäß lassen sich zunächst nur DDR-Bürger mit Ausweisen passieren, die sie abstempeln und entwerten, damit sie nicht wieder auf Formalitäten und zuletzt auf jede Kontrolle verzichten. Um 23.14 Uhr öffnen sich die Schlagbäume, zunächst am Übergang Bornholmer Straße. Nach 28 Jahren ist damit die Mauer faktisch gefallen.

[...]

10. November: Nachdem die DDR am Vortrag die Grenzübergänge zur BRD und zu West-Berlin gegen Mitternacht geöffnet hatte, drängen Hunderttausende an die Grenze. In die Mauer werden Breschen geschlagen, um den Übergang zu beschleunigen. Es kommt zu überschwänglichen Freudenkundgebungen – viele singen, tanzen, jubeln. Fremde Menschen umarmen sich, manche weinen. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper (SPD), der seine Antrittsrede als Bundesratspräsident in Bonn am 10.11. hält, trifft die Stimmungslage: „Gestern Nacht war das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt."

Lehmann, Hans Georg: Mit der Mauer leben? Die Einstellung zur Berliner Mauer im Wandel

I. Fünfundzwanzig Jahre Berliner Mauer


(Auszug)


[...]

25 Jahre sind seit dem Bau der Berliner Mauer vergangen - ein Vierteljahrhundert europäischer und deutscher Geschichte. Nicht nur die Publizistik, auch die Wissenschaft hat sich seitdem ausgiebig mit dieser Zäsur befasst. [...]

Trotz umfangreicher Forschungen blieb ein Aspekt des Mauerbaus bislang unberücksichtigt, zumindest aber sehr vernachlässigt: Wie haben die Bürger der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere die West-Berliner den Mauerbau aufgenommen und sich auf ihn eingestellt - nicht nur am 13. August 1961 und den nachfolgenden Wochen und Monaten, sondern innerhalb von 25 Jahren? Daß diese Fragestellung bislang ausgeblendet geblieben ist, hat seine Gründe: die fehlende zeitliche Distanz zu den Vorgängen, aber auch die schlechte Quellenlage, die dazu nötigt, überall verstreute Zeugnisse zusammenzusuchen und mosaikartig zu einem Gesamteindruck zu verarbeiten. Dieser Beitrag, er sich mehr auf die veröffentlichte als auf die öffentliche Meinung stützt, versucht, anhand gedruckter Materialien den Wahrnehmungs- und Einstellungswandel ein Vierteljahrhundert nach dem Bau der Mauer zu analysieren. [5] Ausgewertet werden vor allem Berichte von Zeitungskorrespondenten, die als Augenzeugen ihre Erlebnisse und Eindrücke schildern.

II. Der Mauerbau als Schock


1. Schrecken, Angst und Erregung schlagen in Empörung und Wut um



Wegen des militärischen Aufmarsches schreckten die Ost-Berliner bereits in den frühen Sonntagsstunden aus dem Schlaf hoch, zumal schwere Panzer durch die Straßen rollten (u. a. T-34). Frühaufsteher unter den West-Berlinern hörten erstmals aus den Morgennachrichten von den Absperrmaßnahmen. Wie ein Lauffeuer sprach es sich in der Millionenstadt herum, dass Volkspolizisten und Volksarmisten an der Sektorengrenze aufmarschiert seien und sie abriegelten. Gerüchte und Spekulationen steigerten noch die Verwirrung.

Die ersten Reaktionen der Berliner bestanden aus einem Gemisch von Neugier, Schrecken, Angst und Erregung; sie motivierten viele von ihnen an jenem arbeitsfreien Tag zur Sektorengrenze zu eilen und sich selbst davon zu überzeugen, was vor sich ging. Da die Berlin-Krise fast drei Jahre lang ununterbrochen schwelte und Chruschtschows Drohung, die „anormale Lage" in Berlin zu beseitigen, wie ein Damoklesschwert über der Stadt schwebte, lag die Befürchtung nahe, daß ein militärischer Gewaltakt geplant sei. Nicht umsonst sprach man. von der „Frontstadt" und einem „Nervenkrieg", der um sie geführt werde; die Schlußfolgerung lag nahe, daß dieser nun in seine heiße Phase eintrete. Denn seit Chruschtschows Ultimatum vom 27. November 1958 lebten die meisten Berliner in ständiger Angst: Es lag - wie sie sagten - etwas in der „Berliner Luft", nur wußte niemand, was und wann etwas geschehen würde. Offensichtlich hatten sich die meisten von ihnen trotz Chruschtschows und Ulbrichts Drohungen in Sicherheit gefühlt, weil zuvor die drei westlichen Alliierten wiederholt die Freiheit West-Berlins verbürgten. US-Präsident Kennedy hatte noch am 25. Juli 1961 in einer Rundfunk- und Fernsehansprache seine Entschlossenheit versichert, West-Berlin zu verteidigen, notfalls sogar atomar 6.

Tausende von Berlinern säumten bald die Sektorengrenze, wo sie zunächst stumm den Abriegelungsmaßnahmen zusahen - als könnten sie nicht fassen, was geschehe. Tatenlos, aber voll innerer Erregung sahen sie zu, wie ihre Stadt hermetisch in zwei Teile geteilt wurde - sozusagen über Nacht [7]. [...]

Angst und Erregung schlugen in Empörung und Wut um, als die Berliner sich vergegenwärtigten, was Stacheldraht, Preßlufthämmer und Barrikaden bedeuteten: „Aus dem Gefängnis Sowjetzone ist das große Konzentrationslager geworden. Wir stehen erschüttert vor einer zur. Staatsgrenze deklarierten Sektorengrenze, erschüttert vor einer Grenze, die nun für 17 Millionen zur Klagemauer werden wird." [8] Sprechchöre forderten am Brandenburger Tor: „Nieder mit Ulbricht!", „Hängt den Spitzbart auf - Waffen weg!" Die erregte Menge konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, zur Sektorengrenze vorzustürmen. Die West-Berliner Polizei versuchte mit Lautsprechern mäßigend zu wirken und so die explosive Stimmung zu mindern. Wo es dennoch zu Übergriffen kam und Steine flogen, marschierten Volkspolizisten mit Karabinern und aufgepflanzten Bajonetten auf, sie wurden mit Schreien, Pfiffen und Pfui-Rufen empfangen.

Auch Ost-Berliner nahmen zunächst kein Blatt vor den Mund: Sie schrien SED-Agitatoren, die die Abriegelungsmaßnahmen rechtfertigen wollten, nieder oder beschimpften sie, vielfach quittierten sie die Propagandaparole, die DDR müsse sich vor „Kriegshetzern", „Menschenhändlern" und „Spekulanten" schützen, mit Hohngelächter und Rufen wie „Blödsinn", „glaubt Ihr doch selber nicht". Oft gelang es nur mit Drohung von Gewalt, Demonstrantengruppen zu zerstreuen. „Meine Geduld ist zu Ende, machen Sie Platz oder es passiert was", tobte ein NVA-Offizier, der ankündigte, er werde Schießbefehl erteilen. Nur mit Maschinenpistolen im Anschlag gelang es schließlich, empörte Menschenmengen aufzulösen [9].

2. Wo bleiben die Amerikaner?



Die Berliner stimmten darin überein, daß die westlichen Alliierten die Verletzung des Vier-Mächte-Status nicht dulden dürften. „Was geschieht jetzt?", „Was machen die Amerikaner?", „Wo bleiben sie?" - solche Fragen kursierten in der erregten Menge, die stündlich hoffte, Truppen der Besatzungsmächte würden vorfahren und dem Spuk an der Sektorengrenze ein Ende bereiten. Viele kochten innerlich vor Wut darüber, daß der Westen sich wieder in die Defensive hatte drängen lassen, statt von selbst initiativ zu werden. Trotz aller Empörung herrschte aber auch die Überzeugung vor, daß es gelte, die Nerven zu be wahren und unbedachte Handlungen zu vermeiden. Ein Journalist gab die Stimmung wie folgt wieder: „Die Westmächte werden in diesen Tagen geprüft, wie weit sie über Nacht geschaffene Tatsachen hinnehmen; und es dürfte wohl klar auf der Hand liegen, daß papierene Proteste bei der Sowjetregierung allein nicht ausreichen ... Es ist ein simples Gesetz, daß Druck Gegendruck erzeugt-. bleibt aber der Gegendruck aus, erhöht sich der Druck automatisch. Die Westmächte müssen daher handeln - in welcher Form dies geschehen kann, darf nicht vorher durch lautes Denken zerredet werden." [10]

In den Nachmittags- und vor allem Abendstunden des 13. August 1961 spitzte sich die Lage am Brandenburger Tor explosiv zu, da sich eine riesige Menschenmenge versammelt hatte, um gegen die Abriegelungsmaßnahmen zu protestieren und zu demonstrieren. Sprechchöre forderten: „Öffnet das Tor" und „Wir fordern freie Wahlen". Einzelne Gruppen entzündeten Fackeln und sangen das Deutschlandlied. Als Panzerspähwagen und Wasserwerfer heranrollten, drängte die West-Berliner Polizei die erregte Masse hinter eine Seilabsperrung zurück, um Gewalttätigkeiten vorzubeugen. Die Wut von West-Berlinern richtete sich daraufhin auch gegen die eigene Polizei, der sie vorwarfen, „Ulbrichts KZ" zu schützen. Am Nachmittag des 14. August 1961 wurde der Platz vor dem Brandenburger Tor geräumt, da Volkspolizisten Tränengas-Bomben geworfen und Demonstranten diesen Angriff mit einem Steinhagel erwidert hatten [11]. Zutritt zum geschlossenen Brandenburger Tor erhielten nur noch Vertreter der internationalen Presse.

Das abwartende Verhalten der westlichen Alliierten und der Bonner Regierung löste bei den West-Berlinern Befremden und Unbehagen aus, bei der DDR-Bevölkerung dagegen Bitterkeit, Verzweiflung und Resignation. Adenauer hatte zwar am 13. August 1961 öffentlich erklärt: „Im Verein mit unseren Alliierten werden die erforderlichen Gegenmaßnahmen getroffen. Die Bundesregierung bittet alle Deutschen, auf diese Maßnahmen zu vertrauen und nichts zu unternehmen, was die Lage nur erschweren, aber nicht verbessern" könnte [12]. Aber die „deutschen Brüder und Schwestern" konnten nicht verstehen, weshalb sie Adenauer mit schönen Reden vertröstete, statt sofort nach Berlin zu kommen und ihnen nahe zu sein. Jetzt fühlten sie sich „abgeschrieben" und fürchteten, die vielen Worte von Wiedervereinigung seien nur „leeres Gerede" gewesen [13]. Auch die überwältigende Mehrheit der West-Berliner war davon überzeugt, der Westen könne nicht länger abwarten, ohne weitere Gewaltakte herauszufordern. „Das Maß der Brüskierung der Westmächte, der Vertragsbrüche, des Unrechts und der Unterdrückung, begangen durch das Ulbricht-Regime mit Unterstützung des gesamten Ostblocks, ist seit dem gestrigen Tage zum überlaufen voll. Die Westmächte sind jetzt zum Handeln herausgefordert worden. Es geht nicht nur um die Wahrnehmung ihrer Rechte in Berlin, um ihre Verantwortung aufgrund des Vier-Mächte-Status für ganz Berlin, sondern weit darüber hinaus um ihre eigene Sicherheit." [14]Manche befürchteten sogar einen Aufstand in Ost-Berlin und in der „Zone", falls die Bevölkerung nur mit lahmen Protesten der Westmächte abgespeist werde [15].

3. Willy Brandt ab Repräsentant der West-Berliner



Was der Regierende Bürgermeister Willy Brandt(SPD) empfand, darf als typisch für die meisten West-Berliner gelten. Wie sie, so traf auch ihn die Nachricht von den Abriegelungsmaßnahmen völlig unerwartet - sie überraschte ihn auf einer Wahlkampfreise im Schlafwagen. Als er mit der ersten Morgenmaschine aus Hannover in Berlin eintraf und den Potsdamer Platz, dann das Brandenburger Tor besichtigte, fühlte er, eigenen Worten zufolge, wie die Menschenmenge: „Es wurde mir schwer, ruhig und beherrscht zu bleiben. Einen kühlen Kopf hatten wir in mancher Berliner Krise behalten und beweisen müssen. Dies war, seit der Blockade von 1948, die ernsteste Herausforderung - keine kriegerische und unmittelbare Bedrohung, denn nicht wir wurden von der Außenwelt mit Gewalt abgeschlossen wie damals, ein Regime schloß vielmehr sich und seine Bürger gegen uns ab. Dennoch, die fieberhaft betriebene Arbeit der Abriegelung, die waffenstarrenden Wachkommandos an den Grenzen - das war ein Bild der Drohung. Das Militär der DDR hatte, nach unserer Interpretation des Vier-Mächte-Status der Stadt, auf dem Territorium Ost-Berlins nichts zu suchen. Mußte man den brutalen Akt der Verletzung des über und für Deutschland geltenden Rechts hinnehmen? Mußte man dulden, was unseren Landsleuten, was den Bürgern Ost-Berlins und der ‚Zone’ angetan wurde? Würden die Alliierten die Hände in den Schoß legen und geschehen lassen, was hier begonnen wurde? Sollten wir - wie es mehr als einer an diesem Sonntagvormittag ausdrückte - wieder nur mit lahmen Protesten abgespeist werden?" [16]

Nach einer kurzen Krisensitzung des Senats suchte Brandt sofort Kontakt mit den Repräsentanten der westlichen Alliierten in Berlin, die ihn jedoch mit Konsultationen zwischen Washington, London und Paris vertrösteten. Er drängte, sie sollten doch wenigstens in Moskau und in den anderen Hauptstädten der Warschauer Pakt-Staaten protestieren, auch sofort PatrouilIen an die Sektorengrenze schicken. Die Enttäuschung schwingt noch nach, wenn Brandt in seinen Memoiren feststellt: „Zwanzig Stunden vergingen, bis die erbetenen Militärstreifen an der innerstädtischen Grenze erschienen. Vierzig Stunden verstrichen, bis eine Rechtsverwahrung beim sowjetischen Kommandanten auf den Weg gebracht worden war. Zweiundsiebzig Stunden dauerte es, bis - in Wendungen, die kaum über die Routine hinausreichten - in Moskau protestiert wurde." [17] Trotz der ohnmächtigen Wut, die, eigenen Aussagen zufolge, in ihm aufstieg, sah er sich als Regierender Bürgermeister verpflichtet, zur Besonnenheit zu mahnen und dadurch risikoreichen Kurzschlußreaktionen vorzubeugen.

Nachdem die Westmächte die Abriegelungsmaßnahmen drei Tage lang mehr oder weniger tatenlos hingenommen hatten, artikulierte die „Bild-Zeitung" die Verbitterung der Bevölkerung: „Wir sind enttäuscht" hieß es, denn der Westen tue nichts: US-Präsident Kennedy schweige, der britische Premierminister gehe auf die Jagd und Adenauer treibe Wahlkampf [18]. Um die Vertrauenskrise zu bannen, aber auch, um Gewalttätigkeiten an der Sektorengrenze vorzubeugen, rief Brandt am Nachmittag des 16. August 1961 zu einer Protestkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus auf. Er versuchte, den dichtgedrängten Massen neuen Mut einzuflößen, indem er versicherte, daß die Stadt, die den Frieden wünsche, nicht kapitulieren werde. Brandt teilte mit, daß er an US-Präsident Kennedy geschrieben habe, damit leitete er eine neue Phase der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem inzwischen begonnenen Bau der ersten Mauer ein [19].[...]

III. Die Mauer muß weg



1. Neue Zuversicht: Johnsons und Clays Mission



Nach Brandts Appell ließ es Präsident Kennedy nicht an guten Worten und Taten fehlen: Er kündigte an, er werde die amerikanische Garnison verstärken und Vizepräsident Lyndon B. Johnson nach Berlin entsenden. Dieser wurde dort am 19. August 1961 zusammen mit dem sehr beliebten Stadtkommandanten während der 1948er Blockade, General Lucius D. Clay, stürmisch begrüßt. Als sie tags darauf im offenen Wagen durch die Stadt rollten, kannte der Jubel keine Grenzen. Auch die symbolische Kampfgruppe von 1500 Mann empfingen die Berliner emphatisch. Zeitgenössische Kommentatoren diagnostizierten einen Gesinnungsumschwung: Zwar habe sich nach der „Katastrophe" des 13. August ein „Gefühl der Enttäuschung über die westliche Untätigkeit und angebliche Gleichgültigkeit" ausgebreitet, doch sei es Präsident Kennedy überraschend gelungen, die Niedergeschlagenheit zu bannen und die Zweifel zu zerstreuen; die West-Berliner seien von einer „Welle der Begeisterung und der neu gestärkten Zuversicht" getragen [20]. Die Parole hieß: „Die Mauer muß weg!"

Damals konnte die Öffentlichkeit nicht ahnen, was sich hinter den Kulissen abspielte. Johnson verbürgte zwar „Leben", „Gut" und „heilige Ehre" der USA für die Freiheit West-Berlins und den freien Zugang nach Berlin, doch hatte seine Mission, wie wir heute wissen, vornehmlich demonstrativen Charakter. Sie hatte eine Doppelaufgabe zu erfüllen: Sie sollte das gestörte Vertrauen zu den Amerikanern wiederherstellen und Brandt zur politischen Mäßigung mahnen. Gegenmaßnahmen irgendwelcher Art gegen die Mauer lehnte Johnson ab, auch warnte er vor einer Kündigung des Interzonen-Handelsabkommens, weil sie eine neue Berlin-Krise heraufbeschwören könnte. Nicht ohne Ironie schildert Brandt in seinen Erinnerungen, was Johnson an „Taten" erwartete. So wollte er abends, nach Geschäftsschluß, Schuhe kaufen, die ihm gut gefielen, sonntags wünschte er sich eine Kollektion von elektrischen Rasierapparaten und Porzellan, die er als Reisepräsente auswählen wollte [21]. Den äußeren Schein vermochten damals nur wenige zu durchdringen. Ein Kommentar wie der folgende zählte zu den Ausnahmen: „Der geradezu triumphale Besuch des US-Vizepräsidenten Johnson und die Truppenparade der 1500 kamen gerade noch zur rechten Zeit. Sie waren und bleiben von unsagbar großem psychologischem Wert. An der effektiven Lage indessen hat sich kaum etwas geändert. Was seit dem 13. August 1961 anders geworden ist, kann nicht mehr zurückentwickelt werden. Der Tag bedeutet einen Bruch, eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Und deshalb können wir auch nicht so tun, als wäre ab heute oder morgen wieder alles wie vorher." [22]

Verbittert waren viele Berliner über Bundeskanzler Adenauer, der Berlin erst am 22. August 1961, also sehr spät, besuchte. Er kam mit trostreiche. Worten, aber leeren Händen. Die Bevölkerung nahm diese „Pflichtübungen" mit gemischten Gefühlen auf: Adenauer erntete nicht nur gefälligen Beifall, sondern auch wütende Pfiffe.

Die Sympathien der West-Berliner galten General Clay, den Präsident Kennedy am 30. August 1961 zu seinem persönlichen Vertreter ernannt hatte. Der „Held der Blockade" schien einen harten Kurs zu verbürgen, zumal er es an markigen Worten nicht hatte fehlen lassen. Um Entschlossenheit zu demonstrieren, ließ Clay Ende Oktober 1961 Panzer am Ausländerübergang Checkpoint Charlie auffahren. Darüber hinaus aber konnte er sich mit seinen Vorstellungen bei seinen eigenen Landsleuten nicht durchsetzen, so daß es bald zu einer Einstellung der amerikanischen „Kraftdemonstrationen" kam [23]. Im Mai 1962 resignierte Clay, indem er seine Sondermission aufgab. Er ging nach eigenen Worten mit dem Gefühl, daß Kennedy ihm einen – „Fußtritt gegeben" habe.

2. Die „Schandmauer" als Provokation



Ende August 1961 begann sich das Leben in Berlin allmählich zu konsolidieren. Die Atmosphäre blieb aber weiter explosiv, denn spektakuläre Zwischenfälle an der Mauer putschten die Leidenschaften in der Stadt immer wieder auf. Am 24. August 1961 war der erste Flüchtling erschossen worden. Danach rissen Meldungen von mißglückten Fluchtversuchen nicht mehr ab. Die West-Berliner „Mordkommission" fahndete mit riesigen Steckbriefen - die hohe Belohnung versprachen - nach den Todesschützen. Zu erregten Szenen kam es, als die SED ihre Schmutzkampagnen gegen westdeutsche Politiker mit weit schallenden Lautsprecherwagen an die Sektorengrenze verlagerte: „Wirtinnen-Verse" über „Willy-Wein-Brandt", den „Giftzwerg" und „Kapaun von Schöneberg", gehörten ebenso dazu wie Schlagerparodien über Adenauer, den „alten Häuptling der Indianer", sowie die Persiflage der Inschrift der Freiheitsglocke durch den „Sender Freies Baldrian": „Ich glaube an die Unanfaßbarkeit des Stacheldrahtes und an die Hürden jedes einzelnen Grenzübergangs." [24] Erschütternde Szenen spielten sich während der Zwangsräumung ganzer Wohnblocks entlang der Bernauer Straße in Wedding ab. Es verging kein Tag, an dem es nicht zu Steinwürfen und Warnschüssen an der Sektorengrenze kam, zum Einsatz von Wasserwerfern und Tränengasbomben.

Die Zwischenfälle nahmen in dem Maße ab, wie die SED die „Grenzsicherungsanlagen" zu einem Festungsgürtel ausbaute, vor allem durch eine zusätzliche zweite Mauer. Dies verminderte die direkte Konfrontation von Mensch zu Mensch, die sich anfangs nur wenige Schritte voneinander entfernt haßerfüllt gegenübergestanden hatten - die West-Berliner auf der einen Seite, die „Grenzwachen" auf der anderen. Auch das Bonner Regierungs-Bulletin vom 8. September 1961 kam daher zu dem Schluß: „An der Berliner Sektorengrenze aus Beton und Stacheldraht hat sich in den letzten Tagen der Zustand ‚normalisiert’, d. h. aber nicht, daß diese Schandmauer als eine unabänderliche Tatsache hingenommen wird. Täglich finden sich auf beiden Seiten die Menschen an dieser Absperrung ein. Aber sie provozieren nicht und sie lassen sich nicht provozieren. Gelegentliche Aktionen der östlichen Wasserwerfer und der prompten Antwort durch Rauchbomben von westlicher Seite sind eher darauf zurückzuführen, daß die Grenzlinie nicht unbedingt mit der Schandmauer zusammenfällt." Ausländischen Korrespondentenberichten zufolge stellten viele Bürger schon die bange Frage, „ob die jahrelang liebevoll gepflegte Vorstellung, daß die Wiedervereinigung unter annehmbaren Bedingungen zu erreichen wäre, nicht eine große Illusion gewesen sei....". [25] Auch in Ost-Berlin gab es Anzeichen dafür, daß man begann, die „Hoffnungen zu Grabe" zu tragen [26].

Spektakuläre Todesfälle an der Mauer machten den Berlinern bewußt, was die Stunde geschlagen hatte: Am 9. Dezember 1961 wurde der 20jährige Student Dieter Wohlfahrt bei einem Fluchthilfeversuch an der Mauer angeschossen und verblutete zwei Stunden lang - die West-Berliner Polizei und die britische Militärpolizei halfen dem tödlich Verletzten nicht. Für Sebastian Haffner signalisierte dieser Mord an der Mauer- eine wachsende Entfremdung: „Die Berliner hüben und drüben sind nicht gewillt, die Ungeheuerlichkeit der -Mauer hinzunehmen, weder de jure noch de facto. Die Alliierten dagegen und unter ihrem Druck die West-Berliner Behörden benehmen sich in der Praxis mehr und mehr, als sei die Mauer bereits de facto und de jure anerkannt." Haffner konstatierte einen erschreckenden Erosionsprozeß: „Wo sind die Zeiten hin, da man das Foto eines Kampfgruppen-Scharfschützen, der einen Flüchtling im Teltowkanal totgeschossen hatte, in ganz Berlin plakatierte und 10.000 Mark Belohnung für seine Ermittlung aussetzte. Heute fischt die Zonenpolizei alle paar Tage die Leiche eines ihrer Opfer aus dem eiskalten Dezemberwasser, und niemand nimmt mehr Notiz davon." [27]

Noch deprimierender war der „Mordfall" Peter Fechter knapp ein Jahr nach dem Mauerbau: Der 18jährige Bauarbeiter wollte am 17. August 1962 flüchten, wurde an der Mauer angeschossen und verblutete - fast eine Stunde lang hatte er um Hilfe gerufen, bis er verstummte. US-Soldaten sahen tatenlos zu. „It's not our problem", erklärten sie, als West-Berliner sie erregt aufforderten, unverzüglich einzuschreiten. Nochmals drohte sich die ohnmächtige Wut in Gewalt- und Zerstörungsakten gegen die Mauer zu entladen, und nur mühsam ließen sich entfesselte Leidenschaften in Massenkundgebungen abreagieren. Zum letzten Male bäumten sich die West-Berliner massiv gegen eine Realität auf, die sie nicht wahrhaben wollten. Aber die „Reaktionen der Großmächte beim Sterben Peter Fechters hatten es bewiesen: Ein Jahr nach ihrer Errichtung war die Berliner Mauer Teil des Status quo in Europa geworden - vom Osten gebaut, vom Westen akzeptiert." [28]

Wenig später beendete die Kuba-Krise die immer noch schwelende „heimliche" Berlin-Krise, als nämlich Chruschtschow in Kuba Raketen stationieren wollte und die USA im Oktober 1962 vor der eigenen Haustüre Härte demonstrierten. Während Kennedy in Berlin die westliche Einfluß- und Machtsphäre ungefährdet sah, reagierte er hart, entschlossen und kompromißlos, als die westliche Hemisphäre unmittelbar von der Sowjetunion bedroht schien. Seitdem gab es keinen Zweifel mehr: Keine Weltmacht könne der anderen den Willen aufzwingen und die weltpolitische Lage zu ihren Gunsten verändern. Mit dem Gleichgewicht des Schreckens wuchs zugleich die Bereitschaft, an die Stelle der Konfrontation die Entspannung zu setzen. Das galt auch für Berlin.

IV. Mit der Mauer leben



1. An der Mauer kehrt der Alltag ein



Als die Einsicht sich durchsetzte, daß die Mauer sich nicht beseitigen lasse, schlugen Empörung und Wut in Ohnmacht, oft in Resignation um. Die Berliner sahen sich genötigt, mit dem „Schandmal" leben zu müssen, obgleich sie es nach wie vor hassten. Je lückenloser die Mauer wurde, um so mehr gewann sie nicht nur an Perfektion, sondern auch an normativer Kraft des Faktischen - sozusagen einen Anschein von Berechtigung. Wut und Empörung flammten schließlich nur noch zeitweilig auf, immer dann, wenn ein „Mordfall" an der Mauer die Leidenschaften neu aufputschte.

So begannen die Berliner, sich an die „Provokation" der „Schandmauer" zu gewöhnen. Daß dort allmählich der Alltag einkehrte, läßt sich mit Beispielen belegen. In Kreuzberg entstand an der Mauer ein Kneipengarten - offenbar störte es die Besucher wenig oder nicht mehr, in unmittelbarer Nähe einer steingewordenen Unmenschlichkeit ihr Bier und ihren Klaren zu trinken! [29] Kinder erfanden besondere „Mauerspiele": Polizisten oder Soldaten ziehen Stacheldraht, bauen Barrikaden, sperren Flüchtlinge ein, verfolgen oder erschießen sie gar. In ihrer Unbefangenheit sahen Kinder offensichtlich als erste in der Mauer eine Attraktion, sofern sie dort auf westlicher Seite inmitten einer Großstadt ungestört buddeln, spielen und herumtollen konnten.

Der wachsende Fremdenverkehr, um den Berlin seit m 13. August 1961 verstärkt geworben hatte, plante die Mauer fest in das Besichtigungsprogramm ein. Die meist subventionierten Berlinreisen sollten ursprünglich Anteilnahme am Schicksal der geteilten Nation wecken; viele dürften sie jedoch als preiswerte Vergnügungsfahrt „mitgenommen" haben, die mehr dem Tourismus als deutscher Selbstbesinnung diente. Für die meist vom Senat eingeladenen ausländischen Gäste gehörte der Besuch an der Mauer zu einer Pflichtübung, und da sie wußten, was sich gehörte, versäumten sie es nicht, dem Gastgeber ihre Abscheu über das „Schandmal" zu versichern. Viele dieser Urteile, oft spontan angesichts der Mauer gefällt, waren sicher ernst und echt gemeint [30], doch wirkten sie auf die Dauer abgedroschen und klischeehaft.

Amerikanische Reisegesellschaften entdeckten die Mauer erstmals als touristische Attraktion, mit der sie in Prospekten für Berlinbesuche warben: Warum in den Fernen Osten fahren, um die „Chinesische Mauer" zu besichtigen, wenn Deutschland nicht nur mittelalterliche Städte und Mauern (z. B. in Rothenburg) biete, sondern sogar eine „kommunistische Mauer" inmitten einer Millionenstadt [31]. Berlin war für Amerikaner sozusagen jetzt eine Reise wert geworden - wegen seiner Mauer, mit der sonst keine andere Stadt der Welt konkurrieren konnte.

2. Die Berliner Mauer-Krankheit



Prominente Politiker beteuerten wiederholt, daß die Berliner sich an die Mauer nicht gewöhnen würden, sie hätten sich allenfalls mit ihr „eingerichtet." „Natürlich haben wir uns irgendwie an sie gewöhnt", meinte dagegen Werner Steltzer, der das „Informations-Zentrum Berlin" leitete, jene Stelle, die im Auftrage des Senats Besucher betreute [32]. Zwar beeindruckten die Zahlen der eingeladenen Ausländer und Journalisten, doch entsprachen die Reaktionen dieser „Prominenten" nicht immer den Erwartungen: Nachdem sie von den Podesten einen Blick über die Mauer geworfen und sich abfällig über sie geäußert hatten, interessierten sie sich oft mehr für das Berliner Nachtleben als für das Schicksal der geteilten deutschen Nation.

Als Berliner Bürgermeister äußerte Heinrich Albertz (SPD) fünf Jahre nach dem Mauerbau: „Ich glaube, daß es noch nicht überall erkannt worden ist, daß, je länger die Mauer steht, die Zeit gegen uns arbeitet und daß die wichtigste Aufgabe für uns Deutsche die ist, die Substanz der Nation zu retten, weil es in wenigen Jahren niemand mehr geben wird, der die Wiedervereinigung wünscht" [33] Als Nachfolger Brandts äußerte sich Albertz ein Jahr später vorsichtiger. Er hoffte, daß sich noch „niemand" an die Mauer, die ein Schock und eine schwere Enttäuschung gewesen sei, gewöhnt habe. Hoffentlich wisse jeder, daß in West-Berlin die Menschen in einer Art Gefängnis lebten, und daß der Auftrag, die Mauer zu überwinden, bestehen bleibe. Wie jedoch Meinungsumfragen dokumentierten, nahm das Wissen über die und das Interesse an der Mauer rapide ab. 1967 wußten danach nur 30 % der Bundesbürger, in welchem Jahr die Mauer gebaut worden war, 21 % gaben zu, das Jahr nicht zu kennen, 22 % gingen davon aus, die Mauer sei zwischen 1953 und 1960 errichtet worden, 27 % nannten die Jahre 1962 bis 1965 [34]. Die Deutschen hatten nicht nur begonnen, mit der Mauer zu leben, sondern sie auch zu ignorieren. Dazu trug wesentlich der wirtschaftliche Aufschwung West-Berlins bei, den die Bundesrepublik Deutschland verstärkt förderte.

Wenn sich auch allmählich die Erkenntnis durchsetzte, daß die Mauer ein Teil des Status quo geworden sei, so änderte dies doch nichts daran, daß sie ein Symbol der Unmenschlichkeit blieb, unter der viele Berliner bitter litten. Manche von ihnen hatten sich nur scheinbar an die Gegebenheiten angepasst, d. h., sie hatten den „Mauerschock" nicht verarbeitet oder verkraftet, sondern verdrängt. Ein Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, der lange Zeit in Ost-Berlin praktiziert hatte, stellte fest, daß in ganz Berlin die „Mauer-Krankheit" grassiere, die er in einem medizinischen Fachbuch ausführlich beschrieb [35]. Es handelte sich um ein Syndrom psychischer und psychosomatischer Störungen, die Müller-Hegemann damit erklärte, daß unerträglicher Druck und Streß auf Familien und Menschen lastete, sofern ihre zwischenmenschlichen Bindungen und Verbindungen durch den Mauerbau zerstört worden waren. Sie äußerten sich häufig in Klaustrophobien, d. h. Ängsten von Berlinern, sie seien „eingesperrt" oder „eingemauert", so daß sie es in ihren eigenen vier Wänden nicht aushalten konnten. Hinzu kamen Depressionen, Verhaltensstörungen, Organbeschwerden und sogar Psychosen. Sie stellten häufig psychische und somatische Spätfolgen des „Mauerschocks bzw. -traumas" dar, das zwar äußerlich-bewußt bewältigt schien, jedoch innerlich-unbewußt langfristig verheerende Schäden anrichtete.

Es war auch kein Zufall, daß Berlin einen traurigen Rekord bei Selbstmorden und Selbstmordversuchen verzeichnete. West-Berlin galt nach dem Mauerbau als Stadt mit der höchsten Selbstmordquote in der Welt überhaupt. Für Ost-Berlin, wo Müller-Hegemann die „Mauer-Krankheit" diagnostiziert hatte, liegt keine offizielle Statistik vor, nach Schätzungen geflüchteter Ärzte muß man jedoch annehmen, daß die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche im Ostsektor noch höher lag als im Westsektor [36].

V. Die. Mauer durchlässig machen



1. In Anbetracht der Mauer: Deutschlandpolitische Initiativen der Berliner SPD unter Brandt/Bahr



Wenn es galt, mit der Mauer zu leben, so erforderte dies langfristig, ihre brutalen Folgen für die Menschen, die unter ihr litten, zu mildern. Das bedeutete: An die Stelle der Devise „Die Mauer muß weg", mußte immer mehr die Forderung treten, sie durchlässig zu machen. Die verantwortlichen Politiker waren gezwungen umzudenken und einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in die sich die Bonner Deutschlandpolitik hineinmanövriert hatte. Langfristig gesehen ließ sich nicht mehr leugnen, „wie sehr die Existenz und der Fortbestand der Mauer zur Grundtatsache der deutschen Politik geworden sind. Es gilt, sich immer wieder aufs neue bewußt zu werden, daß die am 13. August 1961 bewirkte Trennung der beiden Teile Deutschlands solcherart ist, daß hinfort keine deutsche Politik getrieben werden kann, die an der Mauer und am Stacheldraht auch nur für eine Stunde vorbeisieht" [37].

Willy Brandt sah im Mauerbau eine tiefe Zäsur, die Logik einer Entwicklung, „die sehr viel früher begonnen hatte: als Bestätigung einer Abgrenzung der Interessen, die die Siegermächte bei Kriegsende vorgenommen hatten". Er sprach davon, der Vorhang sei weggezogen worden, um „uns eine leere Bühne zu zeigen. Man kann es auch schroffer sagen: Uns sind Illusionen abhanden gekommen, die das Ende der hinter ihnen stehenden Hoffnungen überlebt hatten - Illusionen, die sich an etwas klammerten, das in Wahrheit nicht mehr existierte" [38]. Die Realität der Mauer zwang Brandt und seine Berater zum Nachdenken darüber, ob die traditionellen Zielsetzungen und Formen westdeutscher Wiedervereinigungspolitik noch brauchbar seien.

Aus diesem Lernprozeß zog Brandts damaliger Pressesprecher und engster Vertrauter Egon Bahr aufsehenerregende Schlußfolgerungen. Vor der Evangelischen Akademie Tutzing vertrat er am 15. Juli 1963 in einem „Diskussionsbeitrag" die Auffassung, daß die kommunistische Herrschaft in der „Zone" nicht beseitigt, aber verändert werden könne – so paradox dies klinge. Im Sinne der von Kennedy proklamierten „Strategie des Friedens" gehe es darum, den „Menschen" zu helfen, z. B. durch „technische Kontakte" mit dem „Zonenregime" die Mauer, die Bahr für ein Zeichen der Schwäche hielt, durchlässig zu machen: „Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung." [39] Diese „Politik der kleinen Schritte" und der „menschlichen Erleichterungen" sollte, so Bahr, das Zwischenstadium bis zur Wiedervereinigung überbrücken.

Bahrs Thesen schockierten viele Zeitgenossen. Widerspruch meldete vor allem die CDU an, die „Aufweichungstendenzen" oder gar den „Ausverkauf deutscher Interessen" befürchtete. Aus wahltaktischen Gründen identifizierte sich auch die Berliner SPD nicht mit Bahr; sie ließ sogar öffentlich verkünden, er habe nur für sich selbst gesprochen. Unter dem Druck der CDU, insbesondere ihres Bürgermeisters Franz Amrehn, hatte Brandt bereits im Januar 1963 sein geplantes Treffen mit Chruschtschow in letzter Minute abgesagt.

Trotz aller Kritik an Bahr praktizierte der West-Berliner Senat jene Politik der „kleinen Schritte" und „menschlichen Erleichterungen". Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten der West-Berliner Senatsrat Horst Korber und DDR-Staatssekretär Erich Wendt das erste Passierscheinabkommen am 17. Dezember 1963, das West-Berlinern zum ersten Male seit dem Mauerbau ermöglichte, über Weihnachten/Neujahr 1963/64 Verwandte in Ost-Berlin zu besuchen. Die Bundesregierung meldete rechtliche Bedenken gegen die Aufwertung des „Zonenregimes" an, wollte jedoch den Konflikt mit ihm nicht auf dem Rücken der Berliner austragen. Unbeschadet aller politischen und juristischen Meinungsunterschiede kam es daher zu weiteren Passierscheinabkommen; sie gingen von der Existenz der Mauer aus, erstrebten aber, ihre Unmenschlichkeit zu mildern. Nach dem 4. und letzten Passierscheinabkommen vom 7. März 1966 blieb die Passierscheinstelle für dringende Familienangelegenheiten, also Härtefälle, erhalten [40].

2. Kontinuität und Wandel: Deutschlandpolitik im Übergang zwischen Adenauer- und sozialliberaler Ära



Auch in den Bonner Regierungsparteien gab es Vertreter, die mit dem Kurs der Berliner SPD sympathisierten, wenngleich unter Vorbehalten. Wie sich traditionelle Auffassungen gewandelt hatten, läßt sich anhand der Kommentare analysieren, die politische Entscheidungsträger der Bundesrepublik Deutschland zum fünften Jahrestag des Mauerbaus („Ein Mahnmal der Schande") öffentlich abgaben.

Den Denkkategorien des Kalten Krieges am stärksten verpflichtet blieb Bundeskanzler Erhard - auch in der Sprache. Er wollte nicht müde werden, für die Wiederherstellung der deutschen Einheit zu arbeiten: „Und niemand kann uns den Glauben und die Hoffnung rauben, daß trotz aller Widerwärtigkeiten des kommunistischen Regimes, trotz schreienden Unrechts und brutaler Gewalt dieses Ziel erreicht wird und an diesem Tage auch die Schandmauer quer durch Berlin in Trümmer fällt." Zurückhaltender äußerte sich der Berlin-Beauftragte Ernst Lemmer (CDU). Er zeigte sogar Verständnis dafür, „daß das kommunistische Regime durch die anhaltende Massenflucht in einen gesellschaftlichen und politischen Notstand geraten war". Er wollte auch nicht voraussagen, wie lange die Mauer fortbestehen werde: „Aber sicher ist, daß diese schreckliche Mauer, die uns so gewaltsam voneinander trennt, nicht überwunden werden kann durch Deklamationen, schöne Worte, oder gar durch Gewalt. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat für unser Land schwerwiegende Folgen hinterlassen. Dieser Einsicht wollen wir uns gemeinsam nicht entziehen." Noch weiter ging der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende (FDP). Man habe, so meinte er, in der ersten Zeit Hoffnungen gehegt, „die sich später als Illusionen herausstellten" - dazu habe auch die Devise „Die Mauer muß weg!" gehört. Er beklagte, daß die Mauer und die Teilung Deutschlands „uns nicht so bedrückt und quält, wie ich mir das wünschte" [41]. Ähnlich äußerten sich Parteipolitiker, z. B. der Berliner FDP-Landesvorsitzende William Born und der spätere Minister für gesamtdeutsche Fragen Johann Baptist Gradl (CDU). Auch die Öffentlichkeit begann Abschied von gesamtdeutschen Illusionen zu nehmen, die bislang den Blick für Realitäten verstellt hatten. Zwar flammten bei Zwischenfällen an der Mauer Emotionen und Leidenschaften immer wieder neu auf, doch trat an die Stelle der moralischen Verurteilung des „Schandmals" immer mehr die nüchterne politische Betrachtungsweise. War bislang die Massenflucht von DDR-Bürgern mit Schadenfreude und gehässigen Kommentaren quittiert worden, so sah man jetzt auch die Ursachen: daß dieser Aderlaß die SED letztendlich dazu gezwungen hatte, dem „Bankrott" des Landes Einhalt zu gebieten. Und das hieß: Die DDR hatte das politisch-psychologische Debakel des Mauerbaus in Kauf genommen, um ihren wirtschaftlichen Kollaps an „perniziöser Anämie" zu verhindern. Die Zäsur des 13. August 1961 leitete dann auch eine politische und ökonomische Konsolidierung ein, ohne die die unbestreitbaren wirtschaftlichen Erfolge der DDR undenkbar sind. Die Mauer symbolisierte daher nicht nur die Teilung Deutschlands, sondern sie ermöglichte auch den Aufstieg der DDR in den Kreis der zehn leistungsstärksten Industriestaaten der Welt - mit einem Lebensstandard, den kein anderes Ostblockland aufweist.

Die DDR hatte sich allen Widerständen zum Trotz als zweiter deutscher Staat behauptet. Ihre innenpolitische und ökonomische Konsolidierung, die der Mauerbau eingeleitet hatte, führte langfristig auch zur internationalen Aufwertung des SED-Regimes, denn es konnte schließlich jene Fesseln abwerfen, die ihm die Hallstein-Doktrin auferlegt hatte. In der Bundesrepublik Deutschland setzte sich die schmerzliche Erkenntnis durch, daß am 13. August 1961 eine sichtbare Mauer an die Stelle der bisher unsichtbaren getreten war, und daß sich auf deutschem Boden zwei Staaten entwickelt hatten, deren Existenz sich nicht mehr leugnen ließ. Die DDR hatte ihren Anspruch, ein eigenständiger Staat zu sein, mit dem Mauerbau nicht nur dokumentiert, sondern - langfristig gesehen - auch erfolgreich durchgesetzt. Nun mußte mit Tabus gebrochen werden, die in der Ära Adenauer regierungsamtlich gepflegt worden waren. Ein britischer Journalist formulierte dies so: „Westdeutschland wird sich mit der Aussicht abfinden müssen, daß die häßliche Grenze bis auf weiteres bestehen bleibt, daß die DDR ein Faktum und die deutsche Wiedervereinigung so unerreichbar ist wie das Schlaraffenland." [42]

3. Berlin geht zur Tagesordnung über



Was Willy Brandt in West-Berlin im kleinen begonnen hatte, setzte er in der sozialliberalen Koalition seit 1969 im großen fort. Als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland legten er und sein Außenminister Walter Scheel (FDP) den Grundstein für die Normalisierung und den Ausgleich mit osteuropäischen Staaten. Diese sozialliberale Ostpolitik beruhte auf der Prämisse, daß zwar die politischen, ideologischen und rechtlichen Meinungsverschiedenheiten fortbestünden und unüberbrückbar seien, aber durch einen Modus vivendi auf der Basis des Status quo reguliert werden könnten.

Brandt und Scheel machten die Ratifizierung der Ostverträge, d. h. des Moskauer Vertrags mit der Sowjetunion vom 12. August 1970 und des Warschauer Vertrags mit der Volksrepublik Polen vom 7.'Dezember 1970, davon abhängig, daß die Existenz und Freiheit West-Berlins völkerrechtlich abgesichert werde. Trotz unterschiedlicher Rechtspositionen kam am 3. September 1971 das Vier-Mächte-Berlin-Abkommen zustande, das auf der Grundlage eines Gewaltverzichts „praktische Verbesserungen der Lage" gewährleistete. Die Sowjetregierung garantierte darin erstmals den unbehinderten Zivilverkehr von und nach Berlin. Ergänzende innerdeutsche Vereinbarungen folgten: Das Transitabkommen zwischen beiden deutschen Staaten vom 17. Dezember 1971 regelte den zivilen Durchreiseverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, und nach einer Vereinbarung des West-Berliner Senats mit der DDR-Regierung vom 20. Dezember 1971 konnten die West-Berliner wieder generell trotz des Mauerbaus Ost-Berlin und die DDR besuchen. Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin trat zusammen mit den ergänzenden innerdeutschen Vereinbarungen sowie den Ostverträgen am 3. Juni 1972 völkerrechtlich in Kraft [43].

Auch nach dem Vier-Mächte-Abkommen bestand die Mauer fort: Sie war aber nicht nur durchlässig



gemacht worden, wie z. B. durch die Passierscheinabkommen, sondern auch politisch indirekt überwunden worden. West-Berlin konnte freier atmen und aufatmen. Nach einem von Rolf Heyen herausgegebenen Sammelband, der die neue Situation darstellt, bedeutete dies die Entkrampfung Berlins, das „zur Tagesordnung" überging [44]. Die DDR-Führung mußte umdenken und sich widerstrebend mit der Existenz West-Berlins abfinden, und das hieß, mit dem Scheitern jener Konfrontationspolitik, die das Ziel verfolgt hatte, die westlichen Alliierten aus Berlin zu vertreiben. Schon Mitte der sechziger Jahre hatte die DDR begonnen, die ursprünglich nur provisorische Mauer durch „neue Generationen" von Mauern zu ersetzen und zur „modernen Grenze" auszubauen. Ulbricht, der sich gegen die Entspannungspolitik gesträubt hatte, mußte am 3. Mai 1971 als SED-Chef zurücktreten, und auf ihrem VI 11. Parteitag vom 15. - 19. Juni 1971 kündigte die Partei die bislang stets von ihr vertretene Einheit der deutschen Nation auf. Die Ära Honecker hatte begonnen und mit ihr auch ein neues Selbstverständnis der DDR [45].

Vl. „So schlimm ist sie gar nicht..."



1. Der Mauer den Rücken kehren



Nach dem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin blieb die Mauer das „Symbol der Teilung", an dem sich politische Auseinandersetzungen entzündeten. Für den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl war sie „zum Kennzeichen einer endlosen Kette von Gewaltanwendung und Menschenrechtsverletzungen geworden"; zwar habe die SPD Wandel durch Annäherung versprochen, „aber angenähert haben nur wir uns, und gewandelt hat sich drüben nichts". [46] Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) bezweifelte, daß die Mauer noch zu seinen Lebzeiten fallen werde; daher hätten er und seine Amtsvorgänger versucht, „in die Mauer Türen einzusetzen, die nicht nur von der westlichen Seite, sondern auch von der östlichen Seite benutzt werden können". [47]

Die meisten West-Berliner wandten sich in den siebziger Jahren mehr und mehr von der Mauer ab, sie kehrten ihr, wie der Schriftsteller Wolfgang Paul es formulierte, den Rücken zu. Seit 1973 erhielt die „Arbeitsgemeinschaft 13. August" durch eine „Entscheidung von grundsätzlicher Art" keine amtliche Förderung mehr; ihr bereits geschlossenes „Haus am Checkpoint Charlie" konnte nur mit Hilfe von Spenden wieder eröffnet werden [48]. Nach Auffassung der „Financial Times" hatten sich die Berliner in knapp 16 Jahren so an die Mauer gewöhnt, "daß sie erst von auswärtigen Besuchern dazu angestoßen werden müssen, sich ihrer schlagenden Wirkung zu vergegenwärtigen". Das angesehene Wirtschaftsblatt führte Beispiele auf, wie häuslich sich West-Berliner direkt an der Mauer eingerichtet hatten - mit Gärten, Hundezwingern, Kaninchenställen und Geräteschuppen [49]. In der Tat gab es viele West-Berliner, die das zum DDR-Territorium zählende Niemandsland vor der Mauer für ihre Privatzwecke nutzten: Sie richteten Schrebergärten ein. die sie wie ein kleines Paradies gestalteten, es entstanden Anlagen für Kleintierhaltung und zur Freizeitgestaltung, häufig Schuppen, Holzhäuser und in Einzelfällen sogar Schwimmbecken. Ost-Berliner Behörden protestierten wiederholt gegen die „provisorischen Gebäude im Vorfeld der Mauer" - aber niemand kümmerte sich um diese sogenannten „Kaninchenproteste".

Zwar kommt es gelegentlich auch noch in den achtziger Jahren zu Demonstrationen an und zu Aktionen gegen die Mauer, die in der DDR als „Grenzverletzungen" oder „Grenzprovokationen" bezeichnet und hart bestraft werden. Nicht immer handelt es sich um politische Manifestationen, denn viele Einzelgänger benutzen die Mauer, um ihre privaten Aggressionen abzureagieren. Wer heute noch Grenzschilder übermalt, Steine über die Mauer wirft oder Wachposten als „Mörder" beschimpft, legt damit nicht unbedingt ein politisches Bekenntnis ab.

2. Die Mauer als Attraktion



In den achtziger Jahren entdeckten West-Berliner an der Mauer Vorzüge und Reize, die aus der Sicht der Wochen nach dem 13. August 1961 grotesk erscheinen. So erklärte eine Familie in einem Dokumentarfilm, den das Gesamtdeutsche Institut verleiht: „Durch die Mauer gebe es Vorteile, da die Kinder wunderbar Tischtennis spielen könnten. Kein Nachbar könne einem mehr reingucken, man fühle sich geborgen wie im Atrium. Jedes Fest werde viel attraktiver, weil die Mauer da ist. Wenn Amerikaner zu Besuch kämen, pulten sie manchmal ein Steinchen als Souvenir heraus." [50] Junge Berliner halten die Mauer oft schon für eine Selbstverständlichkeit, vor allem dann, wenn sie nach 1961 geboren sind, und machen sich über sie keine Gedanken mehr. Jogger bezeichnen sie sogar als „dufte", da sie ungestört vom Verkehr und in relativ guter Luft inmitten einer Großstadt laufen können. Wer Maueranwohner befragt, gerät ins Staunen. Mehrheitlich stört lediglich noch das gelegentliche Jaulen oder Bellen der Wachhunde, vor allem nachts, das als Beeinträchtigung der Nachtruhe angesehen wird.

Touristen hatten die Mauer als Attraktion entdeckt - und mit ihnen das Fremdenverkehrsgewerbe. Der alte Werbeslogan „Berlin ist eine Reise wert" schien im nachhinein auch auf die Mauer gemünzt zu sein, denn nirgendwo auf der ganzen Welt wird ähnliches geboten: das längste Bauwerk Europas, etwa 166 km lang, mit fast 300 Wachtürmen, etwa 140 Bunkern, dazu Kfz-Gräben, Kontroll- und Todesstreifen, Peitschenleuchten und Scheinwerferanlagen, Stolperdrähte, Stacheldraht, Spanische Reiter und Panzersperren, nicht zuletzt auch „Bluthunde" mit lebenden Wachposten in Uniform, Feldstecher und Bewaffnung. Wer nach Berlin kommt, muß deshalb die Mauer sehen. Bei den Stadtrundfahrten karren Busse in den späten Vormittagstunden Massen von Touristen an den Potsdamer Platz, wo sie vor den Aussichtsplattformen lange Schlangen bilden. Die Fremdenführer versäumen dabei nicht, auf einen grünen Hügel im Niemandsland hinzuweisen, wo der „Führerbunker" gestanden hatte.

Aber die Mauer bietet mehr als zeitgeschichtlichen Anschauungsunterricht und gruselige Reminiszenzen. Streckenweise präsentiert sie sich als Kunstwerk: bemalt mit Bildern, verziert mit Graffiti und vollgeschrieben mit Spruchweisheiten und Platitüden [51].Vor eindrucksvollen Objekten warten die Touristen geduldig, bis sie zu einem „Schnappschuß" kommen.

Wo sich Touristen drängeln, etablieren sich gewöhnlich auch Händler. Für sie ist die Mauer ein Geschäft, von ihrer Vermarktung können sie gut leben: An Ständen bieten sie Ansichtskarten und Souvenirs feil, z. B. Wimpel, Aschenbecher, Teller, „Freiheitsglöckchen", „Berliner Bären".

Der Journalist Helmut Kopetzky hat in einer Hörfunk-Reihe Besucher interviewt und ihre Eindrücke festgehalten: Ausländische Reisegruppen, die die Mauer zum erstenmal sehen, sind oft „sehr erschüttert" und haben „kein Verständnis" für den Rummel, deutsche Besucher hatten es sich „nicht vorgestellt", daß „hier noch Würstchenbuden stehen und solche Dinge... Es ist schon schlimm genug, daß die Mauer überhaupt da steht!" Was einige „beschämend", „schrecklich" oder „unmöglich" finden, sehen andere toleranter oder gar als „normal" an. Einen Berliner „bedrückt" doch ein „bisschen", daß Teddybären und Ansichtskarten verkauft werden. „Das ist wie'n Ausflug zu den Niagarafällen oder so..." Touristen begrüßen nicht nur, daß die Mauer bemalt worden ist, sondern schlagen sogar vor, sie auf westlicher Seite „freundlicher" zu gestatten, z. B. mit Anlagen. „So, daß es hier wenigstens, hier vorne, etwas hübscher aussieht! Das ist ja nun deprimierend genug, aber hier vorne, also ... daß es etwas freundlicher wird!" Kopetzky kommt zu dem Schluß, daß die Berliner Mauer nach 25 Jahren zur „Normalität des Anormalen" geworden sei. [52]

VII. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis



1. Billy Wilders Mauerfilm „Eins - zwei - drei" (1961)



Der Filmsatiriker Billy Wilder, der seine Karriere in Berlin begonnen hatte, 1933 aber emigrieren mußte, brachte 1961 den Film „Eins – zwei – drei" (One - two - three) heraus - eine Art Mauer-Komödie mit galligem Humor. Wilder machte sich darin über jene Berliner lustig, die noch dem preußischen Untertanengeist huldigen; er zog den bornierten Antikommunismus ebenso durch den Kakao wie den Antikapitalismus, das dümmlich-arrogante Auftreten von Militärs, die Angst vor Spionen u. a. Mit anderen Worten: Wilder nahm alles aufs Korn, was die meisten Deutschen während der Berlin-Krise bitter ernst nahmen.

Als der Film 1961 nach dem Bau der „Schandmauer" anlief, verging den West-Berlinern buchstäblich das Lachen. Er galt als der „scheußlichste Film über diese Stadt". Eine Boulevardzeitung meinte: „Wem das Elend der geteilten Stadt so nah ist, der ist nicht geneigt, darüber Witze zu machen. Aber Billy Wilder findet komisch, was uns das Herz zerreißt...". Der Film verletzte die Gefühle, denn er nahm sie nicht ernst, sondern machte sich über sie lustig. Vor allem West-Berliner empfanden den Film als peinlich, zum Teil verließen sie verärgert das Kino. „Eins - zwei –drei" wurde kein Kassenschlager - anders als viele Produktionen Billy Wilders wie z. B. „Manche mögen's heiß" (1959) oder „Das Mädchen Irma la Douce" (1963). Ein Kinobesitzer, von Kopetzky befragt, meinte dazu: „Die Berliner waren so gedrückt, weil die Mauer gebaut worden ist. Das war ja ein Schlag damals, ein Keulenschlag für uns Berliner grade, daß die Mauer jetzt zu ist, daß keiner mehr rüberkam. Und da waren wir natürlich ablehnend für diesen Film, wir wollten sowas nicht haben.. ." [53]

Daß sich die Einstellungen der West-Berliner zur Mauer von Grund auf geändert hatten, bewies die Aufnahme des Films Mitte der achtziger Jahre: Er lief wochenlang vor ausverkauften Filmtheatern. Aus der Distanz von über 20 Jahren konnten die West-Berliner über jene Mauersatire lachen, die sie früher angewidert hatte. Sie hatten sich zunächst mit der Zweiteilung ihrer Stadt nicht abfinden wollen, schließlich aber doch abfinden müssen und sich sogar in ihrer Lage zurechtgefunden. Nachdem sie vom Geist des Kalten Krieges Abstand gewonnen hatten und Berlin nicht mehr als „Frontstadt" betrachteten, zeigten sie sich fähig, Bespöttelung zu ertragen. Nicht der Film, sondern die Menschen und ihre Einstellungen zur Mauer hatten sich geändert. Eine Kinobesucherin umschrieb diesen Sachverhalt in einem Interview mit folgenden Worten: „Ich find einfach, daß man im Moment den richtigen Abstand hat zu der Situation.... diese totale Schwarzweißmalerei, in der man damals drin gesteckt hat, in der man gelebt hat ... die Amis waren die Guten und die Russen die Bösen ... Man ist irgendwo so weit davon entfernt, man sieht so viel ... mehr Grautöne..., daß man tatsächlich über sowas und über sich selber damals lachen kann..." [54]

2. Einstellungswandel im Schulbereich und Geschichtsdenken



Das Schulbuch stellt das Medium dar, in dem der heranwachsenden Generation das herrschende Geschichtsbild vermittelt wird. Je näher zeitgeschichtliche Vorgänge an die Gegenwart heranrücken, um so mehr ist ihre Bewertung von parteipolitischen Einstellungen abhängig. Dies gilt durchgängig für die deutsche Frage und Berlin-Frage, die in zeitgeschichtlichen Schulbüchern und den Richtlinien der Bundesländer einen wichtigen Stellenwert einnehmen [55].

Nach der Analyse von Marienfeld und Overesch wird der Mauerbau wegen seiner herausragenden Bedeutung in allen zeithistorischen Schulbüchern seit 1962 behandelt. Kennzeichnend ist eine moralisierende Betrachtungsweise, die emotionale Betroffenheit weckt, aber sachliche Information vernachlässigt oder vermissen läßt. Im Vordergrund steht die moralische Entrüstung über die „Schandmauer" und Ulbrichts „KZ".

Diese Tendenz ist in Volksschulbüchern stärker ausgeprägt als in Büchern weiterführender Schulen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Ulbricht, der „während des Krieges Bürger der UdSSR geworden und mit der Roten Armee zurückgekommen war", habe am 13. August 1961 aller Welt sichtbar gemacht, daß „der Bauern- und Arbeiterstaat der Deutschen Demokratischen Republik" in Wirklichkeit ein „riesiges Gefängnis" sei. „Mauer und Stacheldraht sollen den Weg in die Freiheit versperren." Sie bedeuteten eine „unmenschliche Belastung", vor allem für Kinder, Familien und Pfarrgemeinden, aber auch eine „Verletzung der internationalen Verträge über Berlin". „Da aber die Sowjetunion die Kommunisten in der SBZ an der Macht halten will, können unsere westlichen Verbündeten wenig unternehmen. Trotz Mauer, Stacheldraht und Volkspolizei versuchen täglich Menschen aus dem ‚Paradies der Werktätigen’ zu fliehen. Immer wieder büßen Flüchtlinge ihren Willen zur Freiheit mit dem Leben. Die Volkspolizisten haben Befehl, auf jeden ,Republikflüchtigen’ zu schießen. Viele führen diesen Mordauftrag aus, manche schließen sich den Flüchtlingen an." Abschließend werden die Schüler ermahnt, die „SBZ" mit der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen: „Wir leben in Freiheit, wir können an jeden Ferienort fahren, der uns gefällt, wir können unseren Feierabend verbringen, wie wir ihn wünschen - kein Schulungskurs versucht, unsere politische Meinung zuzuschneiden; unsere Zeitungen bringen Berichte und Bilder aus aller Weit. Vielleicht sollten wir öfter darüber nachdenken, was es bedeutet, als freier Bürger zu leben." [56] Abbildungen der „häßlichen Mauer" mit Stacheldraht und Betonpfählen veranschaulichen diese moralisierende Darstellung.

Zwar wird der Zusammenhang zwischen der „Abstimmung mit den Füßen" und dem Mauerbau gesehen, doch bleibt die Frage nach den Folgen der Massenflucht für die DDR-Wirtschaft im allgemeinen ausgeklammert. Es fehlen Hinweise, daß zwischen dem Mauerbau und der Neuorientierung der Deutschland- und Ostpolitik in der Bundesrepublik Deutschland Zusammenhänge bestehen. Auch verschließen sich die Schulbücher der Erkenntnis, daß die Mauer den Status quo gefestigt und damit zugleich die Teilung Deutschlands und Berlins fixiert habe.

Bei den Neuausgaben der Schulbücher in den siebziger Jahren haben sich die Akzente verschoben: An die Stelle moralischer Empörung tritt stärker die politische Betrachtungsweise. Die Texte sind gekürzt und nüchterner und beschränken sich häufig auf die Wiedergabe von Fakten. Polemik gegen die DDR tritt zurück.

Die Zäsur des Mauerbaus erscheint so in neuem Licht. Hatte die Massenflucht „qualifizierter Arbeitskräfte" bislang Anlaß geboten, gegen die „sogenannte DDR" zu polemisieren, so werden nun die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen vorgestellt: „Nach dem Bau der Sperrmauer in Berlin macht die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR bemerkenswerte Fortschritte. Die DDR gehört heute zu den zehn stärksten Industriestaaten der Welt und ist für Moskau der wichtigste Handelspartner. Sie hat auch den höchsten Lebensstandard im Ostblock." Diese Erfolge hätten zu „berechtigtem Stolz auf die eigene Leistung" geführt. „In der DDR hat sich weithin ein eigenes Staatsbewußtsein gebildet." Auch verschließen sich die Schulbücher nicht mehr Erkenntnissen, die in der Ära Adenauer tabu waren und ein neues Geschichtsdenken erforderten: .Nach dem Bau der Berliner Mauer setzte sich auch im Westen langsam die Auffassung durch, daß auf lange Sicht mit der Existenz zweier deutscher Staaten gerechnet werden müsse. Da eine Wiedervereinigung nach den Vorstellungen der fünfziger Jahre nicht möglich war, wurde eine Neubestimmung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zu ihren östlichen Nachbarn, einschließlich der DDR, notwendig. [57] Vergleicht man diese Belege mit Textstellen aus den sechziger Jahren, so werden Einstellungsänderungen deutlich, die sich im Geschichtsdenken vollzogen haben.

3. Fazit



Billy Wilders Film „Eins - zwei - drei" (1961) und die heutigen Reaktionen darauf sowie Neuausgaben der Schulbücher dokumentieren einen Einstellungswandel zur Mauer von den sechziger zu den achtziger Jahren: von der „Schandmauer" bis zur Erkenntnis, daß sie eine Realität sei. Anfangs hatten die Abriegelungsmaßnahmen einen Schock ausgelöst: Schrecken, Angst, Verwirrung, vielfach Empörung. Sie schlugen um in Haß und Wut, denn die Mauer schien unerträglich zu sein: als inkarnierte Unmenschlichkeit, als provozierender Rechtsbruch, als nackter Gewaltakt des „KZ-Regimes" Ulbrichts. Daher durfte es keinen Kompromiß geben: „Die Mauer muß weg!"

Aber die politischen Leidenschaften der Deutschen, vor allem der Berliner, kühlten sich in dem Maße ab, wie sie ihre Ohnmacht erkannten, die Mauer zu beseitigen; denn die Westmächte, insbesondere die USA, ließen es zwar nicht an markigen Worten fehlen, nahmen jedoch die Mauer hin, da sie ihres Erachtens den territorialen Status quo nicht zu ihren Ungunsten verändert hatte. So blieb den Berlinern nichts anderes übrig, als sich mit dem „Schandmal" zu arrangieren, mit dem sie leben mußten. Sie nahmen damit zugleich Abschied von gesamtdeutschen Illusionen.

Im Zeichen des Vier-Mächte-Abkommens entkrampfte sich die Lage allmählich. Die meisten Berliner haben sich seitdem an die Mauer gewöhnt. Viele von ihnen fühlen sich nur noch wenig von ihr gestört, und einige von ihnen leben sogar von ihr und den Touristen, für die die -Mauer eine Attraktion ist, wenn auch eine nach wie vor unheimliche, weil unmenschliche.

25 Jahre Berliner Mauer lehren, daß sich die Zeiten ändern und wir uns mit ihnen: „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis." Aber in Wirklichkeit sind es nicht die Zeiten, die sich ändern, sondern die Menschen selbst, wenn sich die Realitäten nicht ändern lassen. Nicht die Tatsachen haben sich dann geändert, sondern die Wahrnehmungen und Einstellungen der Menschen zu ihnen. Sie schlagen damit eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart und versöhnen so beide miteinander. 25 Jahre hat es gedauert, bis die Westdeutschen, insbesondere die Berliner, den Schock des 13. August 1961 verarbeitet und so die Mauer, obgleich sie fortbestand, dennoch politisch und geistig indirekt überwunden hatten.
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