Burkhard Niering: MfS-Information an SED-Politbüromitglied Erich Honecker über den Fluchtversuch und die Erschießung
6. Januar 1974
[...]INFORMATION
über
einen versuchten terroristischen Grenzdurchbruch am 5. 1. 1974 über die Grenzübergangsstelle (Güst) Friedrich-/Zimmerstraße
Am 5. 1. 1974 gegen 19.35 Uhr versuchte der
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N i e r i n g , Burkhard
geb. 1. 9. 1950
wohnhaft: Halle, (...)
Beruf: Klempner und Installateur
ledig
seit 4. 5. 1973 Angehöriger der 19. VP-Bereitschaft Basdorf
Dienstgrad: VP-Anwärter
parteilos, Mitglied der DSF (1968) und des DTSB (1973)
Durch das umsichtige und entschlossene Handeln der Paßkontrollkräfte des MfS wurde der Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schußwaffe verhindert.
Niering erlitt dabei Verletzungen am rechten Handgelenk und an der rechten Hüfte, an deren Folgen er nach Einlieferung in das VP-Krankenhaus um 21.05 Uhr verstorben ist.
Der von Niering zum Zwecke des Grenzdurchbruchs als Geisel genommene Angehörige der Paßkontrolleinheit wurde nicht verletzt.
Die durch das MfS bisher geführten Untersuchungen ergaben:
Niering war am 5. 1. 1973 im Rahmen der Objektbewachung der 19. VP-Bereitschaft in Basdorf in der Zeit von 18.40 bis 20.30 Uhr als Posten eingesetzt. Er war mit einem Kampfanzug bekleidet und mit einer Maschinenpistole, Typ Kalaschnikow, sowie zwei Reservemagazinen mit insgesamt 60 Schuß ausgerüstet.
Nach den bisherigen Feststellungen hat Niering seinen Postenbereich unbemerkt verlassen, den Zaun des Objektes überklettert und sich zur Güst Friedrich-/Zimmerstraße begeben.
Er erschien gegen 19.35 Uhr mit im Anschlag befindlicher und durchgeladener Waffe am Eingangsschlagbaum für Kraftfahrzeuge und forderte den dort zur Abfertigung von Kraftfahrzeugen eingesetzten Angehörigen der Paßkontrollkräfte - der mit dem Rücken zu ihm stand, weil er zuvor ein Fahrzeug abgefertigt hatte - auf, die Hände hoch zu nehmen und unmittelbar vor ihm in Richtung Westberlin zu gehen. Gleichzeitig gab Niering einen Feuerstoß aus seiner MPi ab.
Der Angehörige der Paßkontrollkräfte kam dieser Aufforderung so betont langsam nach, wie das für solche Fälle angewiesen und geprobt ist, um Zeit für die Realisierung der notwendigen Maßnahmen durch die anderen Paßkontrollkräfte des MfS zur Verhinderung des terroristischen Vorgehens zu gewinnen.
So wurden zwischenzeitlich durch den am Eingangsschlagbaum für die Eingangskontrolle von Fußgängern in Richtung Westberlin eingesetzten Angehörigen der Paßkontrollkräfte des MfS- die notwendigen Sicherungsmaßnahmen ausgelöst, in deren Folge die Güst sofort geschlossen sowie entsprechende Maßnahmen zur Sicherheit der sich zu diesem Zeitpunkt im Territorium befindlichen Reisenden eingeleitet wurden. Niering, der diese Maßnahmen offensichtlich wahrgenommen hatte, forderte nunmehr den als Geisel genommenen Angehörigen der Güst zum Laufschritt auf und gab erneut Feuerstöße aus seiner MPi ab. Auch dieser Aufforderung kam der Angehörige der Güst entsprechend den festgelegten Verhaltensweisen betont langsam nach.
Nachdem Niering am geschlossenen Ausgangsschlagbaum in Richtung Westberlin angelangt war, forderte er den Angehörigen der Paßkontrolleinheit auf, den Schlagbaum zu unterkriechen. Der Angehörige der Paßkontrolleinheit verständigte sich durch entsprechende, für den Terroristen nicht wahrnehmbare Zeichen mit den zwischenzeitlich entsprechend den festgelegten Handlungsvarianten unter Beachtung der Sicherheit der Reisenden gedeckt in Stellung gegangenen 2 anderen Paßkontrollkräften des MfS.
Er brachte sich – nachdem er bisher ständig betont langsam reagiert hatte - blitzschnell aus dem Schußfeld der beiden anderen in gedeckter Stellung befindlichen 2 Paßkontrollkräfte des MfS, worauf diese das weitere Vordringen und damit den Durchbruch des Niering nach Westberlin durch Anwendung der Schußwaffe verhinderten.
Schüsse auf Westberliner Territorium erfolgten dabei nicht, da sie gezielt auf den Terroristen abgegeben wurden.
Die Verhinderung der terroristischen Handlung durch die 3 Paßkontrollkräfte des MfS bewies deren hervorragendes Zusammenwirken und ihre vorbildliche Einstellung.
Zum Zeitpunkt des Vorkommnisses war der Ein- und Ausreiseverkehr gering. Es hielten sich insgesamt 5 Fahrzeuge, davon ein Besatzerfahrzeug der US-Streitkräfte, sowie einige Fußgänger, die sich im Zollgebäude befanden, im Territorium der Güst auf.
Die bisherigen Untersuchungen zum Persönlichkeitsbild des Niering ergaben, daß er die 10klassige polytechnische Oberschule bis zur 8. Klasse besuchte.
In der militärischen Ausbildung erzielte er seit seiner Einberufung am 4. 5. 1973 zum Wehrdienst gute Ergebnisse und wurde deshalb bereits belobigt.
Er trat mit einer positiven Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung auf.
Die Eltern des Niering sind geschieden.
[...]
In den bisherigen Reaktionen der Westseite wurde erklärt, daß ein DDR-Soldat von einem Angehörigen der Grenztruppen beim Versuch, nach Westberlin zu "flüchten", vermutlich niedergeschossen worden sei.
In diesem Zusammenhang hätten die Bundesregierung, der Westberliner Senat und der US-Stadtkommandant "Protest" erhoben.
Die Untersuchungen zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen werden fortgeführt.
Quelle: BStU, MfS, ZAIG Nr. 2368, Bl. 1-5.