Marienetta Jirkowsky: MfS-Auswertung des Fluchtversuchs und der Erschießung
4. Dezember 1980
Informationzu dem schweren Grenzdurchbruch am 22. November 1980 im Gebiet Ortslage Hohen Neuendorf/Oranienburg/Potsdam, Bereich des Grenzregimentes 38
Am 22. 11. 1980 um 03.25 Uhr wurde durch das im Sicherungsstreifen der Grenztruppen in Höhe der Florastraße am Fuße eines Postenturmes eingesetzte Postenpaar Geräusche festgestellt. Diese Geräusche kamen aus dem Bereich zwischen Hinterlandmauer und Grenzsignalzaun in ca. 100 m Entfernung. Deren Ursache war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennbar.
Von dieser Feststellung informierte der Postenführer, Gefreiter J(...) sofort über das Grenzmeldenetz den für den Sicherungsabschnitt verantwortlichen Zugführer. Noch während dieser telefonischen Meldung erfolgte die Auslösung des Signalzaunes. Gleichzeitig nahm der Posten umrißhaft eine Person wahr, die sich mit schnellen Schritten zur Grenzmauer bewegte. Weder auf den Anruf noch auf den darauffolgend abgegebenen Warnschuß reagierte diese Person. Durch den Gefreiten (...) und durch die Besatzung eines ca. 200 m entfernten Postenturmes wurde gezieltes Feuer eröffnet. Dieses Postenpaar war durch den Warnschuß aufmerksam geworden und hatte dann ebenfalls die Person in der Bewegung zur Grenzmauer gesehen.
Infolge Schußwirkung fiel die Person, welche bereits die obere Begrenzung der Grenzmauer erfaßt hatte, herab. Insgesamt waren 27 Schuß abgegeben worden.
Bei der durch einen Schuß verletzten Person handelte es sich um die
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Jirkowsky, Marienetta
geb. am: 25. August 1962 in Bad Saarow
wohnh.: in Spreenhagen (...)
Lehrling im VE Reifenkombinat Fürstenwalde
Trotz intensiver Behandlung erlag die JIRKOWSKY gegen 11.30 Uhr den erlittenen schweren Verletzungen der Bauchorgane.
Aus Hinweisen der Verletzten gegenüber dem behandelnden Arzt, den bei den Untersuchungen der Spezialkommission der Abteilung IX, BV Potsdam, festgestellten Spuren sowie Meldungen der Westberliner Massenmedien war zu entnehmen, daß bei dem Vorkommnis zwei männliche Personen beteiligt waren. Diesen gelang der Grenzdurchbruch nach Westberlin.
Bei diesen Tätern handelt es sich um
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(...)
geb. am: (...) 1956 in (...)
wohnh.: Bad Saarow, (...)
Arbeiter, (...) Fürstenwalde
(...)
geb. am (...) 1962 in (...)
wohnh.: Fürstenwalde (...)
Arbeiter, PGH (...)
Hinweis § 213 StGB bei Abt. K, VPKA Fürstenwalde
Die weiteren Untersuchungen und Überprüfungen zum Tathergang ergaben folgende wesentliche Feststellungen:
Am 21. 11. 1980 zwischen 17.20 Uhr und 18.00 Uhr erhielt der zuständige operative Mitarbeiter der KD Fürstenwalde von einem IM-Vorlauf die Information, daß er am Mittag des gleichen Tages im Stadtgebiet in einer Gaststätte mit (...) und dessen ihm unbekannter Freundin zusammengetroffen sei. (...) teilte ihm dabei mit, daß er am 23. 11. 1980 gemeinsam mit seiner Freundin die DDR ungesetzlich verlassen will. Zu diesem Zweck will er noch am gleichen Abend mit der Bahn die betreffende Strecke abfahren und sich außerdem eine Leiter beschaffen, die mehr als 2 m lang ist.
Nach Informierung des Leiters der KD durch den Mitarbeiter und des Leiters der BKG Frankfurt/Oder durch diesen wurden sofort Maßnahmen zur Identifizierung Überprüfung und Feststellung des Aufenthaltes von (...) Freundin eingeleitet. Nach erfolgter Identifizierung verliefen die weiteren Maßnahmen zur Aufenthaltsermittlung im Kreisgebiet Fürstenwalde bis nach 22.00 Uhr erfolglos und sollten am 22.11.1980 fortgesetzt werden.
JIRKOWSKY, (...) und (...) näherten sich in der Nacht vom 21. zum 22.11.1980 vom Bahnhof Hohen Neuendorf über bebaute Grundstücke im Bereich der Berliner Straße/Florastraße den Grenzsicherungsanlagen. Vorher hatten sie auf dem durch einen Betrieb als Lagerplatz genutzten Grundstück eine ehemaligen Gaststätte eine Stehleiter entwendet. Des weiteren entwendeten sie in unmittelbarer Nähe des Tatortes vom Gründstück Florastraße 2 eine sogenannte Bockleiter. Mit einem bisher nicht bestimmten Werkzeug hatten sie die Sicherung der Leiter mittels eines Fahrradschlosses aufgebrochen.
Die 1,60 m lange Stehleiter wurde von den Tätern zerlegt. Der Tritteil diente ihnen zur Überwindung der Hinterlandmauer, wobei sie die Bockleiter und den Stützteil der Stehleiter mitführten. Die ca. 3m lange Bockleiter wurde zur Überwindung des Signalzaunes genutzt und das Stützteil der Stehleiter diente letztlich zur Überwindung der Grenzmauer.
Dieses zielgerichtete Vorgehen der Täter läßt darauf schließen, daß sie über die Art der zu überwindenden Anlagen der Grenzsicherung konkrete Kenntnisse hatten. Dazu wurde festgestellt, daß im Bereich Hohen Neuendorf der Bahndamm einer stillgelegten S-Bahnverbindung im Grenzgebiet bis in die Nähe der Grenzsicherungsanlagen reicht. Von diesem Bahndamm aus kann durch Buschwerk gedeckt eine detaillierte Aufklärung auch zur Nachtzeit durchgeführt werden. Der Nachweis, daß von den Tätern von dort aus eine Aufklärung erfolgte, ist nicht gegeben.
Nicht eindeutig geklärt sind die Umstände, weshalb durch die Grenzposten nicht schon die offensichtlich vor der JIRKOWSKY den Sicherungsstreifen überwindenden männlichen Täter gesehen wurden. Die Ausleuchtung wies keine technischen Mängel auf und es lagen keine witterungsbedingten Sehbehinderungen vor. Die einwandfreie Ausleuchtung reicht vom Signalzaun bis zur Grenzmauer. Im Raum zwischen Hinterlandmauer und Signalzaun sind Personen jedoch schwer zu erkennen.
Es ist zu vermuten, daß die Grenzposten den Abschnitt zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht mit hoher Aufmerksamkeit beobachtet haben. Erst mit der Feststellung der Geräusche und der darauffolgenden Signalauslösung bzw. durch den Warnschuß wurden alle in diesem Bereich handelnden Posten aufmerksam und reagierten entsprechend.
Die Auslösung des Signalzaunes erfolgte offensichtlich zufällig durch die umfallende Leiter bei seiner Überwindung durch die JIRKOWSKY, während (...) und (...) bei ihren Handlungen diesen nicht auslösten.
Schlußfolgerungen und Maßnahmen:
Als begünstigende Bedingungen für die Realisierung des Grenzdurchbruchs durch (...) und (...) sowie die Tatsache, daß der Grenzdurchbruch der JIRKOWSKY nur unter Anwendung der Schußwaffe, als einziges noch wirksames Mittel, verhindert werden konnte, sind anzusehen:
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- Die nicht ständig mit hoher Aufmerksamkeit durchgeführte Beobachtung des Sicherungsbereiches durch die Grenzposten an bzw. auf den Postentürmen,
- die Tatsache, daß der mit dem Postenführer handelnde Posten, Soldat (...) als Hundeführer einen nicht ausgebildeten Hund mitführte und demzufolge dieser erstens überhaupt nicht reagierte und zum zweiten jeder Versuch, ihn nach der Feststellung von Geräuschen und der Signalauslösung zum Einsatz zu bringen, völlig mißlang und
- nicht zuletzt die Tatsache, daß die Täter vom Hinterland aus unter Mitführung von Leitern ungehindert in den Sicherungsstreifen der Grenztruppen eindringen und dort dann mit ihren Hilfsmitteln die Signal- und Sperranlagen ohne Auslösung und schnell überwinden konnten.
1. Es ist zu berücksichtigen, daß die Sperr- und Signalwirkung der Grenzsicherungsanlagen mit Hilfsmitteln ausgeschaltet werden kann und eine ständige hohe Aufmerksamkeit der Grenzposten auf psychische Barrieren stößt. Eine vorrangige Schlußfolgerung könnte in diesem Zusammenhang darin bestehen, vor allem die evtl. Überschätzung der technischen Anlagen und der Möglichkeiten der personellen Kräfte abzubauen und die Ausbildung von Hunden und Hundeführern schnellstmöglich auf ein den Erfordernissen entsprechendes Niveau zu bringen und damit das Gesamtsystem letztlich hochwirksam zu ergänzen.
2. Die ungehinderte Annäherung der Täter vom S-Bahnhof Hohen Neuendorf bis zu den Grenzsicherungsanlagen unter Entwendung und Mitführung von Leitern läßt auf Schwächen und Lücken in der Hinterlandsicherung durch die Deutsche Volkspolizei schließen. Diese sind im engen Zusammenwirken von Deutscher Volkspolizei, Transportpolizei und den zuständigen Diensteinheiten des MfS konkret herauszuarbeiten und unter Berücksichtigung der objektiv gegebenen personellen Möglichkeiten sowie durch Verstärkung der Arbeit mit gesellschaftlichen Kräften zu schließen.
3. Bei konsequenter Weiterführung der operativen Maßnahmen der Kreisdienststeile Fürstenwalde hätte der schwere Grenzdurchbruch am 22.11.1980 in Hohen Neuendorf unter Umständen verhindert werden können. Unter Beachtung der im Schreiben des Stellvertreters des Ministers, Genossen Generalmajor Neiber, und der Information der ZKG vom 8. 11. 1980, WS 60/80, gegebenen und aus der inoffiziellen Ausgangsinformation zu entnehmenden Hinweise, daß sich das Vorhaben des (...) die Staatsgrenze zu Westberlin bezieht sowie Leitern eine Rolle spielen sollen, hätte nach der Identifizierung eine umgehende Information an die Bezirksverwaltungen Berlin und Potsdam mit dem Ziel der Einleitung verstärkter Sicherungsmaßnahmen an der Staatsgrenze erfolgen müssen.
Quelle: BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 263, Bl. 43-47.