Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Andreas M. vom 26. November 1993
Auszüge, Az. 2 Js 22/91 (21/93); Fall Lothar Fritz Freie
Abschrift [Auszug]Landgericht Berlin
Az.: (530) 2 Js 22/91 (21/93)
26. November 1993
Urteil
Im Namen des Volkes
In der Strafsache gegen
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Andreas M., geboren 1962,
Die 30. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin hat [...] in der Sitzung am 26. November 1993 für Recht erkannt:
Der Angeklagte wird wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Angewendete Vorschriften: § 212 Abs. 1 StGB; §§ 1, 21 Abs. 1 und 2; § 105 JGG.
Gründe
[...]
V. [Strafzumessung]
Der Angeklagte war zur Tatzeit 20 Jahre und 3 Monate alt. Er hatte seine Lehre abgeschlossen und befand sich seit über einem Jahr bei den Grenztruppen, also außerhalb des Elternhauses. Andererseits hatte er bis dahin weder eine eigene Wohnung beziehen noch eine eigene, von seinen Eltern unabhängige wirtschaftliche Existenz aufbauen können. Auch die Beziehung zu seiner späteren Ehefrau begann erst nach der Entlassung vom Militär. Obgleich die Kammer keineswegs davon ausgeht, dass alle Grenzsoldaten der DDR im Heranwachsendenalter in ihrer persönlichen Entwicklung zurückgeblieben waren, hat sie im vorliegenden Fall nicht ausschließen können, dass der Angeklagte zur Tatzeit noch einem Jugendlichen gleichstand. Dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgend, hat die Kammer deshalb zugunsten des Angeklagten gemäß § 105 JGG auf ihn das Jugendstrafrecht angewandt.
Als Sanktion kam allein wegen der Schwere der Schuld nur Jugendstrafe in Betracht, § 17 Abs. 2 JGG.
Bei der Strafzumessung im Einzelnen war zu berücksichtigen, dass die Tat nicht die Voraussetzungen für die Annahme eines minder schweren Falles im Sinne des § 213 StGB erfüllte. Zwar handelte der Angeklagte in der Annahme, einem Befehl genügen zu müssen, doch wäre es für ihn aus den oben genannten Gründen ohne weiteres möglich gewesen zu erkennen, dass der Befehl, so wie er ihn verstand, rechtswidrig war. Deshalb hätte die Kammer, hätte ein Erwachsener die Tat begangen, auch keinen Gebrauch von der Möglichkeit gemacht, den Strafrahmen gemäß den §§ 17 Satz 2, 49 Abs. 1 StGB zu mildern.
Im Vergleich zu anderen, bereits entschiedenen Fällen, in denen Menschen an der innerdeutschen Grenze erschossen wurden, war der Umstand, dass es sich bei Lothar Freie um einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland handelte, nicht allgemein strafschärfend zu berücksichtigen. Hier war zwar für den Angeklagten erkennbar, dass die Interessen der DDR durch das Betreten ihres Territoriums von Berlin (West) aus nur in geringerem Maße beeinträchtigt wurden als durch die Flucht eines ihrer Staatsbürger. Auf der anderen Seite nahm derjenige, der die DDR verlassen wollte, ein von der DDR selbst anerkanntes Grund- und Menschenrecht in Anspruch (BGH NJW 1993, 141, 145 f.). Dass den Bürgern der DDR dieses Recht mit Gewalt verwehrt wurde, machte gerade die besondere Härte des Grenzregimes aus. Demgegenüber durfte die DDR, wie oben ausgeführt, Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und anderer Staaten das Betreten ihres Territoriums verbieten. Wer es wie Lothar Freie trotzdem ohne Erlaubnis tat, konnte sich dafür auf keine Rechtfertigung berufen und setzte sich zumindest der Gefahr nicht von vornherein rechtsstaatswidriger (vgl. dazu KG a.a.O.), strafrechtlicher Verfolgung durch die DDR aus.
Gegen den Angeklagten spricht indessen, dass er im vorliegenden, konkreten Fall auf Lothar Freie schoss, obwohl dieser erkennbar harmlos und im Begriff war, wieder nach Berlin (West) zurückzukehren. Der Angeklagte hätte in dieser Situation trotz seiner verständlichen Aufregung besonnener handeln und zumindest nicht mit Dauerfeuer schießen können und müssen. Der Angeklagte nahm stattdessen den Tod des Lothar Freie billigend in Kauf und beging damit das Verbrechen des Totschlages, für das das allgemeine Strafrecht eine Strafe von fünf bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe vorsieht.
Gleichwohl war zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen, dass er nicht um des eigenen Vorteils willen handelte, sondern weil er meinte, schießen zu müssen. Dabei wollte er Lothar Freie auch nicht unbedingt töten, sondern er nahm dessen Tod billigend in Kauf, um ihn festzunehmen, bevor er wieder West-Berliner Gebiet erreichte. Zugunsten des Angeklagten ist weiterhin zu beachten, dass er in einem System aufwuchs, das berechtigte Kritik an staatlichen Anordnungen nicht förderte, sondern unterdrückte. Hinzu kommt, dass die Ausbildung des Angeklagten als Grenzsoldat vor allem im Hinblick auf aus dem Westen eindringende „Grenzverletzer" ungenügend war. Dieser Fall war nicht gesondert erläutert oder gar geübt worden. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass es dem Angeklagten in der verständlichen Aufregung seines ersten Einsatzes in der Kürze der Zeit nur schwer möglich war, zutreffende Überlegungen anzustellen und sodann die richtige Entscheidung zu treffen.
Die Kammer konnte bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten auch nicht unberücksichtigt lassen, dass die Strafverfolgung der in der DDR maßgeblichen Machthaber und Funktionäre drei Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht in dem aus strafrechtlicher Sicht wünschenswerten Maße vorangekommen ist. Dies mindert die Möglichkeit, dem Angeklagten durch Verhängung einer Kriminalstrafe das Unrecht seiner Tat deutlich zu machen.
Der Angeklagte hat, von der Gegenstand dieses Verfahrens bildenden Tat abgesehen, ein straffreies Leben geführt. Allein die kurze Untersuchungshaft, die Hauptverhandlung und überhaupt der Umstand, dass gegen ihn ein Strafverfahren durchgeführt wird, haben ihn ersichtlich stark beeindruckt. Zu beachten ist auch, dass die Tat bereits 11 Jahre zurückliegt. Dass sie in der DDR verständlicherweise nicht verfolgt wurde, kann dem Angeklagten, der sich nicht der Strafverfolgung entzogen hat, nicht entgegengehalten werden.
Es gibt nichts, was eine Jugendstrafe aus erzieherischen Gründen erforderlich macht. Der Angeklagte ist jetzt 31 Jahre alt, rechtschaffener Familienvater und im Beruf tüchtig. Eine Jugendstrafe ist daher allein als Schuldausgleich und im Interesse des allgemeinen Rechtsfriedens gerechtfertigt. Dabei ist weiterhin zu berücksichtigen, dass eine längere zu vollstreckende Haftstrafe die berufliche Existenz des Angeklagten vernichten könnte. Der Betrieb, in dem er arbeitet, ist insoweit auf ihn angewiesen, als er den verstorbenen Meister als Betriebsleiter ersetzen soll. Müsste der Angeklagte seine Ausbildung und Arbeit jetzt unterbrechen, so wäre auch die Existenz des Betriebes zumindest in Frage gestellt, weil nicht sicher ist, dass die Inhaberin kurzfristig einen anderen geeigneten Elektromeister einstellen könnte.
Unter genügender Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände hält die Kammer eine Jugendstrafe von
zwei Jahren
für erforderlich, aber auch für ausreichend.
Die Jugendstrafe hat nach § 21 Abs. 1 und 2 JGG zur Bewährung ausgesetzt werden können. Dass der Angeklagte keine weiteren Straftaten begehen wird, ist aufgrund seines bisherigen Lebenslaufes auch ohne die Vollstreckung der Jugendstrafe wahrscheinlich. Eine Wiederholung der den Gegenstand dieses Verfahrens bildenden Tat ist schon wegen der historischen Einmaligkeit ihrer Umstände so gut wie ausgeschlossen.
Quelle: StA Berlin, Az. 27 Js 22/91, Bd. 3, o.P.