geboren am 2. Dezember 1921
erschossen am 4. September 1962
auf dem Sophien-Friedhof, Bernauer Straße/Ecke Bergstraße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Wedding
Am Nachmittag des 4. September 1962 knallen zwei Schüsse in die Stille des Friedhofs. Tödlich getroffen stürzt ein Mann von der Friedhofsmauer zwischen die Gräber. Auf der anderen Seite der Bernauer Straße reißen West-Berliner Anwohner ihre Fenster auf und sehen, wie ein lebloser Körper von Grenzsoldaten auf einer Tragbahre abtransportiert wird.Der Friedhof der Ost-Berliner Sophien-Gemeinde grenzt an die Bernauer Straße, die zum Westteil der Stadt gehört. Seit dem Mauerbau ist der Zugang zu diesem Gelände stark eingeschränkt. Grenzposten patrouillieren zwischen den Gräberreihen und kontrollieren die Friedhofsbesucher. Am Nachmittag des 4. September 1962 knallen zwei Schüsse in die Stille des Friedhofs. Tödlich getroffen stürzt ein Mann von der Friedhofsmauer zwischen die Gräber. [1] Auf der anderen Seite der Bernauer Straße reißen West-Berliner Anwohner ihre Fenster auf und sehen, wie ein lebloser Körper von Grenzsoldaten auf einer Tragbahre abtransportiert wird. Vielen Augenzeugen bleibt der Flüchtling als „Mann mit der Mütze" in Erinnerung. [2] Denn seine Mütze fliegt in hohem Bogen auf die Westseite der Mauer. Sie weist, wie kriminaltechnische Untersuchungen ergeben, Spuren eines Kopfdurchschusses auf. [3]
Ernst Mundt ist 40 Jahre alt, als er bei seinem Fluchtversuch erschossen wird. Geboren am 2. Dezember 1921 im hinterpommerschen Bad Polzin, zieht der Zimmermann 1950 auf der Suche nach Beschäftigung von Falkensee nach Ost-Berlin. Er arbeitet am Bau des Friesenstadions mit, einem sozialistischen Prestigeprojekt, das innerhalb kürzester Zeit an der damaligen Dimitroffstraße errichtet und 1951 eingeweiht wird. Später muss er seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Der Mauerbau trennt den allein stehenden Mann, der zuletzt eine Invalidenrente bezieht und in einer Einzimmer-Wohnung am Prenzlauer Berg lebt, von seinen Familienangehörigen im Westteil der Stadt. Da gegenseitige Besuche nicht mehr möglich sind, hält seine Mutter den Kontakt per Post aufrecht und schickt ihm regelmäßig Päckchen mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Dass ihr Sohn vorhat, nach West-Berlin zu flüchten, und was ihn dazu veranlasst, weiß sie nicht. Auch den DDR-Behörden bleiben seine Motive verborgen. Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die Nachbarn von Ernst Mundt ausfragen, erfahren lediglich, dass er die Abriegelung der Sektorengrenze offen kritisiert haben soll. [4]
Den Weg von seiner Wohnung zum Sophien-Friedhof legt Ernst Mundt am Nachmittag des 4. September 1962 mit dem Fahrrad zurück. An der Bergstraße, wo Stacheldraht die Fahrbahn versperrt, lässt er das Rad stehen. Er klettert auf die mit Glasscherben bewehrte Friedhofsmauer und läuft auf der Mauerkrone in Richtung Sektorengrenze. Als Friedhofsbesucher und Grenzposten ihn auffordern herunterzukommen, soll er Augenzeugenberichten zufolge erwidert haben: „Ich komme nicht runter, ich bin im Dienst." [5] Er hat die Grenze schon fast erreicht, da werden zwei Trapo-Angehörige, die ungefähr hundert Meter entfernt auf dem Gelände des Nordbahnhofs postiert sind, auf den Fluchtversuch aufmerksam. Einer von ihnen feuert kurz hintereinander einen Warn- und einen Zielschuss ab. Ernst Mundt wird am Kopf getroffen und ist auf der Stelle tot. Als sich der Schütze 30 Jahre später vor Gericht verantworten muss, wird er zu seiner Rechtfertigung sagen, er habe nur einen Befehl ausgeführt. [6]
Von der Grenztruppenführung wird der Todesschütze umgehend in seinem Handeln bestätigt. Der Ost-Berliner Stadtkommandant Poppe zeichnet ihn noch am selben Tag mit einer Geldprämie und der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst" aus. Und der Kommandeur der 1. Grenzbrigade kommt in seinem Untersuchungsbericht zu dem Schluss, dass der Unteroffizier M. „ausgezeichnet seine Waffe beherrscht und diese meisterhaft zur Anwendung brachte." [7] Auch der schnelle Abtransport des Toten wird als militärischer Erfolg gewertet. Es sei den beteiligten Grenzposten gelungen, „den verletzten Verbrecher", wie es im Jargon der Grenztruppenführung über das Todesopfer heißt, „vor Eintreffen der Westberliner Polizei, Presse und Kameraleute zu bergen." [8] Damit hätten sie die richtigen Konsequenzen aus dem Befehl 56/62 gezogen, der eine Reaktion auf den Tod von Peter Fechter vierzehn Tage zuvor ist. Dieser Befehl zielt darauf, Flüchtlinge, die an der Mauer erschossen oder verletzt werden, schnellstmöglich den Blicken der westlichen Öffentlichkeit zu entziehen.
Den West-Berliner Angehörigen von Ernst Mundt gelingt es nur unter großen Schwierigkeiten in Erfahrung zu bringen, was passiert ist. Anfragen der Mutter lassen die DDR-Behörden unbeantwortet. Private Nachforschungen von Ost-Berliner Verwandten bestätigen jedoch ihren Verdacht, er könnte der erschossene Flüchtling sein. Um endgültig Aufschluss zu erlangen, kommt Anfang November ihr jüngerer Sohn von Krefeld nach Berlin. [9] Als Westdeutscher kann er – anders als die Mutter – nach Ost-Berlin einreisen. Sein unerwarteter Besuch bringt die DDR-Behörden, wie Stasi-Akten zeigen, in Bedrängnis. Da er sich nicht abweisen lässt, teilt ihm ein Ost-Berliner Staatsanwalt schließlich lapidar mit, sein Bruder sei „bei einer Grenzprovokation" verletzt worden und an den Folgen dieser Verletzung verstorben. [10] Als Grabstätte wird den Hinterbliebenen eine Urnenstelle auf dem Friedhof Baumschulenweg genannt. Die Einäscherung und die anonyme Bestattung hatte das MfS bereits veranlasst. [11]
Ernst Mundt ist innerhalb von zwei Wochen der dritte Flüchtling, der an der Berliner Mauer erschossen wird. In West-Berlin wachsen angesichts dieser dichten Folge tödlicher Zwischenfälle Wut und Empörung. So muss die Polizei an der Gartenstraße eine Gruppe wütender Demonstranten zerstreuen, die einem Bericht zufolge, "eine drohende Haltung gegen die in Sektorengrenznähe eingesetzten Grepo und Trapo einnahmen." [12] Aber auch Zeichen öffentlicher Trauer und Anteilnahme am Schicksal des Toten sind unübersehbar. An der Bernauer Straße/Ecke Bergstraße wird ein Kreuz errichtet und von Passanten mit Blumen und Kränzen geschmückt. [13] Ein halbes Jahr später ersetzt das Bezirksamt Wedding das Kreuz durch ein Mahnmal aus Rundhölzern und Stacheldraht. Bis heute markiert eine Gehwegplatte mit der Inschrift: „Dem unbekannten Opfer der Schandmauer †4.9.1962" die Stelle, an der Ernst Mundt ums Leben kam.
Text: Christine Brecht
Ernst Mundt ist 40 Jahre alt, als er bei seinem Fluchtversuch erschossen wird. Geboren am 2. Dezember 1921 im hinterpommerschen Bad Polzin, zieht der Zimmermann 1950 auf der Suche nach Beschäftigung von Falkensee nach Ost-Berlin. Er arbeitet am Bau des Friesenstadions mit, einem sozialistischen Prestigeprojekt, das innerhalb kürzester Zeit an der damaligen Dimitroffstraße errichtet und 1951 eingeweiht wird. Später muss er seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Der Mauerbau trennt den allein stehenden Mann, der zuletzt eine Invalidenrente bezieht und in einer Einzimmer-Wohnung am Prenzlauer Berg lebt, von seinen Familienangehörigen im Westteil der Stadt. Da gegenseitige Besuche nicht mehr möglich sind, hält seine Mutter den Kontakt per Post aufrecht und schickt ihm regelmäßig Päckchen mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Dass ihr Sohn vorhat, nach West-Berlin zu flüchten, und was ihn dazu veranlasst, weiß sie nicht. Auch den DDR-Behörden bleiben seine Motive verborgen. Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die Nachbarn von Ernst Mundt ausfragen, erfahren lediglich, dass er die Abriegelung der Sektorengrenze offen kritisiert haben soll. [4]
Den Weg von seiner Wohnung zum Sophien-Friedhof legt Ernst Mundt am Nachmittag des 4. September 1962 mit dem Fahrrad zurück. An der Bergstraße, wo Stacheldraht die Fahrbahn versperrt, lässt er das Rad stehen. Er klettert auf die mit Glasscherben bewehrte Friedhofsmauer und läuft auf der Mauerkrone in Richtung Sektorengrenze. Als Friedhofsbesucher und Grenzposten ihn auffordern herunterzukommen, soll er Augenzeugenberichten zufolge erwidert haben: „Ich komme nicht runter, ich bin im Dienst." [5] Er hat die Grenze schon fast erreicht, da werden zwei Trapo-Angehörige, die ungefähr hundert Meter entfernt auf dem Gelände des Nordbahnhofs postiert sind, auf den Fluchtversuch aufmerksam. Einer von ihnen feuert kurz hintereinander einen Warn- und einen Zielschuss ab. Ernst Mundt wird am Kopf getroffen und ist auf der Stelle tot. Als sich der Schütze 30 Jahre später vor Gericht verantworten muss, wird er zu seiner Rechtfertigung sagen, er habe nur einen Befehl ausgeführt. [6]
Von der Grenztruppenführung wird der Todesschütze umgehend in seinem Handeln bestätigt. Der Ost-Berliner Stadtkommandant Poppe zeichnet ihn noch am selben Tag mit einer Geldprämie und der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst" aus. Und der Kommandeur der 1. Grenzbrigade kommt in seinem Untersuchungsbericht zu dem Schluss, dass der Unteroffizier M. „ausgezeichnet seine Waffe beherrscht und diese meisterhaft zur Anwendung brachte." [7] Auch der schnelle Abtransport des Toten wird als militärischer Erfolg gewertet. Es sei den beteiligten Grenzposten gelungen, „den verletzten Verbrecher", wie es im Jargon der Grenztruppenführung über das Todesopfer heißt, „vor Eintreffen der Westberliner Polizei, Presse und Kameraleute zu bergen." [8] Damit hätten sie die richtigen Konsequenzen aus dem Befehl 56/62 gezogen, der eine Reaktion auf den Tod von Peter Fechter vierzehn Tage zuvor ist. Dieser Befehl zielt darauf, Flüchtlinge, die an der Mauer erschossen oder verletzt werden, schnellstmöglich den Blicken der westlichen Öffentlichkeit zu entziehen.
Den West-Berliner Angehörigen von Ernst Mundt gelingt es nur unter großen Schwierigkeiten in Erfahrung zu bringen, was passiert ist. Anfragen der Mutter lassen die DDR-Behörden unbeantwortet. Private Nachforschungen von Ost-Berliner Verwandten bestätigen jedoch ihren Verdacht, er könnte der erschossene Flüchtling sein. Um endgültig Aufschluss zu erlangen, kommt Anfang November ihr jüngerer Sohn von Krefeld nach Berlin. [9] Als Westdeutscher kann er – anders als die Mutter – nach Ost-Berlin einreisen. Sein unerwarteter Besuch bringt die DDR-Behörden, wie Stasi-Akten zeigen, in Bedrängnis. Da er sich nicht abweisen lässt, teilt ihm ein Ost-Berliner Staatsanwalt schließlich lapidar mit, sein Bruder sei „bei einer Grenzprovokation" verletzt worden und an den Folgen dieser Verletzung verstorben. [10] Als Grabstätte wird den Hinterbliebenen eine Urnenstelle auf dem Friedhof Baumschulenweg genannt. Die Einäscherung und die anonyme Bestattung hatte das MfS bereits veranlasst. [11]
Ernst Mundt ist innerhalb von zwei Wochen der dritte Flüchtling, der an der Berliner Mauer erschossen wird. In West-Berlin wachsen angesichts dieser dichten Folge tödlicher Zwischenfälle Wut und Empörung. So muss die Polizei an der Gartenstraße eine Gruppe wütender Demonstranten zerstreuen, die einem Bericht zufolge, "eine drohende Haltung gegen die in Sektorengrenznähe eingesetzten Grepo und Trapo einnahmen." [12] Aber auch Zeichen öffentlicher Trauer und Anteilnahme am Schicksal des Toten sind unübersehbar. An der Bernauer Straße/Ecke Bergstraße wird ein Kreuz errichtet und von Passanten mit Blumen und Kränzen geschmückt. [13] Ein halbes Jahr später ersetzt das Bezirksamt Wedding das Kreuz durch ein Mahnmal aus Rundhölzern und Stacheldraht. Bis heute markiert eine Gehwegplatte mit der Inschrift: „Dem unbekannten Opfer der Schandmauer †4.9.1962" die Stelle, an der Ernst Mundt ums Leben kam.
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Spitzenmeldung des MfNV/Stadtkommandantur Berlin/1.GB/Stabschef betr. Versuchten Grenzdurchbruch am 4.9.1962 um 14.20 Uhr mit Schusswaffengebrauch, 4.9.1962, in: BArch, VA-07/8461, Bl. 48-49; Bericht des [MfS]/HA I/Abteilung Aufklärung (B) betr. Verhinderten Grenzdurchbruch am 4.9.1962 am Friedhof Berg-/Gartenstraße, 4.9.1962, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 2, Nr. 2, Bl. 17-18, sowie Bericht der West-Berliner Polizei betr. vermutlicher Mord an einem männl. Flüchtling aus dem SBS, Bernauer-/Bergstr., 5.9.1962, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o.Pag.
[2]
Zeitzeugeninterview von Maria Nooke mit Günter und Ursula Malchow, damals Anwohner der Bernauer Straße, 7.4.2002, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer.
[3]
Vgl. Untersuchungsbericht der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle der West-Berliner Polizei, 12.9.1962, in: StA Berlin, Az. 2 Js 88/90, Bd. 1, Bl. 62.
[4]
Vgl. Einzel-Information [des MfS-ZAIG] Nr. 584/62 über einen versuchten Grenzdurchbruch im Bereich der III. Grenzabteilung, Unterabschnitt 1. Kompanie, 5.9.1962, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 581, Bl. 44-47, sowie Ermittlungsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. VIII, 4.9.1962, in: BStU, AS 754/70, Bd. 2, Nr. 2, Bl. 78-80.
[5]
Bericht über die Zeugen-Vernehmung einer Anwohnerin der Bernauer Straße durch die West-Berliner Polizei betr. Grenzzwischenfall am 4.2.62 gegen 14.15 Uhr an der Grenzmauer der Sophienkirchgemeinde, 4.9.1962, in: StA Berlin, Az. Js 88/90, Bd. 1, Bl. 37.
[6]
Vgl. Protokoll der Vernehmung des mutmaßlichen Todesschützen M. durch die Berliner Polizei, 12.2.1992, in: Ebd., Bl. 233-252, hier Bl. 233. Das Landgericht Berlin verurteilt M. am 4.7.1994 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 4.7.1994, in: Ebd., Bd. 4, Bl. 224-244, hier Bl. 224-225.
[7]
Bericht des MfNV/Stadtkommandantur Berlin/1.GB/Kommandeur betr. Auswertung eines besonderen Vorkommnisses im Abschnitt der III. Grenzabteilung, 6.9.1962, in: BArch, VA-07/16930, Bl. 27-31, hier Bl. 29.
[8]
Bericht des MfNV/Stadtkommandantur Berlin/1.GB/Kommandeur zum versuchten Grenzdurchbruch am 4.9.1962, 4.9.1962, in: BArch, VA-07/8461, Bl. 52-57, hier Bl. 56.
[9]
Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Schwester von Ernst Mundt durch die West-Berliner Polizei, 30.10.1962, in: StA Berlin, Az., 2 Js 88/90, Bd. 1, Bl. 74-22, sowie Niederschrift der Zeugen-Vernehmung des Bruders von Ernst Mundt durch die West-Berliner Polizei, 9.11.1962, in: Ebd., Bl. 76.
[10]
Bericht [der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin/Abt. IX], 6.11.1962 in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 2, Nr. 2, Bl. 72-75, hier Bl. 73.
[11]
Vgl. [MfS-]Aktenvermerk über die Bestattungskosten für Ernst Mundt, 27.9.1962, in: Ebd., Bl. 11.
[12]
Ereignismeldung der West-Berliner Schutzpolizei, 6.9.1962, in: PHS, Bestand Ereignismeldungen der West-Berliner Schutzpolizei, o.Pag.
[13]
Vgl. Ereignismeldung der West-Berliner Schutzpolizei, 7.9.1962, in: Ebd.