Todesopfer > Schmidt, Michael

Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Udo W. und Uwe H. (Auszüge, Az. 2 Js 63/90; Fall Michael Schmidt)

5. Februar 1992

Abschrift [Auszug] Landgericht Berlin Az.: (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91) 5. Februar 1992 URTEIL

Im Namen des Volkes

In der Strafsache gegen
    1.
    den Fleischer
    Udo W.,
    geboren 1964,

    2.
    den Elektromonteur
    Uwe H.,
    geboren 1961,
wegen gemeinschaftlichen Totschlags.

Die 18. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin hat [...] in der Sitzung vom 5. Februar 1992 für Recht erkannt:

Die Angeklagten sind des Totschlags schuldig.

Es werden verurteilt,

der Angeklagte W. zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten,

der Angeklagte H. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten.

Die Vollstreckung der Strafen wird zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Strafvorschriften:

§§ 212, 213, 25 Abs. 2 StGB.

Gründe:

[...]

II. [Sachverhaltsfeststellung]

[...]

Am 30. November 1984 waren die Angeklagten für die Nachtschicht (22.00 bis 6.00 Uhr) zum 1. Dezember 1984 als Motorradstreife eingeteilt. Ihre Aufgabe war es, während des Wechsels zwischen der Besatzung eines Postenturms und der des nächstgelegenen Freilandpostens den Turm zu besetzen, um so keine Sicherheitslücke entstehen zu lassen. Gegen 3.00 Uhr des 1. Dezember 1984 besetzten die Angeklagten im Sicherungsabschnitt 2 den Postenturm, der sich etwa 30 m südlich des Hauses Schulze-Straße Nr. 29 im Bezirk Pankow befand.

Michael Schmidt, der sich in dieser Nacht zur Flucht entschloss, war mit den Verhältnissen in der ehemaligen DDR seit längerer Zeit unzufrieden, wollte aber keinen Ausreiseantrag stellen, um seiner Familie - insbesondere dem Bruder, der studierte - keine Schwierigkeiten zu bereiten. Ausschlaggebend für seinen Entschluss zur Flucht war wohl letztlich ein Musterungsgespräch, in dem er es strikt abgelehnt hatte, zum Grenzdienst eingesetzt zu werden; der Musterungsoffizier hatte darauf äußerst heftig reagiert. In der Zeit danach verdichteten sich seine Fluchtabsichten immer mehr. Schon im Sommer 1984 sprach er mit seinem Freund, dem Zeugen S., über die Möglichkeit, die Grenzanlagen zu überwinden. Auf dessen Warnung, eine solche Flucht wäre Selbstmord, entgegnete er, das schaffe man schon; man müsse es nur richtig vorbereiten. Michael Schmidt, fleißig und beliebt bei seinen Kollegen, arbeitete als Zimmermann in einer Brigade, die Häuser in der Schulze-Straße sanierte, deren Hof durch die Hinterlandmauer begrenzt wurde; er kannte sich deshalb dort gut aus.

In der Nacht zum 1. Dezember 1984 hielt er sich zunächst in einem Jugendclub in der Grabbeallee auf, wo er mehr als sonst trank und verließ den Club in Begleitung einer unbekannt gebliebenen Person. Mit ihr ging er zu einem nahe gelegenen Werkzeugraum seiner Brigade, wo beide zwei Leitern holten die sie zur Hinterlandmauer in Höhe der Häuser Schulze-Straße 23-24 trugen. Der unbekannte Begleiter trat aber nach dem Anstellen der Leiter von dem Fluchtvorhaben zurück. Die Angeklagten hatten ihn nicht bemerkt und gingen von der Flucht einer Person aus. Michael Schmidt kletterte gegen 3.10 Uhr knapp 130 m nördlich des Postenturmes der Angeklagten auf die Hinterlandmauer. Dort sah ihn zunächst der Angeklagte W., rief sinngemäß "Ede (übliche Bezeichnung für Grenzverletzter) kommt!", befahl dem Angeklagten H. vorschriftsmäßig "absitzen!" und machte über die Postensprecheinrichtung dem Zeugen W. im Zugführerturm Meldung. Ohne dass die Angeklagten sich noch hätten darüber verständigen müssen, handelten sie im Folgenden mit den beiden vorgegebenen Ziel, den Grenzdurchbruch auf jeden Fall zu verhindern.

Der Angeklagte H. kletterte - gemäß dem vorgeschriebenen Handlungsablauf - den Turm hinunter, währenddessen rief der Angeklagte W. dem Flüchtenden, der inzwischen den Signalzaun überstiegen und dadurch optischen und akustischen Alarm ausgelöst hatte, sinngemäß zu: "Halt, Stehen bleiben". Als Michael Schmidt nicht reagierte und mit der Leiter weiter auf kürzestem Weg zur Grenzmauer hin lief, schoss der Angeklagte W. kurze Feuerstöße über ihn hinweg, um ihn so zum Stehenbleiben, zu veranlassen. Michael Schmidt und der Angeklagte H. liefen parallel zu einander auf die Grenzmauer zu, H. noch etwa 10 m an ihr entlang in Richtung des Flüchtenden. Als dieser die knapp 4 m lange Leiter an die Grenzmauer anstellte und sich anschickte, sie zu besteigen, war für den Angeklagten H. klar, dass er Michael Schmidt nicht mehr erreichen würde und nur noch gezieltes Feuer die Flucht würde verhindern können. H. blieb stehen, lehnte sich an die Mauer, zielte aus ca. 110 m Entfernung in mehreren kürzeren oder wenigen längeren Feuerstößen in den nächsten maximal 5 Sekunden mindestens 25 Schuss, während Michael Schmidt die erste Sprosse bestieg und zügig die Leiter hochkletterte.

Der Angeklagte W. zielte in dieser Phase ebenfalls auf die Beine des ca. 150 m entfernten Flüchtling auf die Waden des Flüchtenden und schoss - die Waffe im Schulteranschlag und auf die Fensterbrüstung aufgestützt - in kurzen Feuerstößen; er verschoss insgesamt mindestens 27 Patronen. Beide Angeklagte hielten Michael Schmidt weder für einen Spion, noch für einen Saboteur oder Kriminellen, sondern für einen jungen Mann, der "im Westen sein Glück machen" (so W.) und nur raus wollte und es anders nicht geschafft hat (so H.).

Sie wollten ihn nicht töten, erkannten aber die Möglichkeit eines tödlichen Treffers. Auch um diesen Preis wollten sie aber gemäß dem Befehl, den sie für bindend hielten, das Gelingen der Flucht verhindern. Um die Ausführungen des Befehls auf jeden Fall sicher zu stellen, der zur Vereitelung der Flucht auch die bewusste Tötung des Flüchtenden einschloss, schössen sie - das als Vorstufe vorgeschriebene gezielte Einzelfeuer auslassend - in kurzen Feuerstößen Dauerfeuer. Sie wussten, dass dieses zwar die Trefferwahrscheinlichkeit, wenn auch nicht in dem anvisierten Bereich, erhöhte, damit aber auch das Risiko eines tödlichen Schusses.

Als Michael Schmidt etwa um 3.15 Uhr bereits eine Hand auf die Krone der Mauer legte, wurde er von einem Schuss des Angeklagten W. und - ohne dass die zeitliche Reihenfolge hätte festgestellt werden können, spätestens jetzt - von einem weiteren des Angeklagten H. getroffen, sackte in sich zusammen, worauf die Angeklagten das Feuer einstellten, rutschte die Leiter hinunter, verfing sich dabei mit einem Fuß zwischen deren Sprossen, stürzte mit ihr um und blieb bewegungslos liegen. Der Schuss des Angeklagten H. traf das linke Knie, der des Angeklagten W. den Rücken von Michael Schmidt. Die Angeklagten liefen zu dem Getroffenen, bei dessen Anblick dem Angeklagten H. schon der Gedanke kam, er habe etwas Falsches getan; dieser Gedanke beschäftigte ihn auch in der Folgezeit und wurde ihm zur Gewissheit. Der Angeklagte H. der durch das Geschehen sehr aufgeregt und nervös war, sagte zu dem Angeschossenen: "Was machst Du denn für einen Scheiß?". Als der Angeklagte W. hinzukam, sagte Michael Schmidt: "Jetzt habt Ihr mich doch gekriegt." Beide Angeklagte gingen davon aus, dass er getroffen war, sahen aber nicht nach den Verletzungen und machten keine Anstalten, sich um ihn zu bemühen oder Erste Hilfe zu leisten. Kurz nach ihnen kamen der Unteroffizier H. und ein Soldat mit einem Kübelwagen vom Zugführerturm her und kaum später die Posten, die den Postenturm der Angeklagten besetzen sollten. Die Angeklagten wurden angewiesen, zunächst die Mauer zu sichern. Danach mussten sie beim Zugführerturm eine Waffenkontrolle durchführen lassen und später in den Regimentsstandort und dort ihre Waffen abgeben. Anschließend wurden sie zur Vernehmung zum MfS gebracht. In der Zwischenzeit kamen nach und nach Angehörige der Regimentsführung, der Volkspolizei und des MfS, deren Abteilung IX die Ermittlungen führte, zum Tatort. Der bewegungslose Michael Schmidt wurde an den Händen zu einem nahe gelegenen, im Bau befindlichen Turm geschleift und dort - außerhalb des Sichtbereichs von Berlin (West) aus - auf den Boden abgelegt. Er bat mehrfach vergeblich um Hilfe; auf Veranlassung des Zeugen L. wurde er lediglich zugedeckt. Die - den Angeklagten unbekannte - Befehlslage, nach der das weitere Geschehen ablief, war vorrangig von dem Geheimhaltungsinteresse bei derartigen Vorfällen bestimmt. Michael Schmidt durfte nicht mit der "Schnellen Medizinischen Hilfe" (d.h. einem normalen Krankenwagen) sondern nur mit einem Sanitätskraftwagen der Grenztruppen (Sankra) transportiert werden. Der Sankra musste von dem so genannten Regiments-Med-Punkt in Treptow angefordert werden und hatte von dort aus zum "Ereignisort" eine Anfahrt von ca. 45 Minuten, die er - ebenfalls aus Geheimhaltungsgründen - im einem Bereich von 500 m ab der Hinterlandmauer, in dem die Fahrstrecke teilweise verlief, ohne Blaulicht zu absolvieren hatte. Da ein Arzt nur bei schweren Verletzungen angefordert wurde, deren Bezeichnung aber nicht Gegenstand der Vorfallsmeldung sein durfte, war der Sankra nur mit Sanitätern besetzt. Der Sankra traf um 4.25 Uhr am Hinterlandtor ein, durch das Michael Schmidt kurz zuvor mit einem Trabant-Kübelwagen gebracht worden war. Er wurde - auch dies befehlsgemäß - nicht zum nächstgelegenen, sondern zu dem wesentlich entfernteren Krankenhaus der Volkspolizei gebracht, wo er kurz vor 5.30 Uhr eingeliefert wurde. Keiner der in diesem Ablauf tätigen und für ihn verantwortlichen Offiziere war bereit, von Befehlen abzugehen und schnellstmögliche Hilfe zu gewährleisten. Ihrem Vorgesetzten, dem Zeugen Dr. L, damals Regimentsarzt, durften die Sanitäter von ihrer Fahrt keine Meldung machen. Der Zeuge W., Zugführer zur Tatzeit, musste am nächsten Tag unterschreiben, dass der Nachtdienst ohne besondere Vorkommnisse verlaufen war.

Im VP-Krankenhaus wurden sofort die erforderlichen ärztlichen Maßnahmen für eine Notoperation getroffen. Sie konnten aber den Tod des Michael Schmidt nicht verhindern; er starb um 6.20 Uhr an den Folgen des Schusses in den Rücken. Bei unverzüglicher ärztlicher Hilfe hätte sein Leben mit Sicherheit erhalten werden können.

[...]

IV. [Rechtliche Würdigung]

[...]

2. Die Tat stellt sich hinsichtlich beider Angeklagter als minder schwerer Fall des Totschlags gemäß § 213 StGB dar, der gegenüber dem entsprechenden § 113 StGB/DDR eine geringere Strafandrohung enthält.

Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung sind zahlreiche strafmildernde Umstände zu berücksichtigen.

Quelle: StA Berlin, Az. 2 3s 63/90, Bd. 4, Bl. 220-221, 233-239; dokumentiert in: Klaus Marxen/Gerhard Werle u.a. (Hg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2/1. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Berlin 2002, S. 105-133. - Der Revisionsa
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