geboren am 23. Oktober 1946
angeschossen am 9. Juni 1965
auf dem Gelände des Nordbahnhofs in Höhe der Feldstraße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Wedding
am 11. Januar 1966 seinen Verletzungen erlegen
Bei seinem Fluchtversuch löst der 18-Jährige gegen 21.00 Uhr im Einsatzbereich des Grenzregiments 33 ein Signalgerät aus. Dadurch wird ein Unteroffizier der DDR-Grenztruppen, der die im betreffenden Postenbereich eingesetzten Grenzsoldaten kontrolliert, aufmerksam. Als der Jugendliche trotz Aufforderung und Warnschuss nicht stehen bleibt, eröffnet der Unteroffizier das Feuer. Wenige Meter vom letzten Hindernis entfernt bricht Dieter Brandes zusammen.Dieter Brandes wird am 23. Oktober 1946 in Frankfurt an der Oder geboren und wächst in der DDR auf. Seine Kindheit und Jugend gleichen einer Odyssee durch staatliche Erziehungsanstalten. Die ersten 16 Jahre seines Lebens verbringt er in Kinderheimen. [1] Dann wird er in einem Jugendwohnheim in Bad Freienwalde untergebracht. Im Alter von 17 Jahren soll er im Juni 1964 einen Fluchtversuch unternommen haben, der scheitert. Zur Strafe wird er in einen Jugendwerkhof im thüringischen Sömmerda eingewiesen, eine Einrichtung, in der unangepasste und straffällig gewordene Jugendliche im Sinne des sozialistischen Staates umerzogen werden sollen. [2] Ende 1964 entlassen, zieht er nun zu Vater und Stiefmutter nach Frankfurt an der Oder und nimmt eine Arbeit als ungelernter Betonbauer auf. Als er am 9. Juni 1965 nicht mehr nach Hause kommt, vermuten seine Eltern, dass er erneut versucht hat, in den Westen zu gelangen. Sie gehen Stasi-Akten zufolge davon aus, dass er wie schon im Jahr zuvor, zu seiner leiblichen Mutter nach Hamburg will, mit der er in Briefkontakt stehen soll. [3]
Tatsächlich ist Dieter Brandes im Laufe dieses Junitages nach Ost-Berlin gefahren. Am Abend wird er im Stadtbezirk Mitte auf dem Gelände des Nordbahnhofs beim Versuch, die Sperranlagen zu überwinden, von DDR-Grenzsoldaten entdeckt. Es folgt, wie es in der Sprache der DDR-Grenztruppen heißt, die „Verhinderung eines Grenzdurchbruchs durch Anwendung der Schusswaffe", die den beteiligten Soldaten und ihren Vorgesetzten Auszeichnungen einbringt. [4] Dieter Brandes trägt dabei eine schwere Schussverletzung davon, an deren Folgen er nach sechsmonatiger Leidenszeit im Januar 1966 in einem Ost-Berliner Krankenhaus stirbt. Bei seinem Fluchtversuch löst der 18-Jährige gegen 21.00 Uhr im Einsatzbereich des Grenzregiments 33 ein Signalgerät aus. Dadurch wird ein Unteroffizier der DDR-Grenztruppen, der die im betreffenden Postenbereich eingesetzten Grenzsoldaten kontrolliert, aufmerksam. Als der Jugendliche trotz Aufforderung und Warnschuss nicht stehen bleibt, eröffnet der Unteroffizier das Feuer. Wenige Meter vom letzten Hindernis entfernt bricht Dieter Brandes zusammen. [5] Durch die Schüsse aufgeschreckt, beobachten West-Berliner Anwohner von ihren Fenstern und Balkonen in der angrenzenden Ernst-Reuter-Siedlung den Abtransport des Schwerverletzten und bezeugen, dass seine Arme und Beine leblos herabhängen, als er von Grenzsoldaten weggetragen wird. [6] Die West-Berliner Polizei zieht daraus den Schluss, dass der Fluchtversuch eines jungen Mannes vereitelt wurde, der „zumindest verletzt, wenn nicht sogar erschossen worden ist." [7]
Am kommenden Tag berichtet auch die Presse über die gescheiterte Flucht. [8] Am Abend wird an der angrenzenden Gartenstraße ein Holzkreuz aufgestellt. [9] Von Amts wegen erstattet der Polizeipräsident von Berlin wegen des Verdachts des Totschlags Anzeige gegen unbekannte Angehörige des Grenzregiments 33. Auch in der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter wird der Vorfall registriert. [10] Auf dieser Grundlage nimmt die Berliner Staatsanwaltschaft im Oktober 1990 erneut Nachforschungen auf. Da der Täter auch nach Öffnung der DDR-Archive nicht ermittelt werden kann, stellt sie das Verfahren am 29. Mai 1996 ein. [11]
Anders als West-Berliner Beobachter vermuten, ist Dieter Brandes nicht sofort tot. Eine Kugel hat seinen Brustkorb zertrümmert und seine Lunge schwer verletzt. Als er nach der operativen Versorgung der Wunde im Volkspolizei-Krankenhaus wieder zu sich kommt, stellt sich heraus, dass er querschnittsgelähmt ist. [12] Am 12. Juni wird er vom VP-Krankenhaus, in das verletzte Mauerflüchtlinge aus Gründen der Geheimhaltung zumeist eingeliefert werden, in das Städtische Klinikum Berlin-Buch verlegt, ohne sich in der folgenden Zeit zu erholen. So heißt es in einem ärztlichen Gutachten vom 31. August: „Oft ist der Pat.(ient) psychisch stark verändert im Sinne einer Apathie gegenüber der durchgeführten Behandlung und seiner Zukunft. Aus diesem Grund ist der Pat.(ient) nicht in der Lage z. Zt. und auch weiterhin zu Aussprachen mit den Vertretern der VP herangezogen zu werden. In diesem Zustand ist eine Haftfähigkeit in den kommenden 6 Monaten, falls der Pat.(ient) noch lebt, nicht gegeben." [13] Nachdem die behandelnden Ärzte mehrfach bestätigen, dass er weder transport- noch vernehmungsfähig ist, werden routinemäßig eingeleitete Ermittlungen wegen „versuchten illegalen Verlassens" der DDR am 5. Oktober 1965 eingestellt. [14] Schließlich verschlimmert sich sein Zustand so sehr, dass Dieter Brandes am 11. Januar 1966 einem Kreislaufversagen erliegt. [15]
Ein bezeichnendes Licht auf das Vorgehen der Stasi wirft ein Aktenvermerk, der zwei Wochen nach seinem Tod entstanden ist. Demnach hatte das Krankenhauspersonal auf der Station für den jugendlichen Patienten gesammelt und ihm ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, „dass Brandes als ‚armes Opfer’ betrachtet wurde", setzt der zuständige Stasi-Leutnant alles daran, den Jugendlichen, wie er schreibt „als kriminelles und asoziales Element" hinzustellen und behauptet sogar, „dass Brandes bei seinem versuchten Grenzdurchbruch Gewalt anwendete und Grenzsoldaten verletzte." [16] Ob das Krankenhauspersonal diesen Verleumdungen Glauben schenkte, ist nicht bekannt.
Der Vater von Dieter Brandes wird, wie Akten der DDR-Justizbehörden zeigen, darüber informiert, dass sein Sohn bei seinem Fluchtversuch schwere Schussverletzungen erlitten hat. [17] Er kann ihn auch im Krankenhaus besuchen. Nach dem Tod seines Sohnes verzichtet der Vater in einer unter dem Druck der Stasi unterschriebenen Erklärung darauf, die Urne an seinen Wohnort überführen zu lassen. Auf Betreiben des MfS werden die sterblichen Überreste von Dieter Brandes in einem Reihengrab auf dem Friedhof Baumschulenweg anonym bestattet. [18]
Text: Christine Brecht
Tatsächlich ist Dieter Brandes im Laufe dieses Junitages nach Ost-Berlin gefahren. Am Abend wird er im Stadtbezirk Mitte auf dem Gelände des Nordbahnhofs beim Versuch, die Sperranlagen zu überwinden, von DDR-Grenzsoldaten entdeckt. Es folgt, wie es in der Sprache der DDR-Grenztruppen heißt, die „Verhinderung eines Grenzdurchbruchs durch Anwendung der Schusswaffe", die den beteiligten Soldaten und ihren Vorgesetzten Auszeichnungen einbringt. [4] Dieter Brandes trägt dabei eine schwere Schussverletzung davon, an deren Folgen er nach sechsmonatiger Leidenszeit im Januar 1966 in einem Ost-Berliner Krankenhaus stirbt. Bei seinem Fluchtversuch löst der 18-Jährige gegen 21.00 Uhr im Einsatzbereich des Grenzregiments 33 ein Signalgerät aus. Dadurch wird ein Unteroffizier der DDR-Grenztruppen, der die im betreffenden Postenbereich eingesetzten Grenzsoldaten kontrolliert, aufmerksam. Als der Jugendliche trotz Aufforderung und Warnschuss nicht stehen bleibt, eröffnet der Unteroffizier das Feuer. Wenige Meter vom letzten Hindernis entfernt bricht Dieter Brandes zusammen. [5] Durch die Schüsse aufgeschreckt, beobachten West-Berliner Anwohner von ihren Fenstern und Balkonen in der angrenzenden Ernst-Reuter-Siedlung den Abtransport des Schwerverletzten und bezeugen, dass seine Arme und Beine leblos herabhängen, als er von Grenzsoldaten weggetragen wird. [6] Die West-Berliner Polizei zieht daraus den Schluss, dass der Fluchtversuch eines jungen Mannes vereitelt wurde, der „zumindest verletzt, wenn nicht sogar erschossen worden ist." [7]
Am kommenden Tag berichtet auch die Presse über die gescheiterte Flucht. [8] Am Abend wird an der angrenzenden Gartenstraße ein Holzkreuz aufgestellt. [9] Von Amts wegen erstattet der Polizeipräsident von Berlin wegen des Verdachts des Totschlags Anzeige gegen unbekannte Angehörige des Grenzregiments 33. Auch in der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter wird der Vorfall registriert. [10] Auf dieser Grundlage nimmt die Berliner Staatsanwaltschaft im Oktober 1990 erneut Nachforschungen auf. Da der Täter auch nach Öffnung der DDR-Archive nicht ermittelt werden kann, stellt sie das Verfahren am 29. Mai 1996 ein. [11]
Anders als West-Berliner Beobachter vermuten, ist Dieter Brandes nicht sofort tot. Eine Kugel hat seinen Brustkorb zertrümmert und seine Lunge schwer verletzt. Als er nach der operativen Versorgung der Wunde im Volkspolizei-Krankenhaus wieder zu sich kommt, stellt sich heraus, dass er querschnittsgelähmt ist. [12] Am 12. Juni wird er vom VP-Krankenhaus, in das verletzte Mauerflüchtlinge aus Gründen der Geheimhaltung zumeist eingeliefert werden, in das Städtische Klinikum Berlin-Buch verlegt, ohne sich in der folgenden Zeit zu erholen. So heißt es in einem ärztlichen Gutachten vom 31. August: „Oft ist der Pat.(ient) psychisch stark verändert im Sinne einer Apathie gegenüber der durchgeführten Behandlung und seiner Zukunft. Aus diesem Grund ist der Pat.(ient) nicht in der Lage z. Zt. und auch weiterhin zu Aussprachen mit den Vertretern der VP herangezogen zu werden. In diesem Zustand ist eine Haftfähigkeit in den kommenden 6 Monaten, falls der Pat.(ient) noch lebt, nicht gegeben." [13] Nachdem die behandelnden Ärzte mehrfach bestätigen, dass er weder transport- noch vernehmungsfähig ist, werden routinemäßig eingeleitete Ermittlungen wegen „versuchten illegalen Verlassens" der DDR am 5. Oktober 1965 eingestellt. [14] Schließlich verschlimmert sich sein Zustand so sehr, dass Dieter Brandes am 11. Januar 1966 einem Kreislaufversagen erliegt. [15]
Ein bezeichnendes Licht auf das Vorgehen der Stasi wirft ein Aktenvermerk, der zwei Wochen nach seinem Tod entstanden ist. Demnach hatte das Krankenhauspersonal auf der Station für den jugendlichen Patienten gesammelt und ihm ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, „dass Brandes als ‚armes Opfer’ betrachtet wurde", setzt der zuständige Stasi-Leutnant alles daran, den Jugendlichen, wie er schreibt „als kriminelles und asoziales Element" hinzustellen und behauptet sogar, „dass Brandes bei seinem versuchten Grenzdurchbruch Gewalt anwendete und Grenzsoldaten verletzte." [16] Ob das Krankenhauspersonal diesen Verleumdungen Glauben schenkte, ist nicht bekannt.
Der Vater von Dieter Brandes wird, wie Akten der DDR-Justizbehörden zeigen, darüber informiert, dass sein Sohn bei seinem Fluchtversuch schwere Schussverletzungen erlitten hat. [17] Er kann ihn auch im Krankenhaus besuchen. Nach dem Tod seines Sohnes verzichtet der Vater in einer unter dem Druck der Stasi unterschriebenen Erklärung darauf, die Urne an seinen Wohnort überführen zu lassen. Auf Betreiben des MfS werden die sterblichen Überreste von Dieter Brandes in einem Reihengrab auf dem Friedhof Baumschulenweg anonym bestattet. [18]
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Sachstandsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 31.8.1965, in: BStU, MfS, Ast. Berlin, AP 3198/66, Bd. 1, Ermittlungsverfahren, Bl. 28-30, sowie Schreiben [des MfS] an den Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin, 30.9.1965, in: Ebd., Bl. 61-63.
[2]
Vgl. Verena Zimmermann, Den neuen Menschen schaffen. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945-1990), Köln 2004.
[3]
Vgl. Sachstandsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 31.8.1965, in: BStU, MfS, Ast. Berlin, AP 3198/66, Bd. 1, Ermittlungsverfahren, Bl. 28-30.
[4]
Bericht der NVA/Stadtkommandant Poppe an Erich Honecker betr. Verhinderung eines Grenzdurchbruchs durch Anwendung der Schußwaffe, 10.6.1965, in: BArch, VA-07/8372, Bl. 28-29.
[5]
Vgl. Bericht des MfS/HA I/Abwehr B/UA 1.GB/Operativgruppe GR 33 über Verhinderung eines Grenzdurchbruches mit Anwendung der Schusswaffe, 9.6.1965, in: BStU, MfS, Ast. Berlin, AP 3198/66, Bd. 1, Ermittlungsverfahren, Bl. 6-8.
[6]
Vgl. Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding betr. vereitelte Flucht aus SBS, 10.6.1965, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o.Pag.
[7]
Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei betr. vermutlicher Totschlag zum Nachteil einer unbekannten männlichen Person, 10.6.1965, in: Ebd.
[8]
Vgl. „Flüchtling erschossen!", BZ, 10.9.1965; „Wieder ein Flüchtling niedergeschossen", Der Tagesspiegel, 11.9.1965.
[9]
„Zeichen für Flüchtlingsschicksal", Die Welt, 12.6.1965. Vgl. auch Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding betr. Aufstellung eines Gedenkkreuzes in der Gartenstraße, 15.6.1965, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o.Pag.
[10]
Vgl. Strafanzeige des West-Berliner Polizeipräsidenten in Berlin wegen Verdacht des Totschlags gegen Unbekannte Angehörige der 1.GB/33 Grenzregiment der NVA Grenztruppen, 9.6.1965, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 95/90, Bd. 1, Bl. 59. Verfügung der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter (IAR-ZE 698/65), 20.12.1967, in: Ebd., Bl. 110.
[11]
Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Kammergericht Berlin (27/2 Js 95/90), 29.5.1996, in: Ebd., Bd. 3, Bl. 157-158.
[12]
Vgl. Schlußbericht der ZERV (27/2 Js 95/90), 3.1.1995, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 95/90, Bd. 2, Bl. 387.
[13]
Ärztliche Bescheinigung des Städtischen Klinikums Berlin-Buch, 31.8.1965, in: BStU, ASt. Berlin, AP 3198/66, Gerichtsakte, Bl. 52-53.
[14]
Vgl. Einlieferungsanzeige des MfS, 10.6.1965, in: Ebd., Bl. 4, sowie [MfS-]Vermerk, 5.10.1965, in: Ebd., Bl. 8.
[15]
Vgl. Schlußbericht der ZERV (2772 Js 95/90), 3.1.1995, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 95/90, Bd. 2, Bl. 387.
[16]
Aktenvermerk [des MfS]/Abt. IX zur Leichensache Dieter Brandes, 28.1.1966, in: BStU, ASt. Berlin, AP 3198/66, Bd. 1, Gerichtsakte, Bl. 124.
[17]
Vgl. Aktenvermerk des Generalstaatsanwalts von Groß-Berlin/Abt. IA, 28.9.1965, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 95/90, Bd. 1, Bl. 20.
[18]
Vgl. BStU, MfS, AS 754/70, Bd. XI, Nr. 3, Bl. 121; Rechnung des Städtischen Bestattungswesen, 21.1.1966, in: Ebd., Bl. 120, sowie Abschlußvermerk [des MfS] zur Leichensache Dieter Brandes, 29.1.1966, in: BStU, ASt. Berlin, AP 3198/66, Gerichtsakte, Bl. 125.