geboren am 12. Februar 1941
am 23. August 1963 von Flüchtlingen niedergeschlagen
in der Nähe der Massantebrücke
am 8. September 1963 seinen Verletzungen erlegen
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln
Bevor sie begreifen, was ihnen geschieht, werden Siegfried Widera und sein Posten mit Fäusten und einer Eisenstange niedergeschlagen. Dann überwinden die Flüchtlinge die Absperrungen an der Massantebrücke und erreichen, obwohl der Posten T. hinter ihnen her schießt, unverletzt das gegenüberliegende West-Berliner Ufer.Siegfried Widera ist Angehöriger der 5. Kompanie des Grenzregiments 42, das am Teltowkanal im Südosten der Stadt die Grenze zwischen den Stadtbezirken Treptow und Neukölln bewacht. Am Abend des 23. August 1963 steht der 22-jährige Stabsgefreite zusammen mit dem Gefreiten T. an der durch Mauer und Stacheldraht gesperrten Massantebrücke. Am Ost-Berliner Kanalufer sind zu dieser Zeit Ausschachtungen für Abwasserleitungen im Gang, so dass sich dort tagsüber oft Arbeiter aufhalten. Obwohl die Bauarbeiten schon seit dem frühen Abend ruhen, schöpfen Siegfried Widera und sein Posten offenbar keinen Verdacht, als sich gegen 19.00 Uhr drei Männer an einem Bagger zu schaffen machen. Die Männer tragen Arbeitsanzüge und erwecken den Eindruck, als würden sie den Bagger reparieren, wird der Gefreite T. später zu Protokoll geben. [1] Tatsächlich sind sie bei dem volkseigenen Betrieb beschäftigt, der die Grabungsarbeiten durchführt und haben dadurch seit Wochen Zugang zum Grenzgebiet. Diese Gelegenheit wollen sie nutzen, um nach West-Berlin zu flüchten. Sie verwickeln die beiden Grenzer in ein Gespräch und stellen fest, dass diese völlig arglos sind. Dennoch sehen die Flüchtlinge keine andere Chance, als das Postenpaar außer Gefecht zu setzen, um an ihm vorbei über die Brücke in den anderen Teil der Stadt zu gelangen. [2]
Bevor sie begreifen, was ihnen geschieht, werden Siegfried Widera und sein Posten mit Fäusten und einer Eisenstange niedergeschlagen. Dann überwinden die Flüchtlinge die Absperrungen an der Massantebrücke und erreichen, obwohl der Posten T. hinter ihnen her schießt, unverletzt das gegenüberliegende West-Berliner Ufer.
Mit einem raffinierten Trick sei es ihnen gelungen, die Grenzposten zu überlisten, schreibt anderntags die West-Berliner Presse. [3] Dass Siegfried Widera schwere Verletzungen davon getragen hat und in Lebensgefahr schwebt, ist zu diesem Zeitpunkt im Westen nicht bekannt. Er hat einen Schädelbasisbruch erlitten und stirbt zwei Wochen später am 8. September im Städtischen Krankenhaus Köpenick, vermutlich ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. [4]
Unter Berufung auf die Pressestelle des DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung verkündet das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland", die tödlichen Verletzungen seien ihm von „Girrmann-Banditen" zugefügt worden. Diese Anschuldigung bezieht sich auf eine erfolgreiche West-Berliner Fluchthilfegruppe und entbehrt jeder Grundlage. Der DDR-Propaganda liefert sie jedoch einen Vorwand, die Umstände des Geschehens zu kaschieren und Zusammenhänge zu vorangegangenen Gewaltakten gegen Grenzposten zu konstruieren. Die „Hintermänner", so besagt diese Legende, die danach bei allen Gedenkveranstaltungen für Siegfried Widera fortgeschrieben wird, seien dieselben, „die auch Jörgen Schmidtchen, Peter Göring und Reinhold Huhn auf dem Gewissen haben." [5] Der Abschlussbericht der Grenztruppen-Führung verdeutlicht jedoch, dass das Geschehen intern anders bewertet wird. Darin heißt es, Widera und sein Posten hätten befehlswidrig gehandelt, sich allzu vertrauensselig verhalten und auf diese Weise dazu beigetragen, dass sie überwältigt wurden und die Fluchtaktion gelang. [6] Diese Sicht der Dinge wird in den obligatorischen „Auswertungen" auch den Grenzsoldaten der Einheit vermittelt, darüber hinaus fließt sie in den Politunterricht ein, um die Grenzsoldaten zu Disziplin und Wachsamkeit anzuhalten.
Siegfried Widera, 1941 in Schlesien geboren und nach Kriegsende im Mansfelder Land am Rande des Harzes aufgewachsen, wird dennoch zu einem Helden des „sozialistischen Vaterlandes" erhoben. Von Beruf Dreher ist er offiziellen Darstellungen zufolge im Oktober 1960 freiwillig in den Grenzdienst eingetreten. In den „historischen Tagen des 13. August 1961", so geht es in die Annalen der DDR-Grenztruppen ein, sei er „am antifaschistischen Schutzwall in Berlin eingesetzt" gewesen. Stets habe er seine Dienstpflichten mutig und entschlossen erfüllt. [7] Zum Zeitpunkt seines Todes noch Stabsgefreiter, wird er posthum zum Unteroffizier befördert. [8] Erst wenige Wochen vor seinem Tod hat Siegfried Widera geheiratet. Seine Witwe erwartet ein Kind. Während der öffentlichen Trauerfeier auf dem Markplatz der Bergarbeiterstadt Hettstedt wird ihr ein Kondolenzschreiben des Staats- und Parteivorsitzenden Walter Ulbricht überreicht. [9] Mit allen militärischen Ehren findet schließlich im nahe gelegenen Gorenzen, dem Heimatort seiner Ehefrau, die Beerdigung von Siegfried Widera statt.
Nachdem die DDR-Medien ausführlich über die Trauerfeierlichkeiten für den Grenzsoldaten berichtet haben, leiten die westdeutschen Behörden Ermittlungen gegen die Flüchtlinge ein. Diese beteuern, dass es nicht ihre Absicht gewesen sei, Widera Schaden zuzufügen. Einer von ihnen gibt zu Protokoll, sie hätten keineswegs vorgehabt, Gewalt anzuwenden. „Gewalt sollte überhaupt vermieden werden. Möglichst unentdeckt über den Zaun in die Freiheit, das war unsere Devise." [10] Ein anderer betont: „Es ist ein großes Unglück für mich zu hören, dass durch mein Zutun ein junger Mensch gestorben sein soll. (…) Mich bedrückt die ganze Sache sehr und ich werde nicht mit ihr fertig, obwohl ich weiß, dass ich aus einem Notstand heraus gehandelt habe." [11] Da den Flüchtlingen nicht nachgewiesen werden kann, dass sie vorsätzlichen oder gemeinschaftlichen Totschlag begangen haben, werden die Ermittlungen im April 1969 eingestellt. [12]
Nach dem Ende der DDR rollt die Berliner Staatsanwaltschaft den Fall noch einmal auf. Jetzt richten sich die Ermittlungen gegen den ehemaligen Posten T., der seinerzeit, obwohl er eine Gehirnerschütterung erlitt, das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet hat. Da nach Aktenlage davon ausgegangen werden muss, dass er halb bewusstlos war, als er schoss, kommt es auch gegen ihn nicht zur Anklageerhebung. [13]
Text: Christine Brecht
Unter Berufung auf die Pressestelle des DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung verkündet das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland", die tödlichen Verletzungen seien ihm von „Girrmann-Banditen" zugefügt worden. Diese Anschuldigung bezieht sich auf eine erfolgreiche West-Berliner Fluchthilfegruppe und entbehrt jeder Grundlage. Der DDR-Propaganda liefert sie jedoch einen Vorwand, die Umstände des Geschehens zu kaschieren und Zusammenhänge zu vorangegangenen Gewaltakten gegen Grenzposten zu konstruieren. Die „Hintermänner", so besagt diese Legende, die danach bei allen Gedenkveranstaltungen für Siegfried Widera fortgeschrieben wird, seien dieselben, „die auch Jörgen Schmidtchen, Peter Göring und Reinhold Huhn auf dem Gewissen haben." [5] Der Abschlussbericht der Grenztruppen-Führung verdeutlicht jedoch, dass das Geschehen intern anders bewertet wird. Darin heißt es, Widera und sein Posten hätten befehlswidrig gehandelt, sich allzu vertrauensselig verhalten und auf diese Weise dazu beigetragen, dass sie überwältigt wurden und die Fluchtaktion gelang. [6] Diese Sicht der Dinge wird in den obligatorischen „Auswertungen" auch den Grenzsoldaten der Einheit vermittelt, darüber hinaus fließt sie in den Politunterricht ein, um die Grenzsoldaten zu Disziplin und Wachsamkeit anzuhalten.
Siegfried Widera, 1941 in Schlesien geboren und nach Kriegsende im Mansfelder Land am Rande des Harzes aufgewachsen, wird dennoch zu einem Helden des „sozialistischen Vaterlandes" erhoben. Von Beruf Dreher ist er offiziellen Darstellungen zufolge im Oktober 1960 freiwillig in den Grenzdienst eingetreten. In den „historischen Tagen des 13. August 1961", so geht es in die Annalen der DDR-Grenztruppen ein, sei er „am antifaschistischen Schutzwall in Berlin eingesetzt" gewesen. Stets habe er seine Dienstpflichten mutig und entschlossen erfüllt. [7] Zum Zeitpunkt seines Todes noch Stabsgefreiter, wird er posthum zum Unteroffizier befördert. [8] Erst wenige Wochen vor seinem Tod hat Siegfried Widera geheiratet. Seine Witwe erwartet ein Kind. Während der öffentlichen Trauerfeier auf dem Markplatz der Bergarbeiterstadt Hettstedt wird ihr ein Kondolenzschreiben des Staats- und Parteivorsitzenden Walter Ulbricht überreicht. [9] Mit allen militärischen Ehren findet schließlich im nahe gelegenen Gorenzen, dem Heimatort seiner Ehefrau, die Beerdigung von Siegfried Widera statt.
Nachdem die DDR-Medien ausführlich über die Trauerfeierlichkeiten für den Grenzsoldaten berichtet haben, leiten die westdeutschen Behörden Ermittlungen gegen die Flüchtlinge ein. Diese beteuern, dass es nicht ihre Absicht gewesen sei, Widera Schaden zuzufügen. Einer von ihnen gibt zu Protokoll, sie hätten keineswegs vorgehabt, Gewalt anzuwenden. „Gewalt sollte überhaupt vermieden werden. Möglichst unentdeckt über den Zaun in die Freiheit, das war unsere Devise." [10] Ein anderer betont: „Es ist ein großes Unglück für mich zu hören, dass durch mein Zutun ein junger Mensch gestorben sein soll. (…) Mich bedrückt die ganze Sache sehr und ich werde nicht mit ihr fertig, obwohl ich weiß, dass ich aus einem Notstand heraus gehandelt habe." [11] Da den Flüchtlingen nicht nachgewiesen werden kann, dass sie vorsätzlichen oder gemeinschaftlichen Totschlag begangen haben, werden die Ermittlungen im April 1969 eingestellt. [12]
Nach dem Ende der DDR rollt die Berliner Staatsanwaltschaft den Fall noch einmal auf. Jetzt richten sich die Ermittlungen gegen den ehemaligen Posten T., der seinerzeit, obwohl er eine Gehirnerschütterung erlitt, das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet hat. Da nach Aktenlage davon ausgegangen werden muss, dass er halb bewusstlos war, als er schoss, kommt es auch gegen ihn nicht zur Anklageerhebung. [13]
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Abschlußbericht der NVA/4.GB/ Stellvertreter Rückwärtige Dienste des Kommandeurs der 4.GB zum gewaltsamen schweren Grenzdurchbruch im Grenzabschnitt 1 des GR-42, WG Massantebrücke, 24.8.1963, in: BArch, VA-07/6002, Bl. 14-19.
[2]
Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmungen der Flüchtlinge durch die West-Berliner Polizei, 30.8.1963, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 666/92, Bd. 1, Bl. 11-13.
[3]
Vgl. „Flucht im Kugelhagel", BZ, 24.8.1963; „Grenzposten überwältigt und geflohen", Spandauer Volksblatt, 25.8.1963; „Ostberliner Grenzposten niedergeschlagen", Die Welt, 26.8.1963.
[4]
Vgl. Todesanzeige für Siegfried Widera, ausgestellt vom Städtischen Krankenhaus Köpenick, 9.9.1963, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 666/92, Bd. 2, Bl. 8.
[5]
„Unteroffizier Widera von Frontstadtbanditen ermordet", Neues Deutschland, 10.9.1963. Vgl. auch spätere Gedenkartikel, z. B. zum 15. Todestag, in: Junge Welt, 8.9.1978, und zum 40. Geburtstag, in: Neues Deutschland, 13.2.1981.
[6]
Vgl. Abschlußbericht der NVA/4.GB/ Stellvertreter Rückwärtige Dienste des Kommandeurs der 4. GB zum gewaltsamen schweren Grenzdurchbruch im Grenzabschnitt 1 des GR-42, WG Massantebrücke, 24.8.1963, in: BArch, VA-07/6002, Bl. 18.
[7]
„Unvergessen sind, die ermordet wurden an dieser Grenze" (Unteroffizier Siegfried Widera), Festansprache des Mitgliedes des Politbüros des ZK der SED und Minister für Nationale Verteidigung Heinz Hoffmann zum 30. Jahrestag der GT der DDR, in: BArch, GTÜ/AZN 6653, o.Pag.
[8]
Vgl. Chronik der Stadtkommandantur Berlin, 23.8.1962 bis 30.11.1963, in: BArch, VA-07/3133, Bl. 96-97.
[9]
Vgl. die Berichterstattung über die Trauerfeierlichkeiten in Hettstedt und Gorenzen, in: Neues Deutschland, 12.9.1963, sowie in: Die Volksarmee. Wochenzeitung der Nationalen Volksarmee, Nr. 38/1963.
[10]
Niederschrift der Beschuldigten-Vernehmung von einem der Flüchtlinge durch die westdeutsche Polizei in Ludwigshafen, 11.12.1963, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 666/92, Bd. 1, Bl. 42-55, Zitat Bl. 47. Vgl. auch Niederschrift der Beschuldigten-Vernehmung von einem der Flüchtlinge durch die westdeutsche Polizei in Hannover, 14.2.1964, in: Ebd., Bl. 62-70.
[11]
Niederschrift der Beschuldigten-Vernehmung von einem der Flüchtlinge durch die westdeutsche Polizei in Ludwigshafen, 5.5.1963, in: Ebd., Bl. 72-82, Zitat Bl. 81-82.
[12]
Vgl. Verfügung des Oberstaatsanwalts von Frankenthal (9 Js 438/63), 3.4.1969, in: Ebd. Bl. 142-149.
[13]
Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin (27/2 Js 666/92), 21.10.1994, in: Ebd., Bd. 2, Bl. 157-159.