Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Mike S. und Ingo H. vom 14. März 1994
Fall Chris Gueffroy
Abschrift [Auszug]Landgericht Berlin
Az.: (527) 2 Js 48/90 Ks (3/93) 14. März 1994
URTEIL
Im Namen des Volkes
In der Strafsache gegen
-
1. Mike S.
geboren 1964
2. Ingo H.
geboren 1965
Die 27. große Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Berlin hat [...] in der Sitzung vom 14. März 1994 für Recht erkannt:
1. Der Angeklagte H. wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 2 (zwei) Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
Insoweit trägt er die Kosten des Verfahrens sowie seine und die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
2. Der Angeklagte S. wird freigesprochen.
Die Landeskasse Berlin trägt die insoweit entstandenen Kosten und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
Dem Angeklagten S. steht für die in der Zeit vom 14. Juni 1991 bis zum 19. Juli 1991 erlittene Untersuchungshaft eine Entschädigung zu.
Angewendete Strafvorschriften (für den Angeklagten H.):
§§ 212, 213, 56 StGB.
Gründe:
[...]
(abgekürzte Fassung gemäß § 267 Abs. 4 StPO für den Angeklagten H.)
[...]
IV. [Strafzumessung (für den Angeklagten Ingo H.)]
1. Bei der Strafzumessung ist die Schwurgerichtskammer von einem „sonstigen minder schweren Fall" des Totschlags im Sinne des § 213 Alternative 2 StGB ausgegangen, da die Tat in ihrem gesamten Erscheinungsbild so deutlich von üblicherweise vorkommenden Fällen des Totschlags abweicht, dass die Anwendung des Regelstrafrahmens des § 212 Abs. 1 StGB unangemessen hart wäre. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Tat und der Person des Angeklagten bei der Strafrahmen wähl war zu bedenken, dass der Angeklagte H. vor dem Hintergrund des in der damaligen DDR herrschenden unmenschlichen Zwangssystems mit allen Mitteln der Massenpsychologie zu blinder Einseitigkeit und einem beschränkten Weltbild erzogen worden ist, dem er seiner Persönlichkeit und Bildung nach nur wenig entgegenzusetzen hatte. Auch war zu bedenken, dass all diejenigen, die zur Deformierung des Rechtsbewußtseins der Grenzsoldaten beigetragen haben, dafür nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, weil das Gesetz hierfür keinen Straftatbestand kennt. Zudem befand sich der Angeklagte H. in einer außergewöhnlichen, sich für ihn nie wiederholenden Lebenssituation. Zwar würden diese Umstände allein die Anwendung des § 213 StGB nicht rechtfertigen. Hinzu kommt aber, dass der Angeklagte in einem vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt hat. Diese Gründe zusammengenommen rechtfertigen es, die Tat als minder schweren sonstigen Fall zu werten.
Eine weitere Milderung des Strafrahmens des § 213 StGB gemäß §§ 17 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB hat die Schwurgerichtskammer nicht vorgenommen, da der Umstand, dass der Angeklagte im vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt hat, wesentlich zur Annahme eines minder schweren Falles beigetragen hat und gemäß § 50 StGB nur einmal berücksichtigt werden durfte. Innerhalb des danach eröffneten Strafrahmens von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe hat sich die Schwurgerichtskammer bei der Strafzumessung von folgenden Erwägungen leiten lassen:
Zu Lasten des Angeklagten H. war strafschärfend zu bedenken, dass der äußere Tathergang - ein gezielter Schuss auf den Oberkörper des an die Mauer gelehnten unbewaffneten Chris Gueffroy aus einer relativ kurzen Entfernung von ca. 39 m geradezu einer Hinrichtung gleichkam. Demgegenüber überwogen jedoch die strafmildernden Gesichtspunkte: Der Angeklagte ist bisher unbestraft. Sein Lebensweg ist auch nach der Tat sozial unauffällig verlaufen. Er handelte lediglich mit bedingtem Vorsatz, auf Befehl und nicht im eigenen Interesse. Den äußeren Tatablauf hat er eingeräumt und damit zur Aufklärung beigetragen. Das Fehlen von Einsicht und Reue ist ihm nicht strafschärfend angerechnet worden. Von einem Angeklagten, der den Tatvorwurf bestreitet, kann keine Reue verlangt werden [...]. Die Tat liegt inzwischen längere Zeit zurück. Infolge der Dauer des Strafverfahrens, das in der Öffentlichkeit besondere Beachtung fand, hat der Angeklagte erhebliche Belastungen und auch Untersuchungshaft hinnehmen müssen. Hinzu kommt, dass er in der militärischen Hierarchie ganz unten stand und sein Handlungsspielraum begrenzt war. Er hätte allenfalls gezielt daneben schießen oder den Befehl mit möglichen disziplinarischen Konsequenzen verweigern können. Soweit der BGH mit Urteil vom 25. März 1993 Seite 39 UA 2. Absatz der Schwurgerichtskammer vorgegeben hat, mildernd zu berücksichtigen, dass der Angeklagte „in gewisser Weise auch Opfer des Grenzregimes" gewesen ist und dass höhere Funktionsträger, die über einen größeren Überblick und differenziertere Ausbildung verfügten, bisher nicht zur Verantwortung gezogen worden sind, hat das Gericht diese Gesichtspunkte angemessen zu Gunsten des Angeklagten H. bedacht.
Entscheidendes Gewicht kam dem entgegen der Auffassung der Verteidigung jedoch nicht zu. Der Versuch, die Mauerschützen als eigentliche „Opfer" darzustellen, während Gueffroy und G. das Risiko tödlicher Verletzungen hartnäckig zunehmend gesucht hätten, obwohl bereits Schüsse fielen, überzeugen nicht.
Dem Angeklagten H. wird nicht Gesetzestreue und Pflichtbewusstsein vorgeworfen, wie die Verteidigung meint, sondern die eigenhändige, rechtswidrige Verursachung des Todes des Chris Gueffroy und damit eine schwerwiegende Rechtsgutverletzung.
Angesichts von mindestens 200 Toten als Opfer des Grenzregimes der DDR - neuere Schätzungen deuten sogar auf eine weit höhere Zahl von Opfern - ist die in Gesten kennbar gewordene Verständnis- und Fassungslosigkeit nachvollziehbar, mit der die Nebenklägerin und Angehörige des Getöteten auf den Versuch reagierten, sie in den Reihen der Schützen zu suchen. Weiterhin war zu bedenken, dass die Schwurgerichtskammer inzwischen auch Funktionäre der Führungsebene der DDR wegen Todesfälle an der Mauer zu empfindlichen Freiheitsstrafen verurteilt hat und Verfahren gegen hohe Funktionsträger des DDR-Regimes anhängig sind.
Zudem kam die Frage ob und wie andere Straftäter verfolgt werden, als Faktor außerhalb der Tat allenfalls mittelbaren Einfluss auf die Schuld des Täters, die Grundlage der Strafzumessung ist (§ 46 Abs. 1 StGB), haben. Inwieweit das Fehlverhalten der Führungskräfte und Funktionsträger und die darauf abzielenden Strafverfolgungsbemühungen vergleichbar sind mit der eigenhändigen Erfolgsverursachung, mag dahinstehen. Bei der Strafzumessung kommt es nicht auf „Rechtsgleichheit", sondern auf „Rechtsrichtigkeit" (BGH [St] 28, 318, 324). Selbst bei Mittätern mit vermeintlich gleicher oder vermeintlich abgestufter Beteiligung sind Vergleichsmöglichkeiten zum Maß der Schuld gering. Vielmehr ist in jedem Einzelfall unter Abwägung aller Umstände die angemessene Strafe aus der Sache selbst zu finden (BGH 3 StR 178/79 bei Schmidt, MDR 1979,4, 886). Entscheidende Bedeutung vermochte die Schwurgerichtskammer danach dem Umstand, ob und wie Funktionsträger der DDR verfolgt werden, nicht beizumessen. Unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten H. sprechenden Umstände, bedenkend, dass spezialpräventive Einwirkung angesichts des Ausnahmecharakters der Tat maßvoll zu erfolgen hat und dass generalpräventive Erwägungen angesichts des Untergangs des Grenzregimes der DDR bedeutungslos sind und somit vorrangiger Strafzweck die Sühne für begangenes Unrecht war, hat die Schwurgerichtskammer eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren als erforderlich, aber auch ausreichend und schuldangemessen verhängt.
2. Gemäß § 56 Abs. 1 und 2 StGB hat die Strafkammer diese Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Angesichts des bisherigen straffreien Lebensweges des Angeklagten und seines unauffälligen Nachtatverhaltens ist zu erwarten, daß er sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine strafbaren Handlungen mehr begehen wird.
Im Fall der hier erkannten Freiheitsstrafe über einem Jahr reicht indes eine günstige Prognose allein nicht aus, um eine Bewährungsaussetzung zu tragen. Hier lagen jedoch besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB bei der Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit vor, die eine Strafaussetzung ermöglichen. Als solche Umstände wertet das Gericht das bedingt vorsätzliche Handeln auf Befehl und den eingeschränkten Handlungsspielraum des Angeklagten, der langjähriger Indoktrination und Deformierung des Rechtsbewußtseins in Schule, Massenorganisation und Politunterricht ausgesetzt war.
[...]
Quelle: StA Berlin, Az. 2 Js 48/90, Bd. 19, Bl. 59-60, 67-71; das Urteil ist vollständig abgedruckt in: Klaus Marxen/Gerhard Werle, Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Bd. 2, 1. Teilband, Berlin 2002, S. 89-101.