Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Dietmar S. vom 10. Mai 2004
Auszüge, Az. 27 Js/56 Js 275/03; Fall René Gross, erschossen an der Berliner Mauer
Abschrift [Auszug]
Landgericht Berlin
Az.: (529) 27 Js / 56 Js 275/03 Ks (9/03) 10. Mai 2004
URTEIL
Im Namen des Volkes
In der Strafsache gegen
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1. Dietmar S., geboren 1963
Die 29. große Strafkammer- Schwurgericht des Landgerichts Berlin hat [...] in der Sitzung vom 10. Mai 2004 für Recht erkannt:
Der Angeklagte wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
Im Übrigen wird er freigesprochen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, soweit er verurteilt wurde. Im Übrigen fallen die Kosten des Verfahrens und die ihm insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Landeskasse Berlin zur Last.
Angewendete Vorschriften:
§112 StGB/DDR i.V.m. §§ 212, 213 a.F., 2 Abs. 1 und Abs. 3, 17, 49 StGB, Art. 315 EGStGB.
Gründe:
[...] II. [Sachverhaltsfeststellungen]
[...]
5. Grenzzwischenfall vom 21. November 1986
René Groß, 22 Jahre alt, und Manfred Mäder, 38 Jahre alt, hatten zur Durchführung ihres Fluchtplanes einen LKW der Gattung W-50 mit einem großen Kofferaufbau, - dessen Höhe mit über drei Metern fast die Höhe der Mauer erreichte -, gestohlen. Mit diesem Fahrzeug näherten sie sich am frühen Morgen des 21. November 1986 gegen 5.00 Uhr entlang der Karpfenteichstraße mit hoher Geschwindigkeit der Hinterlandsicherungsmauer, durchbrachen diese in Höhe eines Tores sowie den dahinter liegenden Signalzaun, durch den folglich optischer und akustischer Alarm ausgelöst wurde. Wer von beiden das Fahrzeug führte, konnte nicht festgestellt werden. Ebenso wenig konnte festgestellt werden, wo sich der „Beifahrer" in dem Fahrzeug genau befand, d. h., ob er auf dem Beifahrersitz saß, sich im Fußraum verbarg oder sich in dem geschlossenen Kofferaufbau aufhielt.
Die Grenze verlief hier zwischen den Stadtteilen Treptow im Osten und Neukölln im Westen Berlins. Innerhalb der ungefähr 50 m breiten Grenzanlagen in einem Abstand von circa 40 m zur Mauer hin, befand sich in Fahrtrichtung des LKW ca. 50 m links neben der Karpfenteichstraße, die im rechten Winkel auf das Grenzgebiet zulief und dort endete, ein Beobachtungsturm der Grenzanlagen. Auf diesem Turm hatten der Angeklagte und der Zeuge S. als sein Postenführer in der Nacht vom 20. auf den 21. November 1986 Wachdienst. Ein weiterer Postenturm befand sich in Fahrtrichtung rechts, ca. 350 m entfernt an der Puderstraße, die parallel zur Karpfenteichstraße ebenfalls auf die Grenzsicherungsanlagen zulief. Auf diesem Turm hatten in der Nacht der Zeuge N. als Postenführer und der Zeuge Maik S. Wachdienst. Beide Türme gehörten in den Sicherungsbereich der 5. Kompanie des Grenzregiments 33 und die Postenpaare waren am 20. November 1986 wie folgt vergattert worden:
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„Die 5. Grenzkompanie eingesetzt im Grenzabschnitt des Grenzregiments 33, in der Dienstzeit von 22.00 bis 6.00 Uhr, hat die Aufgabe, die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze im zugewiesenen Grenzabschnitt zu gewährleisten und den Grenzdienst auf der Grundlage der Rechtsvorschriften und militärischen Bestimmungen politisch verantwortungsbewusst, initiativreich, wachsam und entschlossen getreu dem Fahneneid durchzuführen! - Vergatterung"
Der Angeklagte rannte während dessen entsprechend den für diesen Fall vorgesehenen Anweisungen zunächst gerade auf die Mauer zu. Kurz vor der Mauer angekommen lief er dann parallel zur Mauer weiter in Richtung des inzwischen zum Stehen gekommenen LKWs. Das Fahrzeug befand sich etwa einen Meter von der Grenzmauer entfernt, fast parallel zu ihr, mit der Fahrzeugfront in Richtung Puderstraße. Mit dem linken Vorder- und Hinterreifen stand er auf dem ca. 1,30 m breiten Betonsockel der Mauer. Als der Angeklagte sich dem Fahrzeug bis auf ungefähr 20 m genähert hatte, sah er einen der Fluchtwilligen, ob Mäder oder Gross, konnte nicht festgestellt werden, ca. 1 bis 2 m rechts neben dem LKW stehen. Er rief die Personen mit den Worten „Halt, stehen bleiben!" an. Die Person wandte sich ihm kurz zu, bewegt sich dann jedoch von ihm weg in Richtung der Front des LKWs. Der Angeklagte blieb nun stehen und gab zwei bis drei Schüsse aus seiner Kalaschnikow, die auf Einzelfeuer gestellt war, ab, und zielte dabei auf die Beine des Flüchtenden, der weiterlief und schließlich aus dem Blickfeld des Angeklagten vor dem LKW verschwand. Zu diesem Zeitpunkt schoss außer dem Angeklagten niemand mehr.
Der Postenführer des Postenturms Puderstraße, von wo aus der Fluchtversuch ebenfalls wahrgenommen worden war, der Zeuge N., hatte seinen Posten, den Zeugen S., ebenfalls angewiesen, vom Turm abzusitzen. Entsprechend den Anweisungen rannte der Zeuge Maik S. gerade auf die Mauer zu, dann entlang der Mauer bis zu dem „Sprechpunkt". Dort verharrte er. Die Entfernung zum LKW betrug ca. 150 m. Der Zeuge S. hat nicht geschossen. Der Zeuge N. hingegen hatte zuvor vom Beobachtungsturm Puderstraße aus geschossen.
Der Angeklagte war inzwischen weiter auf den LKW zugerannt, ca. 15 m von diesem entfernt nahm er eine Person, den Geschädigten Manfred Mäder, auf dem Dach des LKW, das wegen des Kofferaufbaus fast an die 3,60 m hohe Mauerkrone heranreichte, wahr. Manfred Mäder sprang in Richtung Mauerkrone und kam mit dem Oberkörper halb auf der Mauerkrone, einer röhrenförmigen Betonverkleidung mit einem Durchmesser von ca. 40 zu liegen. Unterleib und Beine hingen von der Mauer ab.
Der Angeklagte, der erkannte, dass der Erfolg der Flucht unmittelbar bevorstand - der Geschädigte musste sich nur noch über die Mauerkrone winden - entschloss sich, dies unter Einsatz seiner Waffe zu verhindern. Ohne den Flüchtling anzugreifen, gab er einen Schuss auf den an der Mauer hängenden Geschädigten Mäder ab, zielte dabei schräg nach oben auf dessen Beine, wobei er ihn treffen wollte, mit dem Ziel, die Flucht zu verhindern. Den Tod des Flüchtenden nahm er dabei billigend in Kauf. Der Schuss traf Mäder in den hinteren linken Oberschenkel [...], wodurch Oberschenkelschlagader und -vene zerrissen. Manfred Mäder fiel herunter und verstarb innerhalb kurzer Zeit infolge Verblutens.
Auch Rene Groß wurde durch einen Schuss tödlich verletzt. Ein Geschosskern drang in die rechte Augenhöhle bis in die hintere Schädelgrube ein und verursachte dort einen Schädelbruch. Das Geschoss selbst hatte sich vor dem Eindringen in den Kopf zerlegt, entweder war es irgendwo abgeprallt oder hatte etwas anderes durchschlagen. Die Schussverletzung war sofort tödlich. Wo sich Rene Groß befand, als er die tödliche Kopfverletzung erlitt, konnte nicht festgestellt werden.
[...]
Quelle: StA Berlin, Az. 27 Js 56 Js 275/03, Bd. 7, Bl. 190-191, 205-209.