geboren am 3. März 1940
tödlich verunglückt am 8. August 1965
im S-Bahntunnel nördlich des Bahnhofs Bornholmer Straße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Pankow und Berlin-Wedding
Am 8. August 1965 wird der 25-Jährige gegen 23.30 Uhr nördlich des stillgelegten Bahnhofs Bornholmer Straße in einem S-Bahntunnel tot aufgefunden. Durch den im Grenzgebiet gelegenen Tunnel fahren in regelmäßigen Abständen S-Bahnzüge, die zwischen den Bahnhöfen Schönhauser Allee und Pankow verkehren. Alles deutet darauf hin, dass Klaus Kratzel, der sich zuvor reichlich Mut angetrunken hat, beim Versuch, über das Schienengelände in den West-Berliner Bezirk Wedding zu gelangen, von einem Zug erfasst worden ist.„Ich komme nur, wenn ich eine gute Chance habe", schreibt Klaus Kratzel Anfang August 1965 aus Ost-Berlin seinen Schwiegereltern im Westteil der Stadt. [1] Schon in den Wochen zuvor hat er in seinen Briefen angedeutet, dass er nach West-Berlin flüchten will. Damit ihm die DDR-Behörden bei Postkontrollen nicht auf die Spur kommen, vermeidet er zwar das Wort „Flucht" und spricht stattdessen verklausuliert davon, er werde bald die Wohnung wechseln. Doch für seine Angehörigen ist der Sinn dieser Botschaft klar: Klaus Kratzel, der kurz zuvor Frau und Kinder verlassen hat und von West- nach Ost-Berlin gegangen ist, sucht nach einer Möglichkeit, zu seiner Familie zurückzukehren. [2]
Geboren am 3. März 1940 in Berlin wächst Klaus Kratzel mit vier Geschwistern im Ost-Berliner Stadtteil Weißensee auf. Nachdem er die Schule abgeschlossen hat, macht er eine Lehre als Maurer und arbeitet seither in diesem Beruf. Mit 18 Jahren lernt er auf dem Jahrmarkt in Berlin-Stralau seine zukünftige Frau kennen. Nach der Geburt der ersten Tochter findet im April 1961 die Hochzeit statt. Durch den Mauerbau verändert sich das Leben des jungen Ehepaars jedoch schlagartig. Klaus Kratzels Schwiegervater ist Sozialdemokrat. Er fürchtet, das SED-Regime werde nach der endgültigen Absperrung der Grenzen zwischen Ost und West verstärkt gegen politisch Andersdenkende und deren Angehörige vorgehen. Deshalb drängt er zur Flucht. Ihr Hab und Gut zurücklassend, überwinden Klaus Kratzel und seine Frau mit ihrer kleinen Tochter und den Schwiegereltern am 18. August 1961 die Absperrungen nach West-Berlin. [3]
Sie melden sich im Notaufnahmelager Marienfelde und müssen wie Hunderte von DDR-Flüchtlingen, die nach dem Mauerbau nach West-Berlin gelangen, die erste Zeit in verschiedenen Flüchtlingslagern verbringen. [4] Nach einem Jahr voller Entbehrungen finden sie schließlich eine eigene Wohnung. Wenig später kommt die zweite Tochter zur Welt. Klaus Kratzel, so erinnert sich seine Frau, ist ein guter Vater, der sich viel und gern um seine Kinder kümmert. Es fällt ihm jedoch schwer, den Verlockungen der westlichen Konsumwelt zu widerstehen. Im Januar 1965 gerät er zum wiederholten Mal in Zahlungsschwierigkeiten. Als es deswegen zum Streit mit seiner Frau kommt, verlässt er die gemeinsame Wohnung, fährt zum S-Bahnhof Friedrichstraße und beantragt an der Grenzübergangsstelle die Rückkehr in die DDR. Er muss ein Aufnahmelager im Ost-Berliner Stadtteil Blankenfelde durchlaufen und kann anschließend wieder bei seiner Mutter wohnen. [5] Wie aus seinen Briefen an die Schwiegereltern hervorgeht, dauert es jedoch nicht lange, bis Klaus Kratzel seine Entscheidung bereut und das Risiko einer neuerlichen Flucht nach West-Berlin auf sich nehmen will.
Am 8. August 1965 wird der 25-Jährige gegen 23.30 Uhr nördlich des stillgelegten Bahnhofs Bornholmer Straße in einem S-Bahntunnel tot aufgefunden. Durch den im Grenzgebiet gelegenen Tunnel fahren in regelmäßigen Abständen S-Bahnzüge, die zwischen den Bahnhöfen Schönhauser Allee und Pankow verkehren. Alles deutet darauf hin, dass Klaus Kratzel, der sich zuvor reichlich Mut angetrunken hat, beim Versuch, über das Schienengelände in den West-Berliner Bezirk Wedding zu gelangen, von einem Zug erfasst worden ist. [6] Die Frage, wie es ihm gelungen ist, das schwer bewachte Grenzgebiet unbemerkt zu betreten, gibt den DDR-Behörden Rätsel auf. Zwar sind in diesem unübersichtlichen Grenzabschnitt immer wieder Fluchten geglückt. So kam es vor, dass Passagiere während der Fahrt durch das Grenzgebiet die Notbremse zogen und an einer günstigen Stelle aus der S-Bahn sprangen. [7] Im Fall von Klaus Kratzel erbringen die Nachforschungen der DDR-Grenztruppen jedoch keinen Aufschluss hinsichtlich des „Annäherungsweges". Auch Vermutungen, sein Unfall könnte mit der Flucht eines anderen jungen Mannes zusammenhängen, die sich in dieser Nacht im gleichen Grenzabschnitt ereignet hat, bestätigen sich nicht. Fest steht nur, dass Klaus Kratzel auf dem Weg nach West-Berlin verunglückt ist. Im Untersuchungsbericht des zuständigen Regimentskommandeurs heißt es: „Unfallort, Zeit und Umstände rechtfertigen die Annahme, dass der tödlich Verletzte die Staatsgrenze in Richtung Grüntaler Straße (Westberlin) durchbrechen wollte." [8]
Den Angehörigen von Klaus Kratzel werden die Ergebnisse der als Militärgeheimnis eingestuften Grenztruppen-Untersuchungen allerdings vorenthalten. Seine Mutter erfährt lediglich, dass er „auf der Bahn", wie sie nach West-Berlin schreibt, einen tödlichen Unfall erlitten hat. [9] Darüber, wo der Unfall passiert ist, lassen sie die DDR-Behörden im Ungewissen. Auch ihren Wunsch, den toten Sohn, der am 18. August 1965 in Ost-Berlin beerdigt wird, noch einmal sehen zu dürfen, schlagen sie der Mutter ab.
Das undurchsichtige Verhalten der Behörden weckt das Misstrauen der Hinterbliebenen, zumal jeder in der Familie um die Fluchtabsichten des Verstorbenen weiß. So hält sich im Kreis der Familie jahrelang das Gerücht, Klaus Kratzel sei an der Mauer erschossen worden - ein Verdacht, der durch die Öffnung der DDR-Archive und die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft nach 1990 ausgeschlossen werden kann. [10]
Text: Christine Brecht
Geboren am 3. März 1940 in Berlin wächst Klaus Kratzel mit vier Geschwistern im Ost-Berliner Stadtteil Weißensee auf. Nachdem er die Schule abgeschlossen hat, macht er eine Lehre als Maurer und arbeitet seither in diesem Beruf. Mit 18 Jahren lernt er auf dem Jahrmarkt in Berlin-Stralau seine zukünftige Frau kennen. Nach der Geburt der ersten Tochter findet im April 1961 die Hochzeit statt. Durch den Mauerbau verändert sich das Leben des jungen Ehepaars jedoch schlagartig. Klaus Kratzels Schwiegervater ist Sozialdemokrat. Er fürchtet, das SED-Regime werde nach der endgültigen Absperrung der Grenzen zwischen Ost und West verstärkt gegen politisch Andersdenkende und deren Angehörige vorgehen. Deshalb drängt er zur Flucht. Ihr Hab und Gut zurücklassend, überwinden Klaus Kratzel und seine Frau mit ihrer kleinen Tochter und den Schwiegereltern am 18. August 1961 die Absperrungen nach West-Berlin. [3]
Sie melden sich im Notaufnahmelager Marienfelde und müssen wie Hunderte von DDR-Flüchtlingen, die nach dem Mauerbau nach West-Berlin gelangen, die erste Zeit in verschiedenen Flüchtlingslagern verbringen. [4] Nach einem Jahr voller Entbehrungen finden sie schließlich eine eigene Wohnung. Wenig später kommt die zweite Tochter zur Welt. Klaus Kratzel, so erinnert sich seine Frau, ist ein guter Vater, der sich viel und gern um seine Kinder kümmert. Es fällt ihm jedoch schwer, den Verlockungen der westlichen Konsumwelt zu widerstehen. Im Januar 1965 gerät er zum wiederholten Mal in Zahlungsschwierigkeiten. Als es deswegen zum Streit mit seiner Frau kommt, verlässt er die gemeinsame Wohnung, fährt zum S-Bahnhof Friedrichstraße und beantragt an der Grenzübergangsstelle die Rückkehr in die DDR. Er muss ein Aufnahmelager im Ost-Berliner Stadtteil Blankenfelde durchlaufen und kann anschließend wieder bei seiner Mutter wohnen. [5] Wie aus seinen Briefen an die Schwiegereltern hervorgeht, dauert es jedoch nicht lange, bis Klaus Kratzel seine Entscheidung bereut und das Risiko einer neuerlichen Flucht nach West-Berlin auf sich nehmen will.
Am 8. August 1965 wird der 25-Jährige gegen 23.30 Uhr nördlich des stillgelegten Bahnhofs Bornholmer Straße in einem S-Bahntunnel tot aufgefunden. Durch den im Grenzgebiet gelegenen Tunnel fahren in regelmäßigen Abständen S-Bahnzüge, die zwischen den Bahnhöfen Schönhauser Allee und Pankow verkehren. Alles deutet darauf hin, dass Klaus Kratzel, der sich zuvor reichlich Mut angetrunken hat, beim Versuch, über das Schienengelände in den West-Berliner Bezirk Wedding zu gelangen, von einem Zug erfasst worden ist. [6] Die Frage, wie es ihm gelungen ist, das schwer bewachte Grenzgebiet unbemerkt zu betreten, gibt den DDR-Behörden Rätsel auf. Zwar sind in diesem unübersichtlichen Grenzabschnitt immer wieder Fluchten geglückt. So kam es vor, dass Passagiere während der Fahrt durch das Grenzgebiet die Notbremse zogen und an einer günstigen Stelle aus der S-Bahn sprangen. [7] Im Fall von Klaus Kratzel erbringen die Nachforschungen der DDR-Grenztruppen jedoch keinen Aufschluss hinsichtlich des „Annäherungsweges". Auch Vermutungen, sein Unfall könnte mit der Flucht eines anderen jungen Mannes zusammenhängen, die sich in dieser Nacht im gleichen Grenzabschnitt ereignet hat, bestätigen sich nicht. Fest steht nur, dass Klaus Kratzel auf dem Weg nach West-Berlin verunglückt ist. Im Untersuchungsbericht des zuständigen Regimentskommandeurs heißt es: „Unfallort, Zeit und Umstände rechtfertigen die Annahme, dass der tödlich Verletzte die Staatsgrenze in Richtung Grüntaler Straße (Westberlin) durchbrechen wollte." [8]
Den Angehörigen von Klaus Kratzel werden die Ergebnisse der als Militärgeheimnis eingestuften Grenztruppen-Untersuchungen allerdings vorenthalten. Seine Mutter erfährt lediglich, dass er „auf der Bahn", wie sie nach West-Berlin schreibt, einen tödlichen Unfall erlitten hat. [9] Darüber, wo der Unfall passiert ist, lassen sie die DDR-Behörden im Ungewissen. Auch ihren Wunsch, den toten Sohn, der am 18. August 1965 in Ost-Berlin beerdigt wird, noch einmal sehen zu dürfen, schlagen sie der Mutter ab.
Das undurchsichtige Verhalten der Behörden weckt das Misstrauen der Hinterbliebenen, zumal jeder in der Familie um die Fluchtabsichten des Verstorbenen weiß. So hält sich im Kreis der Familie jahrelang das Gerücht, Klaus Kratzel sei an der Mauer erschossen worden - ein Verdacht, der durch die Öffnung der DDR-Archive und die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft nach 1990 ausgeschlossen werden kann. [10]
Text: Christine Brecht
[1]
Handschriftlicher Brief von Klaus Kratzel, o.D.[August 1965], in: StA Berlin, Az. 27 Js 197/91, Bl. 49.
[2]
Vgl. Schreiben des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen an den Polizeipräsidenten von Berlin betr. Sowjetzonales Gewaltverbrechen an der Sektorengrenze, 24.8.1965, in: Ebd., Bl. 45.
[3]
Vgl. Gespräch von Christine Brecht mit Renate D., der damaligen Ehefrau von Klaus Kratzel, 19.6.2007.
[4]
Vgl. Katja Augustin, Im Vorzimmer des Westens. Das Notaufnahmelager Marienfelde, in: Bettina Effner/Helge Heidemeyer (Hg.), Flucht im geteilten Deutschland, Berlin 2005, S. 135-151.
[5]
Vgl. Gespräch von Christine Brecht mit Renate D., der damaligen Ehefrau von Klaus Kratzel, am 19.6.2007.
[6]
Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin (27/2 Js 197/91), 25.11.1993, in: StA Berlin, Az. 27 Js 197/91, Bl. 104.
[7]
Auf diese Weise ist auf der S-Bahn-Strecke Pankow-Schönhauser Allee im Jahr 1964 mindestens eine Flucht geglückt. Vgl. Analyse der NVA/Stadtkommandantur Berlin/Operative Abt. über Grenzdurchbrüche im Zeitraum 1.1.–1.12.1964 und 1.1.–31.8.1965, 2.9.1965, in: BArch, VA-07/6004, Bl. 134-148, hier Bl. 137.
[8]
Bericht der NVA/Grenzregiment 31/Kommandeur zum Grenzdurchbruch im Abschnitt der 4. GK/GR-31 am 8.8.65, gegen 23.50 Uhr durch eine männliche Person, 12.8.1965, in: BArch, VA-07/16934, Bl. 76-82, Zitat Bl. 80.
[9]
Vgl. Handschriftlicher Brief der Mutter von Klaus Kratzel, 12.8.1965, in: StA Berlin, Az. 27 Js 197/91, Bl. 50-53.
[10]
Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin (27/2 Js 197/91), 25.11.1993, in: Ebd., Bl. 104-105.