Chris Gueffroy: Brief von Stasi-Minister Erich Mielke an Erich Honecker über die westlichen Reaktionen
25. Februar 1989
Generalsekretärdes Zentralkomitees der SED
Vorsitzender des Staatsrates der DDR
Genossen Erich Honecker
Berlin
Lieber Erich!
Die Untersuchungen über nähere Umstände und das Zustandekommen der westlichen Reaktion auf den Dir bekannten Vorfall an der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin haben ergeben:
Am 5. Februar 1989, 23.40 Uhr waren im Sicherungsabschnitt der Grenztruppen der DDR, Berlin-Treptow, Britzer Allee/Straße Nr. 16 die Bürger aus der Hauptstadt der DDR,
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G u e f f r o y , Chris (20) und
(...), (20)
Am 6. Februar 1989, 4.00 Uhr verbreitete der private Sender "Hundert,6" eine Meldung, wonach ein Einwohner Westberlins den Abtransport einer Person nach Schußwaffenanwendung wahrgenommen hatte.
Seitens des MfS wurden im Zusammenwirken mit dem Militäroberstaatsanwalt Maßnahmen ergriffen, um einer weiteren Ausnutzung des Vorkommnisses zum Schaden der DDR vorzubeugen. Dazu gehörte, die gesetzlich erforderlichen Mitteilungen an Betroffene auf das notwendige Minimum zu beschränken, gleichzeitig aber auch keinen Vorwand für mögliche Behauptungen zu liefern, die DDR wolle etwas vertuschen. Dementsprechend wurde am 7. Februar 1989 der Mutter des Gueffroy durch den zuständigen Militärstaatsanwalt mitgeteilt, daß ihr Sohn einen Angriff auf einen militärischen Sperrbereich durchführte, sich den Maßnahmen der Sicherungskräfte widersetzte, dabei verletzt wurde und trotz unverzüglich eingeleiteter medizinischer Versorgung im Krankenhaus verstarb.
Im Kreise der Familienangehörigen des Gueffroy wurde zwischen seinem Tod und einer ihnen sowohl durch akustische Eigenfeststellung (sie wohnen in unmittelbarer Nähe des Ereignisortes und hörten die Schüsse) als auch durch die in westlichen Medien verbreitete Meldung einer Schußwaffenanwendung in Berlin-Treptow selbständig eine Verbindung hergestellt.
Noch am 7. Februar 1989 und an folgenden Tagen haben die Mutter sowie der von ihr unterrichtete Bruder des Verstorbenen dessen Freundes- und Bekanntenkreis sowie eigene Arbeitskollegen über den Tod des Gueffroy und ihre Vermutungen informiert.
Darüber hinaus informierte die Mutter des verletzten (...) ihren nach Westberlin übergesiedelten ehemaligen Ehemann in ähnlicher Weise .
Unmittelbar nach der Information der Mutter des Gueffroy über dessen Tod vereinbarte sie mit der entsprechenden staatlichen Einrichtung den Bestattungstermin für den 23. Februar 1989. Die Veröffentlichung der durch den zweiten Sohn der Gueffroy aufgegebenen Todesanzeige in der "Berliner Zeitung" am 21. Februar 1989 konnte nicht verhindert werden, um auch im Hinblick auf den störungsfreien Ablauf der Beisetzung keine negativen Reaktionen der Angehörigen hervorzurufen und keinen Vorwand für Behauptungen im Sinn von Vertuschung zu bieten. Außerdem belegen interne Hinweise, daß gegnerischen Kräften bereits vor Veröffentlichung der Todesanzeige die näheren Umstände bekannt waren.
Am 23. Februar 1989, 14.00 Uhr fand die Trauerfeier und Urnenbeisetzung des Gueffroy, Chris statt, wobei jederzeit der Charakter einer normalen Beisetzung gewahrt wurde. An ihr nahmen ca. 80 bis 100 Trauergäste teil. Durch anwesende ca. 15 westliche Journalisten (u. a. ARD, ZDF, AP, AFP, ARD-Hörfunk, "Rheinische Presse", Reuter) erfolgten bereits gegen 13.00 Uhr in unterschiedlicher Art und Weise Film- und Fotoaufnahmen von der Formierung des Trauerzuges. Entgegen der Aufforderung des Leiters des Krematoriums verschafften sich sieben Journalisten Zutritt zur Trauerhalle. Bei Nichtgewährung des Zutritts beabsichtigten sie, öffentlichkeitswirksame Konfrontationen mit den Sicherheitsorganen herbeizuführen. Während der Trauerfeier wurde keine journalistische Tätigkeit festgestellt.
Die Urnenbeisetzung und die Auflösung der Trauergemeinschaft verliefen ohne Vorkommnisse. In diesem Zusammenhang fertigten die Journalisten Fotoaufnahmen. Eine Gesprächsführung mit einzelnen Trauergästen kann nicht ausgeschlossen werden.
Nach Bekanntwerden gegnerischer Absichten zur Entfaltung einer weiteren Kampagne um einen "zweiten Toten" wurde auf operativem Wege lanciert, daß der Totgesagte lebt.
Im Zusammenhang mit dem Zwischenfall vom 5./6. Februar 1989 und in dessen Auswertung wurden Maßnahmen veranlaßt, daß
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- weitere mit dem Tod des Gueffroy im Zusammenhang stehende Aktivitäten westlicher Journalisten oder feindlich-negativer Kräfte wie z. B. zur Aufklärung der am Zwischenfall beteiligten Angehörigen der Grenztruppen der DDR oder zum Mißbrauch des Zeugen (...) für journalistische oder andere gegen die DDR gerichtete Zwecke unterbunden werden;
- noch gründlicher und umfassender geprüft wird, welche Einflußmöglichkeiten zu nutzen sind, um das Zusammenfallen von gegnerischerseits nutzbaren Maßnahmen mit bestimmten Aktivitäten der Partei- und Staatsführung auszuschließen.
Quelle: BStU, MfS, ZAIGNr. 15217, Bl. 14-16