geboren 1960
erschossen am 2. Februar 1979
auf der Dorfstraße in Seeburg
am Außenring zwischen Seeburg (Kreis Potsdam-Land) und Berlin-Spandau
Auf Wladimir Iwanowitsch Odinzow, einen westlich von Berlin stationierten sowjetischen Soldaten, wird in der Nacht zum 2. Februar 1979 das Feuer eröffnet. Zwei Volkspolizisten halten ihn für einen zur Fahndung ausgeschriebenen Soldaten, der nach West-Berlin fliehen möchte.Am Abend des 1. Februar 1979 verlässt der sowjetische Soldat Wladimir Iwanowitsch Odinzow um 23.00 Uhr seinen Postenbereich, übergibt seine Waffe – eine Kalaschnikow – dem wachhabenden Sergeanten S. und teilt diesem mit, dass er noch in ein Dorf wolle (Dallgow oder Seeburg), um dort eine Gaststätte zu besuchen. [1] Der 18-Jährige leistet seinen Militärdienst im Artillerieregiment der sowjetischen Garnison Elstal, die westlich von Berlin neben anderen Standorten auch im ehemaligen Olympischen Dorf von 1936 untergebracht ist. [2] Wladimir Odinzow schiebt an diesem Tag „Wache im Winterlager zur Sicherung des Autoparks“ – so spätere Informationen aus sowjetischen Militär- und Geheimdienstkreisen an die Volkspolizei in Potsdam. Ein Motiv für sein Vorhaben ist den Akten nicht zu entnehmen, auch nicht, ob es vorgeschoben ist und Odinzow in Wirklichkeit ein anderes Besuchsziel hat. Die Tatsache, dass der vorgesetzte Sergeant den Soldaten im ersten Dienstjahr offenbar davon ziehen lässt, ändert nichts daran, dass sich Wladimir Odinzow damit irregulär von der Truppe entfernt.
Die Nacht vom Donnerstag zum Freitag, dem 2. Februar 1979, in die sich der junge sowjetische Soldat begibt, ist für mitteleuropäische Verhältnisse kalt: Die Temperatur beträgt minus 2 bis minus 5 Grad Celsius bei einer geschlossenen Schneedecke von einigen Zentimetern Höhe. Aus seiner Heimat im Osten Russlands allerdings ist der 18-Jährige zu dieser Jahreszeit um ein Vielfaches kältere Temperaturen gewöhnt. Fast eineinhalb Stunden wird Wladimir Odinzow bis Seeburg unterwegs sein – bekleidet mit einer Armee-Wattejacke, ohne Mantel. Und was sein Ziel in Seeburg betrifft – wenn es denn sein Ziel ist – und was er nicht zu wissen scheint: Die Gaststätte hat donnerstags Ruhetag und ist deshalb geschlossen. [3]
Gut vier Stunden, bevor sich Wladimir Odinzow auf den mehrere Kilometer langen Weg nach Seeburg macht, sind die in der Nacht diensthabenden Volkspolizisten im Volkspolizeikreisamt Potsdam versammelt, wo sie vor allem in die Eilfahndung nach einem sowjetischen Soldaten eingewiesen werden: die Suche gilt Wladimir Kisimow, Jg. 1960, der schon seit dem Tag zuvor von seinem Posten in der Einheit Lynow, Kreis Luckenwalde, abgängig ist – und zwar bewaffnet mit einer MPi Kalaschnikow samt 60 Schuss Munition. [4]
Zu den in die Eilfahndung Eingewiesenen gehören die Schutzpolizisten A. als Streifenführer und Z. als Streifenposten. Die beiden erhalten den Auftrag, einen Beobachtungsposten in Seeburg zu besetzen. „Ihre Aufgabe bestand darin“, so ein Aktenvermerk, „die Personenbewegung aus und in Richtung Staatsgrenze zu beobachten und zu kontrollieren. Bei der Einweisung wurde nochmals auf die Schusswaffengebrauchsvorschrift eingegangen. Die Genossen A. und Z. wurden darauf hingewiesen, dass die sowjetischen Armeeangehörigen nur zu beobachten sind und bei unbedingter Notwendigkeit gehandelt werden darf. Ansonsten sollte sofort das Revier verständigt werden, damit entsprechende Kräfte zum Einsatz kommen.“ [5] Den beiden sei darüber hinaus mitgeteilt worden, dass die „Staatsgrenze“ nur einen Kilometer von ihrem Posten entfernt sei.
Gegen 19.30 Uhr bezieht die Doppel-Streife in einem PKW ihren Posten in der Dorfstraße in Seeburg. Aus dem Wagen heraus erfolgt auch die Beobachtung. Beide sind mit einer Pistole Makarow und 16 Schuss Munition ausgerüstet, der Posten Z. zusätzlich mit einer Maschinenpistole „Kalaschnikow“ und 120 Schuss Munition. Daneben ist ihnen ein Funkhörgerät Typ UFT 720 mitgegeben worden; zudem stehen ihnen eine rote Anhaltelampe zur Verfügung, eine Führungskette und ein Schlagstock. Stundenlang passiert nichts.
Etwa gegen 00.30 Uhr sehen die beiden Volkspolizisten– so ihre Angaben in den späteren Vernehmungen – wie eine „männliche Person aus Richtung F2 in Richtung Staatsgrenze die Dorfstraße in Seeburg etwa in Mitte entlang kam.“ [6] Marschiert ein fahnenflüchtiger Soldat mitten auf einer Dorfstraße offenbar unbesorgt in Richtung Staatsgrenze? Doch beide halten die Person für den Gesuchten. „Von der ganzen Beschreibung her“, so Streifenführer A. wenige Stunden später, „passte die Fahndung auf den Angehörigen der sowjetischen Armee, der vor mir stand. Er hatte lediglich keinen Mantel an, diesen konnte er aber abgelegt haben, und die Schusswaffe konnte er weggeworfen oder an seinem Körper versteckt haben.“ [7]
Sie rufen ihn – ebenfalls ihren eigenen Aussagen zufolge – an („Stoj, Kamerad!“), er rennt weiter. Streifenposten Z. gibt ohne Befehl einen Warnschuss ab, da der Unbekannte seinen Schritt beschleunigt und Richtung Staatsgrenze läuft. Streifenführer A. befiehlt schließlich „Feuer“, Z. schießt erneut. Der sowjetische Armeeangehörige gibt auf und wirft sich auf den schneebedeckten Boden. Auf Befehl steht er auf, folgt auch der Anweisung, zum KfZ zu marschieren – aber der Aufforderung „Hände hoch“ kommt er nicht nach. Ein weiterer Warnschuss folgt, der sowjetische Soldat liegt auf dem Boden, knöpft auf Befehl den ersten Knopf seiner wattierten Jacke auf – und versucht schließlich erneut zu flüchten – und zwar angeblich in Richtung F2.
Der Posten Z. nimmt die Verfolgung auf, doch der Abstand wächst. „Genosse A. rief mir zu, dass ich schießen soll“, schildert der Streifenposten den weiteren Ablauf: „Ich gab einen Feuerstoß aus der Hüfte ab, die Entfernung zum Soldaten war etwa zehn Meter. Da er noch nicht stehen blieb, legte ich die MPi an und gab gezielt einen Feuerstoß, etwa drei Schuss, die Entfernung war ca. 15 Meter. In diesem Moment fiel er sofort zu Boden.“ [8] Während der Getroffene – leise stöhnend – vom Schützen aus gebührendem Abstand „gesichert“ wird, begib sich der Streifenführer mit seinem PKW zu einem Telefon in Seeburg und verständigt die Dienststelle. Nach ca. zehn Minuten, so A., sei er zurück gewesen, habe versucht, den Puls zu fühlen und dabei den Tod des sowjetischen Soldaten festgestellt. [9] Entgegen den Angaben der Doppel-Streife zeigt eine Tatortskizze des Kriminalistischen Instituts der Deutschen Volkspolizei allerdings, dass Wladimir Odinzow nicht in Richtung F2 und Staatsgrenze, sondern zurück in die Richtung flüchtet, aus der er gekommen ist. [10] Und: Hätte er wirklich nach West-Berlin gewollt, hätte er dann nicht schon auf dem Hinweg nach Seeburg einen wesentlich kürzeren Weg zur Grenze einschlagen können?
Die Erschießung des sowjetischen Soldaten löst in der kleinen Gemeinde Seeburg Betriebsamkeit der Untersuchungsorgane aus. [11] Die kriminaltechnische Einsatzgruppe der Volkspolizei dokumentiert im Rücken des Erschossenen einen Einschuss und in dessen Brust einen Ausschuss – abgefeuert aus 18 Meter Entfernung. [12] Um 2.00 Uhr stellt der Chefarzt der Poliklinik der BDVP Potsdam einen Totenschein für „Unbekannt“ aus – wegen einer „Schussverletzung im Thoraxbereich“.
Um 5.00 Uhr wird die Leiche der sowjetischen Dienststelle „Gerichtliche Medizin“ übergeben. [13] Deren Obduktionsergebnis ist eindeutig: Der Tod ist durch einen Rückenschuss eingetreten, der zu einer Verletzung der Brust, insbesondere von Herz und Lunge, geführt hat. [14] Im Blut des Getöteten wird kein Alkohol festgestellt. [15]
Bei der Durchsuchung des zunächst unbekannten Toten findet die Potsdamer Kripo zwei Briefe und eine Glückwunschkarte zum Neuen Jahr, die an Wladimir Iwan Odinzow, Feldpost-Nr. 47490 „L“, adressiert sind. Dessen Identität wird von sowjetischer Seite bald bestätigt, ohne der Volkspolizei jedoch weitere persönliche Daten mitzuteilen. Zum Inhalt der Briefe könne gesagt werden, halten die Potsdamer Ermittler fest, „dass der größte Teil allgemeine persönliche Probleme und Mitteilungen über die Verwandtschaft und andere Bezugspersonen ist. (…) Weitere persönliche Probleme waren in den Briefen nicht erkennbar.“ [16]
Warum macht sich Wladimir Odinzow in der späten Nacht des 1. Februar 1979 auf den Weg nach Seeburg? Und warum lässt sein Vorgesetzter das zu? Wenn er nach West-Berlin hätte flüchten wollen – warum gibt er dann vorher seine Maschinenpistole ab? Und warum dann eine Flucht über den Umweg Seeburg, und nicht von der Garnison Elstal aus auf dem kürzest möglichen Weg? Und: Marschiert ein Flüchtling mitten auf der Straße? Will Odinzow in Seeburg tatsächlich eine Gaststätte aufsuchen – oder hat er möglicherweise ein anderes Ziel? Was erfährt seine Familie über seinen Tod – und wo ist Wladimir Odinzow beerdigt? Auf all diese Fragen geben die bisher aufgefundenen Akten keine Antwort.
Das zeitlich in den überlieferten Unterlagen zuletzt enthaltene Schreiben gilt der Klärung der Verantwortung der Volkspolizisten. Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Schützen wird gemäß § 96, Abs. 1 StPO, am 5. März 1979 abgesehen: „Durch die Übereinstimmung der Personenbeschreibung des Geschädigten mit dem in Fahndung stehenden Soldaten der sowjetischen Armee waren die Genossen der Annahme, dass es sich um den in Fahndung stehenden Soldaten handelt. Seine wiederholten intensiven Fluchtversuche bestärkten sie in dieser Annahme. Da der Geschädigte der Aufforderung stehen zu bleiben nicht Folge leistete und auch nach Abgabe von Warnschüssen die Flucht fortsetzte, wurden gezielte Schüsse abgegeben. Damit wurde entsprechend der Schusswaffengebrauchsvorschrift und der vorangegangenen Einweisung der Dienstvorgesetzten gehandelt.“ [17]
22 Stunden nach der Erschießung von Wladimir Iwanowitsch Odinzow in Seeburg wird der zur Eilfahndung ausgeschriebene sowjetische Soldat Wladimir Kisimow von Kräften der eigenen Armee auf dem sowjetischen Übungsgelände im Raum Merzdorf Kreis Luckenwalde festgenommen: „Waffe und Munition vollzählig. Fahndung wurde gelöscht“, heißt es abschließend im Rapport der Volkspolizei. [18]
Text: Hans-Hermann Hertle
Die Nacht vom Donnerstag zum Freitag, dem 2. Februar 1979, in die sich der junge sowjetische Soldat begibt, ist für mitteleuropäische Verhältnisse kalt: Die Temperatur beträgt minus 2 bis minus 5 Grad Celsius bei einer geschlossenen Schneedecke von einigen Zentimetern Höhe. Aus seiner Heimat im Osten Russlands allerdings ist der 18-Jährige zu dieser Jahreszeit um ein Vielfaches kältere Temperaturen gewöhnt. Fast eineinhalb Stunden wird Wladimir Odinzow bis Seeburg unterwegs sein – bekleidet mit einer Armee-Wattejacke, ohne Mantel. Und was sein Ziel in Seeburg betrifft – wenn es denn sein Ziel ist – und was er nicht zu wissen scheint: Die Gaststätte hat donnerstags Ruhetag und ist deshalb geschlossen. [3]
Gut vier Stunden, bevor sich Wladimir Odinzow auf den mehrere Kilometer langen Weg nach Seeburg macht, sind die in der Nacht diensthabenden Volkspolizisten im Volkspolizeikreisamt Potsdam versammelt, wo sie vor allem in die Eilfahndung nach einem sowjetischen Soldaten eingewiesen werden: die Suche gilt Wladimir Kisimow, Jg. 1960, der schon seit dem Tag zuvor von seinem Posten in der Einheit Lynow, Kreis Luckenwalde, abgängig ist – und zwar bewaffnet mit einer MPi Kalaschnikow samt 60 Schuss Munition. [4]
Zu den in die Eilfahndung Eingewiesenen gehören die Schutzpolizisten A. als Streifenführer und Z. als Streifenposten. Die beiden erhalten den Auftrag, einen Beobachtungsposten in Seeburg zu besetzen. „Ihre Aufgabe bestand darin“, so ein Aktenvermerk, „die Personenbewegung aus und in Richtung Staatsgrenze zu beobachten und zu kontrollieren. Bei der Einweisung wurde nochmals auf die Schusswaffengebrauchsvorschrift eingegangen. Die Genossen A. und Z. wurden darauf hingewiesen, dass die sowjetischen Armeeangehörigen nur zu beobachten sind und bei unbedingter Notwendigkeit gehandelt werden darf. Ansonsten sollte sofort das Revier verständigt werden, damit entsprechende Kräfte zum Einsatz kommen.“ [5] Den beiden sei darüber hinaus mitgeteilt worden, dass die „Staatsgrenze“ nur einen Kilometer von ihrem Posten entfernt sei.
Gegen 19.30 Uhr bezieht die Doppel-Streife in einem PKW ihren Posten in der Dorfstraße in Seeburg. Aus dem Wagen heraus erfolgt auch die Beobachtung. Beide sind mit einer Pistole Makarow und 16 Schuss Munition ausgerüstet, der Posten Z. zusätzlich mit einer Maschinenpistole „Kalaschnikow“ und 120 Schuss Munition. Daneben ist ihnen ein Funkhörgerät Typ UFT 720 mitgegeben worden; zudem stehen ihnen eine rote Anhaltelampe zur Verfügung, eine Führungskette und ein Schlagstock. Stundenlang passiert nichts.
Etwa gegen 00.30 Uhr sehen die beiden Volkspolizisten– so ihre Angaben in den späteren Vernehmungen – wie eine „männliche Person aus Richtung F2 in Richtung Staatsgrenze die Dorfstraße in Seeburg etwa in Mitte entlang kam.“ [6] Marschiert ein fahnenflüchtiger Soldat mitten auf einer Dorfstraße offenbar unbesorgt in Richtung Staatsgrenze? Doch beide halten die Person für den Gesuchten. „Von der ganzen Beschreibung her“, so Streifenführer A. wenige Stunden später, „passte die Fahndung auf den Angehörigen der sowjetischen Armee, der vor mir stand. Er hatte lediglich keinen Mantel an, diesen konnte er aber abgelegt haben, und die Schusswaffe konnte er weggeworfen oder an seinem Körper versteckt haben.“ [7]
Sie rufen ihn – ebenfalls ihren eigenen Aussagen zufolge – an („Stoj, Kamerad!“), er rennt weiter. Streifenposten Z. gibt ohne Befehl einen Warnschuss ab, da der Unbekannte seinen Schritt beschleunigt und Richtung Staatsgrenze läuft. Streifenführer A. befiehlt schließlich „Feuer“, Z. schießt erneut. Der sowjetische Armeeangehörige gibt auf und wirft sich auf den schneebedeckten Boden. Auf Befehl steht er auf, folgt auch der Anweisung, zum KfZ zu marschieren – aber der Aufforderung „Hände hoch“ kommt er nicht nach. Ein weiterer Warnschuss folgt, der sowjetische Soldat liegt auf dem Boden, knöpft auf Befehl den ersten Knopf seiner wattierten Jacke auf – und versucht schließlich erneut zu flüchten – und zwar angeblich in Richtung F2.
Der Posten Z. nimmt die Verfolgung auf, doch der Abstand wächst. „Genosse A. rief mir zu, dass ich schießen soll“, schildert der Streifenposten den weiteren Ablauf: „Ich gab einen Feuerstoß aus der Hüfte ab, die Entfernung zum Soldaten war etwa zehn Meter. Da er noch nicht stehen blieb, legte ich die MPi an und gab gezielt einen Feuerstoß, etwa drei Schuss, die Entfernung war ca. 15 Meter. In diesem Moment fiel er sofort zu Boden.“ [8] Während der Getroffene – leise stöhnend – vom Schützen aus gebührendem Abstand „gesichert“ wird, begib sich der Streifenführer mit seinem PKW zu einem Telefon in Seeburg und verständigt die Dienststelle. Nach ca. zehn Minuten, so A., sei er zurück gewesen, habe versucht, den Puls zu fühlen und dabei den Tod des sowjetischen Soldaten festgestellt. [9] Entgegen den Angaben der Doppel-Streife zeigt eine Tatortskizze des Kriminalistischen Instituts der Deutschen Volkspolizei allerdings, dass Wladimir Odinzow nicht in Richtung F2 und Staatsgrenze, sondern zurück in die Richtung flüchtet, aus der er gekommen ist. [10] Und: Hätte er wirklich nach West-Berlin gewollt, hätte er dann nicht schon auf dem Hinweg nach Seeburg einen wesentlich kürzeren Weg zur Grenze einschlagen können?
Die Erschießung des sowjetischen Soldaten löst in der kleinen Gemeinde Seeburg Betriebsamkeit der Untersuchungsorgane aus. [11] Die kriminaltechnische Einsatzgruppe der Volkspolizei dokumentiert im Rücken des Erschossenen einen Einschuss und in dessen Brust einen Ausschuss – abgefeuert aus 18 Meter Entfernung. [12] Um 2.00 Uhr stellt der Chefarzt der Poliklinik der BDVP Potsdam einen Totenschein für „Unbekannt“ aus – wegen einer „Schussverletzung im Thoraxbereich“.
Um 5.00 Uhr wird die Leiche der sowjetischen Dienststelle „Gerichtliche Medizin“ übergeben. [13] Deren Obduktionsergebnis ist eindeutig: Der Tod ist durch einen Rückenschuss eingetreten, der zu einer Verletzung der Brust, insbesondere von Herz und Lunge, geführt hat. [14] Im Blut des Getöteten wird kein Alkohol festgestellt. [15]
Bei der Durchsuchung des zunächst unbekannten Toten findet die Potsdamer Kripo zwei Briefe und eine Glückwunschkarte zum Neuen Jahr, die an Wladimir Iwan Odinzow, Feldpost-Nr. 47490 „L“, adressiert sind. Dessen Identität wird von sowjetischer Seite bald bestätigt, ohne der Volkspolizei jedoch weitere persönliche Daten mitzuteilen. Zum Inhalt der Briefe könne gesagt werden, halten die Potsdamer Ermittler fest, „dass der größte Teil allgemeine persönliche Probleme und Mitteilungen über die Verwandtschaft und andere Bezugspersonen ist. (…) Weitere persönliche Probleme waren in den Briefen nicht erkennbar.“ [16]
Warum macht sich Wladimir Odinzow in der späten Nacht des 1. Februar 1979 auf den Weg nach Seeburg? Und warum lässt sein Vorgesetzter das zu? Wenn er nach West-Berlin hätte flüchten wollen – warum gibt er dann vorher seine Maschinenpistole ab? Und warum dann eine Flucht über den Umweg Seeburg, und nicht von der Garnison Elstal aus auf dem kürzest möglichen Weg? Und: Marschiert ein Flüchtling mitten auf der Straße? Will Odinzow in Seeburg tatsächlich eine Gaststätte aufsuchen – oder hat er möglicherweise ein anderes Ziel? Was erfährt seine Familie über seinen Tod – und wo ist Wladimir Odinzow beerdigt? Auf all diese Fragen geben die bisher aufgefundenen Akten keine Antwort.
Das zeitlich in den überlieferten Unterlagen zuletzt enthaltene Schreiben gilt der Klärung der Verantwortung der Volkspolizisten. Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Schützen wird gemäß § 96, Abs. 1 StPO, am 5. März 1979 abgesehen: „Durch die Übereinstimmung der Personenbeschreibung des Geschädigten mit dem in Fahndung stehenden Soldaten der sowjetischen Armee waren die Genossen der Annahme, dass es sich um den in Fahndung stehenden Soldaten handelt. Seine wiederholten intensiven Fluchtversuche bestärkten sie in dieser Annahme. Da der Geschädigte der Aufforderung stehen zu bleiben nicht Folge leistete und auch nach Abgabe von Warnschüssen die Flucht fortsetzte, wurden gezielte Schüsse abgegeben. Damit wurde entsprechend der Schusswaffengebrauchsvorschrift und der vorangegangenen Einweisung der Dienstvorgesetzten gehandelt.“ [17]
22 Stunden nach der Erschießung von Wladimir Iwanowitsch Odinzow in Seeburg wird der zur Eilfahndung ausgeschriebene sowjetische Soldat Wladimir Kisimow von Kräften der eigenen Armee auf dem sowjetischen Übungsgelände im Raum Merzdorf Kreis Luckenwalde festgenommen: „Waffe und Munition vollzählig. Fahndung wurde gelöscht“, heißt es abschließend im Rapport der Volkspolizei. [18]
Text: Hans-Hermann Hertle
[1]
Vgl. 63. gerichtsmedizinisches Laboratorium GSSD, Gerichtsmedizinisches Gutachten Nr. 48 zur Untersuchung der Leiche des Odinzow W.I., 13.2.1979, S. 1 (BA, DVW 13/97745, Bl. 45) sowie BDVP Potsdam/Abt. Kriminalpolizei, Protokoll (über eine Information des sowjetischen Sicherheitsorgans zur Identifizierung von W. I. Odinzow), Potsdam, 2.2.1979 (BA, DVW 13/97745, Bl. 66).
[2]
Das genaue Geburtsdatum von Wladimir I. Odinzow ist bislang nicht bekannt, nur sein Jahrgang 1960, so dass er vermutlich Anfang Februar 1979 noch 18 Jahre alt war. – Die bislang aufgefundenen Akten wurden unter der Tagebuch-Nr. 361/79 und der Bezeichnung „unnatürlicher Tod eines sowjetischen Militärangehörigen“ von der Abteilung Kriminalpolizei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Potsdam angelegt. Die BDVP Potsdam übersandte die Originalakte am 6. März 1979 an den Militäroberstaatsanwalt/Abteilung I in Berlin. Kopien der meisten, aber nicht aller Dokumente blieben im Aktenbestand der BDVP Potsdam und sind im Brandenburgischen Landeshauptarchiv einsehbar (BLHA, Rep 471, BDVP Potsdam Nr. 1239). Die Original-Akte fand ihren Weg in das Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg (BA, DVW 13/97745); die in der Akte ebenfalls abgelegten Patronenhülsen wurden im Militärarchiv bei der Verzeichnung der Akte im Oktober 2003 vernichtet.
[3]
Vgl. BDVP Potsdam/Abt. Kriminalpolizei, Protokoll (über die Öffnungszeiten der Gaststätte Seeburg), Potsdam, 2.2.1979 (BA, DVW 13/97745, Bl. 22).
[4]
„Für die Kreise LUK, ZSN, KWH, BLZ, JBG, PDM und TPR JBG, Seddin und PDM wurde die Eilfahndung Stufe I und für die anderen Dienststellen des Bezirks Potsdams die Eilfahndung Stufe II eingeleitet.“ (BDVP Potsdam, ODH-Rapport Nr. 31, 31.1. – 1.2.1979, 6.00 Uhr, S. 3, in: BLHA, Rep 471, BDVP Potsdam Nr. 617).
[5]
BDVP Potsdam/Abt. K., Protokoll über die Befragung des X. (Ultn. der VP) am 1.2.79, 19h, Potsdam, den 2.2.1979, S. 1 (BA, DVW 13/97745, Bl. 23).
[6]
Abt. K/BDVP Potsdam, Vernehmungsprotokoll A., Potsdam, 2.2.1979, 7.45 Uhr, S. 3 (BA, DVW 13/97745, Bl. 15).
[7]
Vgl. Abt. K/BDVP Potsdam, Vernehmungsprotokoll A., Potsdam, 2.2.1979, 7.45 Uhr, S. 6 (BA, DVW 13/97745, Bl. 16).
[8]
Abt. K/BDVP Potsdam, Vernehmungsprotokoll Z., Potsdam, 2.2.1979, 5.00 Uhr, S. 5 (BA, DVW 13/97745, Bl. 7).
[9]
Vgl. Abt. K/BDVP Potsdam, Vernehmungsprotokoll A., Potsdam, 2.2.1979, 7.45 Uhr, S. 5 (BA, DVW 13/97745, Bl. 7).
[10]
DDR-Ministerrat/Ministerium des Innern/Kriminalistisches Institut der Deutschen Volkspolizei, Tatortskizze, Potsdam, 12.2.1979 (BA, DVW 13/97745, Bl. 83/84).
[11]
Zum Einsatz gelangten in dieser Nacht der Leiter, der Leitungsdienst, die Diensthabenden-Gruppe und die Morduntersuchungskommission des Potsdamer Volkspolizeikreisamtes bzw. der Potsdamer BDVP, die sowjetische Kommandantur, die sowjetische Gerichtsmedizin, der sowjetische Militärstaatsanwalt, der Staatsanwalt Potsdam/Land und die Militärstaatsanwalt der Nationalen Volksarmee sowie vermutlich mehrere Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit. - Erstaunlicherweise konnten im Stasiunterlagen-Archiv (BStU) keine Unterlagen zur Erschießung von Wladimir Odinzow aufgefunden werden.
[12]
Vgl. VPKA Potsdam/K, Protokoll über kriminaltechnische Tatortarbeit, 2.2.1979 (BA, DVW 13/97745, Bl. 69).
[13]
Vgl. VPKA Potsdam/K, Protokoll über kriminaltechnische Tatortarbeit, 2.2.1979, Anhang zum KP 11e (BA, DVW 13/97745, Bl. 70).
[14]
Vgl. 63. gerichtsmedizinisches Laboratorium GSSD, Gerichtsmedizinisches Gutachten Nr. 48 zur Untersuchung der Leiche des Odinzow W.I., 13.2.1979, S. 1-6 (BA, DVW 13/97745, Bl. 45-50).
[15]
Krankenhaus der Volkspolizei/Institut für forensische Alkoholbegutachtung, Befundbericht über die Untersuchung auf Äthanolkonzentration, Berlin, 12.2.1979, S. 1 (BA, DVW 13/97745, Bl. 57).
[16]
BDVP Potsdam/Kriminalpolizei, Protokoll (über die Durchsuchung der Bekleidung des Geschädigten), Potsdam, 2.2.1979 (BA, DVW 13/97745, Bl. 67).
[17]
BDVP Potsdam/Abt. Kriminalpolizei, Vorschlag von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gemäß § 96, Abs. 1 StPO abzusehen, Potsdam, den 5.3.1979, S. 3/4 (BA, DVW 13/97745, Bl. 87/88).
[18]
BDVP Potsdam, ODH-Rapport Nr. 33, 2.2. - 3.2.1979, 6.00 Uhr, S. 3 (BLHA, Rep 471, BDVP Potsdam Nr. 617).