geboren am 25. August 1962
erschossen am 22. November 1980
in der Florastraße gegenüber der Invalidensiedlung
am Außenring zwischen Hohen Neuendorf (Kreis Oranienburg) und Berlin-Reinickendorf
Peter W. legt sich bäuchlings auf die Mauer, denn seine Verlobte, die auf der oberen Sprosse der Leiter steht, ist zu klein, um die Mauerkrone mit ihren Händen zu erreichen. Er reicht ihr seine Hand, um sie nach oben zu ziehen. Zwei weitere Grenzsoldaten rennen inzwischen vom 230 Meter entfernten Wachturm herbei und eröffnen ebenfalls das Feuer auf die Flüchtenden. Mit den Händen hat Marienetta Jirkowsky die Mauerkrone schon erreicht, als sie getroffen von der Leiter fällt.Marienetta Jirkowsky wird am 25. August 1962 in Bad Saarow geboren. Sie wächst im brandenburgischen Spreenhagen auf und erlernt im Reifenkombinat in Fürstenwalde den Beruf einer Textilfacharbeiterin. »Micki«, wie sie ihre Freunde nennen, ist eine »kleine, ausgeflippte, lebenslustige Person«. [1] Eigentlich wollen sie und ihre Freunde »nur in Ruhe leben […], ohne Stress und ohne immer alles verboten zu kriegen«, wie es einer ihrer Freunde, Falko V., rückblickend beschreibt. [2] Schon lange trägt sich Falko V. mit Fluchtgedanken. Gemeinsam mit ihm lernt Marienetta Jirkowsky im Frühjahr 1980 Peter W. kennen. Er gehört nicht nur zu den Unangepassten und hat schon mehrere Ausreiseanträge gestellt. [3] In den acht Jahren, seit Peter W. mit der 7. Klasse von der Schule abging und 1972 eine Teilfacharbeiterlehre als Melker abschloss, war er – mit größeren Pausen – auf elf Arbeitsstellen tätig, wie der Staatssicherheitsdienst vermerkte. In diese Zeit fällt auch eine Verurteilung zu drei Jahren Freiheitsstrafe wegen »Rowdytum«, Raub und fahrlässiger Körperverletzung. [4] Seine Ehefrau, mit der er ein gemeinsames Kind hat, hat gerade wegen seines Alkoholismus nach sechs Monaten Ehe die Scheidung von ihm eingereicht – und weil er sie wiederholt geschlagen und in der Öffentlichkeit beschimpft hat. [5]
In der neuen Beziehung zu Marienetta verändert sich dieses Verhalten offenbar nicht. Marienettas Freundin, die mit ihr die Lehre im Reifenkombinat Fürstenwalde begonnen hat und mit ihr im Lehrlingswohnheim zusammenwohnt, berichtet in ihrer Vernehmung durch den Staatssicherheitsdienst, dass Peter W. »kaum arbeiten ging und sich von Marienetta aushalten ließ«, mehr noch: dass er sie geschlagen habe und es öfter vorkam, »dass Marienetta mit verquollenem Gesicht zur Arbeit kam«. [6] Ihre Freundinnen und Arbeitskolleginnen verstehen nicht, dass Marienetta sich das alles gefallen lässt und mit Peter W. zusammenbleibt – und Marienetta versteht nicht, dass ihre Freundinnen und ihre Familie ihre Liebe zu Peter W. nicht verstehen. Als sie mit 18 Jahren die in der DDR gültige Volljährigkeit erreicht hat, verlobt sie sich mit Peter W. Die beiden wollen im Herbst 1980 zusammenziehen. Nun kommt es zu heftigen Konflikten mit ihren Eltern, die gegen diese Beziehung sind, ein Abdriften ihres einzigen Kindes befürchten und deshalb erwirken, dass Peter W. der Umgang mit ihrer Tochter polizeilich untersagt wird. [7] Von nun an warten die drei nur noch auf den passenden Moment, die DDR verlassen zu können. Sie planen ihre gemeinsame Flucht für die Nacht vom 22. zum 23. November 1980. Peter W. hat für diesen Zweck in seiner Wohnung eine aus mehreren Teilen bestehende zusammenlegbare Leiter hergestellt. [8] Am 21. November fahren die drei jungen Leute mit dem Zug von Fürstenwalde nach Ost-Berlin, um eine für ihre Flucht günstige Stelle zu erkunden. Als ihnen die Flucht an der erkundeten Stelle nicht aussichtsreich erscheint, fahren sie am Abend dieses Tages mit der S-Bahn nach Hohen Neuendorf, wo Peter W. den Grenzverlauf von einer früheren Tätigkeit als Schausteller her genauer kennt. Mit der letzten S-Bahn kommen sie gegen 0.30 Uhr auf dem S-Bahnhof Hohen Neuendorf an und schlagen sich über grenznahe Grundstücke zur Grenze durch. Ohne weitere Hilfsmittel können sie zwei angeschlossene Leitern, eine sogenannte Bockleiter und eine Trittleiter, »knacken«, über die Hinterlandmauer spähen und die Grenze in Augenschein nehmen. Abweichend von ihrem ursprünglichen Vorhaben, entschließen sich die drei spontan, noch in dieser Nacht zu fliehen. Ohne es zu ahnen, entgehen die beiden Männer dadurch nur knapp ihrer für den frühen Morgen vorgesehenen Verhaftung. Ein inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit aus ihrem Freundeskreis hatte ihre Fluchtpläne verraten. [9] Die nächsten drei Nachtstunden beobachten die drei jungen Leute die Vorgänge an der Grenze und sprechen sich Mut zu. Dann zerlegen sie die Trittleiter in zwei Teile und übersteigen gegen 3.30 Uhr mit dem einen Teil der Leiter die Hinterlandmauer. Die beiden Männer überwinden mit der Bockleiter den etwa 2,50 Meter hohen Signalzaun, ohne dass er Alarm auslöst. Erst als Marienetta Jirkowsky folgt, ertönt das Alarmsignal. Die Männer sind schon mit dem Rest der Trittleiter an der etwa 3,50 Meter hohen letzten Mauer angelangt, als die Leiter im Boden einsackt. Dennoch schaffen es Falko V. und Peter W., nacheinander die Mauerkrone zu erreichen. Hier werden die Flüchtenden nun vom 160 Meter entfernten Wachturm aus scharf beschossen. Falko V. ist schon in den Westen abgesprungen, Peter W. legt sich bäuchlings auf die Mauer, denn seine Verlobte, die auf der oberen Sprosse der Leiter steht, ist zu klein, um die Mauerkrone mit ihren Händen zu erreichen. Er reicht ihr seine Hand, um sie nach oben zu ziehen. Zwei weitere Grenzsoldaten rennen inzwischen vom 230 Meter entfernten Wachturm herbei und eröffnen ebenfalls das Feuer auf die Flüchtenden. Mit den Händen hat Marienetta Jirkowsky die Mauerkrone schon erreicht, als sie getroffen von der Leiter fällt. Peter W. lässt sich auf die Westseite der Mauer fallen. [10] Kurz darauf wird die junge Frau von Grenzsoldaten geborgen, erstversorgt und auf Anordnung des Regimentsarztes in das nächstgelegene Kreiskrankenhaus nach Hennigsdorf transportiert. Um 11.30 Uhr stirbt Marienetta Jirkowsky dort nach einer Notoperation an den Folgen eines Bauchdurchschusses. [11]
Wegen »Totschlags in einem minder schweren Fall« wird 15 Jahre später einer der Schützen von der Jugendkammer des Landgerichts Neuruppin zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung verurteilt. [12]
Im Namen der alliierten Stadtkommandanten protestiert der französische Stadtkommandant noch am selben Tag gegen die Schüsse auf Marienetta Jirkowsky und fordert die DDR auf, diesen »unmenschlichen Praktiken« ein Ende zu setzen. [13]
Der Staatssicherheitsdienst ist bemüht, den Abfluss jeglicher Informationen über den Tod der 18-Jährigen zu verhindern. Auf keinen Fall soll ein Bild der Erschossenen im Westen veröffentlicht werden. [14] Um Peter W. und Falko V. als Lügner bloßzustellen, sieht der Plan der Staatssicherheit vor, den westlichen Medien das Foto einer anderen jungen Frau, die der Getöteten ähnlich sieht, zuzuspielen. Dieses soll dann als »falsch« entlarvt und damit die gesamte Berichterstattung über den tödlichen Fluchtversuch unglaubwürdig gemacht werden. [15] Als weiteren Schritt zur öffentlichen Diskreditierung der beiden geflohenen Männer sollen inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit deren Vertrauen erschleichen und versuchen, sie zu kriminalisieren: »[…] unauffällige Lenkung zu noch größeren unüberlegten Geldausgaben, Kreditaufnahmen, usw., um damit […] allmählich die Voraussetzung für ein evtl. kriminelles Handeln […] zu schaffen.« [16] Doch Falko V. und Peter W. können im Westen ausführlich über ihren Fall berichten. Anfang Februar 1981 stellen sie gegenüber der Durchbruchstelle ein Kreuz für ihre Freundin auf, welches von einem inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter entfernt und heimlich zum Ministerium für Staatssicherheit nach Ost-Berlin gebracht wird. [17] Das MfS denkt auch über Kidnapping der beiden Geflüchteten nach, über »Maßnahmen zur Zurückführung beider Personen in die DDR«. [18]
In der Folgezeit bemüht sich vor allem Falko V., durch spektakuläre Aktionen auf das Schicksal seiner Freundin aufmerksam zu machen. So erstattet er am 6. Februar 1981 bei der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter Strafanzeige wegen Mordes gegen DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. [19] Am 2. März 1981 kettet er sich am Eingangsgitter der sowjetischen Botschaft in Madrid an, um so die DDR-Regierung während der Madrider KSZE-Folgekonferenz wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen anzuklagen. [20]
Noch am Tag des tödlich verlaufenen Fluchtversuchs muss der Vater von Marienetta Jirkowsky zur Volkspolizei nach Fürstenwalde. Dort erfährt er zunächst nur, dass seine Tochter an der Grenze nach West-Berlin festgenommen worden sei; dass sie erschossen wurde, teilt man ihm erst zwei Tage später mit. [21] Eine Todesanzeige zu veröffentlichen, wird der Familie nicht erlaubt. Spreenhagen, der Heimatort der 18-Jährigen, ist nahezu hermetisch von Mitarbeitern der Staatssicherheit abgeriegelt, als die Urne mit ihrer Asche am 14. Dezember 1980 auf dem dortigen Friedhof im engsten Familienkreis beigesetzt wird.
Die Eltern haben den doppelten Verlust ihres einzigen Kindes, als den sie ihn offenbar empfunden haben, nie verkraftet – weder zu DDR-Zeiten noch danach. Im Westen erinnert in den 1980er Jahren ein Gedenkkreuz an der Mauer nahe dem Reichstagsgebäude an das Schicksal ihrer Tochter. Seit 2003 gehört das Erinnerungszeichen dort zum Gedenkort »Weiße Kreuze« am Ufer der Spree. Ende 2006 wird in der Nähe des seinerzeitigen Fluchtortes in der Florastraße eine Gedenkstele für Marienetta Jirkowsky errichtet.
Im November 2009 beschließt die Stadtverordnetenversammlung von Hohen Neuendorf, einen Platz an der B 96 nach Marienetta Jirkowsky zu benennen. Dagegen legt die Familie, die nicht gefragt worden ist, Widerspruch ein. [22] »Die Umstände von Marienettas Tod waren für die Familie sehr schmerzvoll«, machte eine Tante von Marienetta als Sprecherin der Familie auch öffentlich deren Haltung deutlich. »Das ist in unserer Familiengeschichte eine Wunde, die niemals verheilt. Und wir kamen zu dem Ergebnis, dass man so ein schlimmes Ereignis nicht damit würdigt, wenn man einen Platz nach dem Kind benennt, sondern dass man besser die Totenruhe wahrt.« [23] Das sei auch der letzte Wille der Eltern gewesen. Als im Einklang damit stehend betrachtet die Familie die Gedenkstele für Marienetta Jirkowsky in der Florastraße, die Erinnerung an sie im Turm der Deutschen Waldjugend, einer früheren Führungsstelle der Grenztruppen im Todesstreifen von Bergfelde sowie in der Gedenkstätte Berliner Mauer und in der Kapelle der Versöhnung.
Text: Martin Ahrends / Udo Baron
In der neuen Beziehung zu Marienetta verändert sich dieses Verhalten offenbar nicht. Marienettas Freundin, die mit ihr die Lehre im Reifenkombinat Fürstenwalde begonnen hat und mit ihr im Lehrlingswohnheim zusammenwohnt, berichtet in ihrer Vernehmung durch den Staatssicherheitsdienst, dass Peter W. »kaum arbeiten ging und sich von Marienetta aushalten ließ«, mehr noch: dass er sie geschlagen habe und es öfter vorkam, »dass Marienetta mit verquollenem Gesicht zur Arbeit kam«. [6] Ihre Freundinnen und Arbeitskolleginnen verstehen nicht, dass Marienetta sich das alles gefallen lässt und mit Peter W. zusammenbleibt – und Marienetta versteht nicht, dass ihre Freundinnen und ihre Familie ihre Liebe zu Peter W. nicht verstehen. Als sie mit 18 Jahren die in der DDR gültige Volljährigkeit erreicht hat, verlobt sie sich mit Peter W. Die beiden wollen im Herbst 1980 zusammenziehen. Nun kommt es zu heftigen Konflikten mit ihren Eltern, die gegen diese Beziehung sind, ein Abdriften ihres einzigen Kindes befürchten und deshalb erwirken, dass Peter W. der Umgang mit ihrer Tochter polizeilich untersagt wird. [7] Von nun an warten die drei nur noch auf den passenden Moment, die DDR verlassen zu können. Sie planen ihre gemeinsame Flucht für die Nacht vom 22. zum 23. November 1980. Peter W. hat für diesen Zweck in seiner Wohnung eine aus mehreren Teilen bestehende zusammenlegbare Leiter hergestellt. [8] Am 21. November fahren die drei jungen Leute mit dem Zug von Fürstenwalde nach Ost-Berlin, um eine für ihre Flucht günstige Stelle zu erkunden. Als ihnen die Flucht an der erkundeten Stelle nicht aussichtsreich erscheint, fahren sie am Abend dieses Tages mit der S-Bahn nach Hohen Neuendorf, wo Peter W. den Grenzverlauf von einer früheren Tätigkeit als Schausteller her genauer kennt. Mit der letzten S-Bahn kommen sie gegen 0.30 Uhr auf dem S-Bahnhof Hohen Neuendorf an und schlagen sich über grenznahe Grundstücke zur Grenze durch. Ohne weitere Hilfsmittel können sie zwei angeschlossene Leitern, eine sogenannte Bockleiter und eine Trittleiter, »knacken«, über die Hinterlandmauer spähen und die Grenze in Augenschein nehmen. Abweichend von ihrem ursprünglichen Vorhaben, entschließen sich die drei spontan, noch in dieser Nacht zu fliehen. Ohne es zu ahnen, entgehen die beiden Männer dadurch nur knapp ihrer für den frühen Morgen vorgesehenen Verhaftung. Ein inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit aus ihrem Freundeskreis hatte ihre Fluchtpläne verraten. [9] Die nächsten drei Nachtstunden beobachten die drei jungen Leute die Vorgänge an der Grenze und sprechen sich Mut zu. Dann zerlegen sie die Trittleiter in zwei Teile und übersteigen gegen 3.30 Uhr mit dem einen Teil der Leiter die Hinterlandmauer. Die beiden Männer überwinden mit der Bockleiter den etwa 2,50 Meter hohen Signalzaun, ohne dass er Alarm auslöst. Erst als Marienetta Jirkowsky folgt, ertönt das Alarmsignal. Die Männer sind schon mit dem Rest der Trittleiter an der etwa 3,50 Meter hohen letzten Mauer angelangt, als die Leiter im Boden einsackt. Dennoch schaffen es Falko V. und Peter W., nacheinander die Mauerkrone zu erreichen. Hier werden die Flüchtenden nun vom 160 Meter entfernten Wachturm aus scharf beschossen. Falko V. ist schon in den Westen abgesprungen, Peter W. legt sich bäuchlings auf die Mauer, denn seine Verlobte, die auf der oberen Sprosse der Leiter steht, ist zu klein, um die Mauerkrone mit ihren Händen zu erreichen. Er reicht ihr seine Hand, um sie nach oben zu ziehen. Zwei weitere Grenzsoldaten rennen inzwischen vom 230 Meter entfernten Wachturm herbei und eröffnen ebenfalls das Feuer auf die Flüchtenden. Mit den Händen hat Marienetta Jirkowsky die Mauerkrone schon erreicht, als sie getroffen von der Leiter fällt. Peter W. lässt sich auf die Westseite der Mauer fallen. [10] Kurz darauf wird die junge Frau von Grenzsoldaten geborgen, erstversorgt und auf Anordnung des Regimentsarztes in das nächstgelegene Kreiskrankenhaus nach Hennigsdorf transportiert. Um 11.30 Uhr stirbt Marienetta Jirkowsky dort nach einer Notoperation an den Folgen eines Bauchdurchschusses. [11]
Wegen »Totschlags in einem minder schweren Fall« wird 15 Jahre später einer der Schützen von der Jugendkammer des Landgerichts Neuruppin zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung verurteilt. [12]
Im Namen der alliierten Stadtkommandanten protestiert der französische Stadtkommandant noch am selben Tag gegen die Schüsse auf Marienetta Jirkowsky und fordert die DDR auf, diesen »unmenschlichen Praktiken« ein Ende zu setzen. [13]
Der Staatssicherheitsdienst ist bemüht, den Abfluss jeglicher Informationen über den Tod der 18-Jährigen zu verhindern. Auf keinen Fall soll ein Bild der Erschossenen im Westen veröffentlicht werden. [14] Um Peter W. und Falko V. als Lügner bloßzustellen, sieht der Plan der Staatssicherheit vor, den westlichen Medien das Foto einer anderen jungen Frau, die der Getöteten ähnlich sieht, zuzuspielen. Dieses soll dann als »falsch« entlarvt und damit die gesamte Berichterstattung über den tödlichen Fluchtversuch unglaubwürdig gemacht werden. [15] Als weiteren Schritt zur öffentlichen Diskreditierung der beiden geflohenen Männer sollen inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit deren Vertrauen erschleichen und versuchen, sie zu kriminalisieren: »[…] unauffällige Lenkung zu noch größeren unüberlegten Geldausgaben, Kreditaufnahmen, usw., um damit […] allmählich die Voraussetzung für ein evtl. kriminelles Handeln […] zu schaffen.« [16] Doch Falko V. und Peter W. können im Westen ausführlich über ihren Fall berichten. Anfang Februar 1981 stellen sie gegenüber der Durchbruchstelle ein Kreuz für ihre Freundin auf, welches von einem inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter entfernt und heimlich zum Ministerium für Staatssicherheit nach Ost-Berlin gebracht wird. [17] Das MfS denkt auch über Kidnapping der beiden Geflüchteten nach, über »Maßnahmen zur Zurückführung beider Personen in die DDR«. [18]
In der Folgezeit bemüht sich vor allem Falko V., durch spektakuläre Aktionen auf das Schicksal seiner Freundin aufmerksam zu machen. So erstattet er am 6. Februar 1981 bei der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter Strafanzeige wegen Mordes gegen DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. [19] Am 2. März 1981 kettet er sich am Eingangsgitter der sowjetischen Botschaft in Madrid an, um so die DDR-Regierung während der Madrider KSZE-Folgekonferenz wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen anzuklagen. [20]
Noch am Tag des tödlich verlaufenen Fluchtversuchs muss der Vater von Marienetta Jirkowsky zur Volkspolizei nach Fürstenwalde. Dort erfährt er zunächst nur, dass seine Tochter an der Grenze nach West-Berlin festgenommen worden sei; dass sie erschossen wurde, teilt man ihm erst zwei Tage später mit. [21] Eine Todesanzeige zu veröffentlichen, wird der Familie nicht erlaubt. Spreenhagen, der Heimatort der 18-Jährigen, ist nahezu hermetisch von Mitarbeitern der Staatssicherheit abgeriegelt, als die Urne mit ihrer Asche am 14. Dezember 1980 auf dem dortigen Friedhof im engsten Familienkreis beigesetzt wird.
Die Eltern haben den doppelten Verlust ihres einzigen Kindes, als den sie ihn offenbar empfunden haben, nie verkraftet – weder zu DDR-Zeiten noch danach. Im Westen erinnert in den 1980er Jahren ein Gedenkkreuz an der Mauer nahe dem Reichstagsgebäude an das Schicksal ihrer Tochter. Seit 2003 gehört das Erinnerungszeichen dort zum Gedenkort »Weiße Kreuze« am Ufer der Spree. Ende 2006 wird in der Nähe des seinerzeitigen Fluchtortes in der Florastraße eine Gedenkstele für Marienetta Jirkowsky errichtet.
Im November 2009 beschließt die Stadtverordnetenversammlung von Hohen Neuendorf, einen Platz an der B 96 nach Marienetta Jirkowsky zu benennen. Dagegen legt die Familie, die nicht gefragt worden ist, Widerspruch ein. [22] »Die Umstände von Marienettas Tod waren für die Familie sehr schmerzvoll«, machte eine Tante von Marienetta als Sprecherin der Familie auch öffentlich deren Haltung deutlich. »Das ist in unserer Familiengeschichte eine Wunde, die niemals verheilt. Und wir kamen zu dem Ergebnis, dass man so ein schlimmes Ereignis nicht damit würdigt, wenn man einen Platz nach dem Kind benennt, sondern dass man besser die Totenruhe wahrt.« [23] Das sei auch der letzte Wille der Eltern gewesen. Als im Einklang damit stehend betrachtet die Familie die Gedenkstele für Marienetta Jirkowsky in der Florastraße, die Erinnerung an sie im Turm der Deutschen Waldjugend, einer früheren Führungsstelle der Grenztruppen im Todesstreifen von Bergfelde sowie in der Gedenkstätte Berliner Mauer und in der Kapelle der Versöhnung.
Text: Martin Ahrends / Udo Baron
[1]
Interview mit Falko V., in: Giordana Dunkhorst, Hoher Preis für coole Klamotten. Jugendliche »Aussteiger« in der DDR um 1980. Eine Schülerarbeit im Rahmen des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, Berlin 2007, S. 38.
[2]
Ebd., S. 39.
[3]
Vgl. Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Neuruppin, Az. 61 Js 109 / 94, vom 22.11.1994, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 109 / 94, Bd. 4, Bl. 26.
[4]
Vgl. KD Fürstenwalde, Eröffnungsbericht zum Anlegen des OV »Leiter«, Reg.-Nr. V 1574/80, Fürstenwalde, 5.12.1980, in: BStU, BV Frankfurt (Oder), AOP 1466/83, Bd. 1, Bl. 27–35.
[5]
Ebd., Bl. 32.
[6]
Vernehmung der Freundin von Marienetta Jirkowsky, 12.2.1981, in: BStU, BV Frankfurt (Oder), AU 1415/87, Bd. 1, Bl. 175–179, hier Bl. 176. Eine Tante von Marienetta Jirkowsky bestätigt diese Aussage. Zeitzeugeninterview von Maria Nooke mit Bärbel Kultus, 24.4.2010, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer.
[7]
Vgl. Eröffnungsbericht des MfS / KD Fürstenwalde zum Anlegen des OV »Leiter«, 5.12.1980, in: BStU, Ast. Frankfurt, 1466 / 83 (OV »Leiter«), Bl. 31; Interview mit Falko V., in: Dunkhorst, Hoher Preis für coole Klamotten, S. 38.
[8]
Vgl. hierzu und zur folgenden Darstellung des Fluchtgeschehens Protokoll der Zeugenvernehmung von Peter W. durch die West-Berliner Polizei, 8.12.1980, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 109 / 94, Bd. 1, Bl. 28–32; Protokoll der Zeugenvernehmung von Falko V. durch die West-Berliner Polizei, 22.12.1980, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 109 / 94, Bd. 1, Bl. 33–37.
[9]
Vgl. Eröffnungsbericht des MfS / KD Fürstenwalde zum Anlegen des OV »Leiter«, 5.12.1980, in: BStU, Ast. Frankfurt, 1466 / 83 (OV »Leiter«), Bl. 28–29.
[10]
Vgl. Urteil des Landgerichts Neuruppin in der Strafsache gegen Detlev S. und Werner St., Az. 12 Ks 61 Js 109 / 94 (61 / 94), vom 19.12.1995, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 109 / 94, Bd. 4, S. 77–80; Protokoll der Zeugenvernehmung von Peter W. durch die West-Berliner Polizei, 8.12.1980, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 109 / 94, Bd. 1, Bl. 30–31.
[11]
Bericht des Leiters der BVfS Potsdam über das Vorkommnis an der Staatsgrenze am 22. November 1980, in: BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 263, Bl. 138– 139.
[12]
Vgl. Urteil des Landgerichts Neuruppin in der Strafsache gegen Detlev S. und Werner St., Az. 12 Ks 61 Js 109 / 94 (61 / 94), vom 19.12.1995, in: StA Neuruppin, Az. 27 Js 71 / 97, Bd. 4, Bl. 60– 125.
[13]
Vgl. Lagefilm des MfS / ZKG, 22.11.1980, in: BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 263, Bl. 74.
[14]
Die sich auch bei uns in den vorherigen Auflagen hieran anschließende Formulierung, dass sämtliche Fotos von Marienetta Jirkowsky bei Verwandten und Freunden beschlagnahmt worden seien, ist weit verbreitet, aber unrichtig. Sie findet sich z.B. auch bei: Stefan Appelius, Marienettas verschollene Bilder, in: Spiegel online, 13.8.2010, URL: http://www.spiegel.de/einestages/maueropfer-a-946582.html, aufgerufen am 18.3.2019, sowie in weiteren Medienberichten, die zumeist auf diesen Darstellungen beruhen. In den Stasi-Unterlagen finden sich tatsächlich nur einige wenige private Aufnahmen. Nach Auskunft von Bärbel Kultus, einer Tante von Marienetta Jirkowsky, hat die Mutter seinerzeit an alle Verwandten zur Erinnerung ein Portraitfoto von Marienetta Jirkowsky geschickt (vgl. Gespräch von Maria Nooke mit Bärbel Kultus, 24.4.2010, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer).
[15]
Vgl. Hannelore Strehlow, Der gefährliche Weg in die Freiheit, Potsdam 2004, S. 44.
[16]
Information zum Stand der operativen Bearbeitung [Name geschwärzt], 28.3.1981, in: BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 263, Bl. 9.
[17]
Vgl. Sachstandsbericht zu den Feindaktionen im Zusammenhang mit dem Grenzdurchbruch nach Westberlin durch [Namen geschwärzt], 3.4.1981, in: BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 263, Bl.11– 13; vgl. auch Hannelore Strehlow, Der gefährliche Weg in die Freiheit, Potsdam 2004, S. 46.
[18]
Vgl. Eröffnungsbericht des MfS / KD Fürstenwalde zum Anlegen des OV »Leiter«, 5.12.1980, in: BStU, Ast. Frankfurt, 1466 / 83 (OV »Leiter«), Bl. 35.
[19]
Vgl. Schreiben von Falko V. an die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter vom 6.2.1981, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 108 / 94, Bd. 1, Bl. 48.
[20]
Vgl. Die Welt, 3. 3. 1981; Sachstandsbericht zu den Feindaktionen im Zusammenhang mit dem Grenzdurchbruch nach Westberlin durch [Namen geschwärzt], 3.4.1981, in: BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 263, Bl. 14.
[21]
Vgl. hierzu und zum Folgenden Bericht über ein Gespräch der Ermittlungsgruppe der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin mit den Eltern von Marienetta Jirkowsky, 15.1.1991, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 109 / 94, Bd. 1, Bl. 143– 145.
[22]
Vgl. Brief von Bärbel Kultus an die Stadtverwaltung Hohen Neuendorf, 17.1.2010, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer.
[23]
»Eine Wunde, die nie verheilt.« Interview mit Bärbel Kultus, in: Superillu Nr. 15, 8.4.2010.