Friedhelm Ehrlich: MfS-Bericht über den Grenzvorfall
4. August 1970
[...]Bericht
Am 2.8. 1970 gegen 22.17 Uhr wurde im Postenbereich des Beobachtungsturmes "Kinderheim" der Grenzkompanie Glienicke/Nordbahn des Grenzregimentes Schildow der zu diesem Zeitpunkt im Ausgang befindliche
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EHRLICH, Friedhelm
geboren am 11.07.1950 in Nägelstedt
wohnhaft: Gräfentonna, (...)
Wehdienst: seit 2.5.1969 – Grenzkompanie Glienicke/Nordbahn
Gefreiter – Postenführer
Die geführten Untersuchungen ergaben:
EHRLICH entstammt einer Arbeiterfamilie. Er besuchte die Grundschule bis zur 8. Klasse und erlernte anschließend den Beruf eines Maschinenschlossers, den er in der Folgezeit im VEB „Blema" Gotha ausübte. Dabei zeigte er gute Leistungen. Entsprechend vorliegender Ermittlungsergebnisse der Kreisdienststelle Bad Langensalza wuchs er in geordneten Familienverhältnissen auf, hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern und wurde von diesen im positiven Sinne politisch beeinflußt. Er gehörte der FDJ an und wurde als politisch zuverlässig eingeschätzt.
Nach seiner am 2.5.1969 erfolgten Einberufung zur NVA versah er nach erfolgter Grundausbildung Dienst im Wachregiment der Stadtkommandantur Berlin. Am 15.5.1970 wurde er zum Grenzregiment Schildow versetzt und in der Grenzkompanie Glienicke/Nordbahn im Grenzdienst an der Linis, zuletzt als Postenführer, eingesetzt. Im Dienst zeigte er befriedigende Leistungen, wobei jedoch nach Einschätzung seiner Vorgesetzten Mängel in der militärischen Disziplin auftraten.
[...]
Für den 2.8.1970 hatten EHRLICH und der zur gleichen Kompanie gehörende Gefreite (...), zwischen denen ansonsten kein enges kameradschaftliches Verhältnis bestand, unabhängig voneinander Ausgang eingereicht, den sie jedoch erst gegen 18.00 antreten sollten, weil sie wegen einer geringfügigen Undiszipliniertheit außer der Reiche zum Revierreinigen eingesetzt worden waren.
Nach Aussagen des (...) waren beide darüber verärgert und äußerten daher während der Arbeitsverrichtung, sich durch reichlichen Alkoholgenuß und rowdyhaftes Auftreten während des Ausganges hervorzutun, ohne daß es zu konkreten Absprachen über eine gemeinsame Gestaltung des Ausganges kam. Während EHRLICH vor 18.00 Uhr das Objekt verließ, trat (...), der die ihm übertragenen Aufgaben später beendete, gegen 18.30 Uhr seinen Ausgang an. (...) suchte zunächst die in Glienicke befindliche Gaststätte „Waldklause" auf, wo er zufällig den EHRLICH antraf. Gegen 20.15 Uhr verließen beide dieses Lokal in der Absicht, die etwa 20 Minuten entfernt gelegene Gaststätte „Birkenwäldchen" in Glienicke aufzusuchen, wo sie sich bis etwa 21.15 Uhr gemeinsam mit weiteren Angehörigen ihrer Diensteinheit aufhielten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie nach Angaben der befragten Zeugen insgesamt etwa 10 Glas Bier zu sich genommen. Da es ihnen den Aussagen des (...) entsprechend dort nicht mehr gefiel, kamen beide überein, die am Wege zum Objekt ihrer Diensteinheit gelegene Clubgaststätte Glienicke aufzusuchen, wo sie gegen 21.30 Uhr eintrafen und von mehreren Angehörigen ihrer Einheit gesehen wurden.
Die Gefreiten (...), (...), (...) und (...) nahmen wahr, daß EHRLICH und (...) auf Grund ihres Trunkenheitsgrades vom Bedienungspersonal nicht bedient wurden und sich daher gegen 21.35 Uhr in Richtung der Gaststätte „Waldklause" entfernten. (...) sagt dazu aus, daß beide dieses Lokal nochmals aufsuchen wollten. Die mit EHRLICH geführten Gespräche haben den Angaben des (...) zufolge der gesamten Zeit ihres Zusammenseins keine Probleme des Wehrdienstes oder einer beabsichtigten Fahnenflucht berührt.
Nachdem beide einen teil des ungefähr 1 Kilometer langen Weges von der Clubgaststätte zur „Waldklause" gemeinsam zurückgelegt hatten, forderte EHRLICH den (...) auf, im Laufschritt den Weg fortzusetzen. (...) versuchte auch EHRLICH zu folgen, konnte aber dessen Tempo nicht beibehalten und setzte sich deshalb auf einen Baumstumpf, um sich auszuruhen. Dadurch verlor er EHRLICH bald aus dem Blickfeld, so daß er über dessen weiteren Verbleib keine Aussagen machen kann.
Wenige Minuten danach begab sich (...) allein zur „Waldklause". Nach übereinstimmenden Aussagen von 8 Angehörigen seiner Diensteinheit, die sich zum Teil bereits in der Gaststätte und in deren unmittelbaren Nähe befanden, hielt sich M(...) dort zu dem Zeitpunkt auf, an welchem EHRLICH in das ungefähr 1200 Meter entfernt gelegene Grenzgebiet eindrang. Um 22.17 Uhr wurde der Soldat D(...), der mit seinem Postenführer, Gefreiten W(...) – beide zur Grenzkompanie Schildow gehörend – den Beobachtungsturm im Postenbereich „Kinderheim" besetzt hatten, durch ein Geräusch, welches von dem Zerbrechen von Zaunlatten herrührte, auf eine Person aufmerksam, die in etwa 160 Meter Entfernung den Hinterlandszaun gleichzeitig die Umzäunung des Grundstückes Glienicke, Staerkstraße 33. Der von D(...) wahrgenommene Grenzverletzer lief in gebückter Haltung mit schnellen Schritten auf die weiteren pioniertechnische Grenzsicherungsanlage zu. In Höhe des vor der Lichttrasse befindlichen Kolonnenweges wurde der Grenzverletzer vom Postenführer angerufen. D(...) erkannte in der Zwischenzeit durch das Nachtglas in dem Grenzverletzer eine uniformierte Person. Nach dem ersten Anruf führte EHRLICH, der zunächst stehen geblieben war und die Hände erhoben hatte, noch einige Schritte aus, so daß er ein weiteres Mal zum Stehenbleiben aufgefordert werden mußte, was er befolgte. Während der Gefreite W(...) den Beobachtungsturm verließ und seinem Begleitposten die Sicherungsaufgabe übertrug, rief EHRLICH in das Hinterland die Worte: „Hau ab, sonst bekommen sie dich auch noch!", woraus beide Posten schlußfolgerten, daß eine zweite Person in der Nähe sein müßte, wofür es jedoch keine weiteren Anhaltspunkte gab. Gefreiter W(...) schoß nach Verlassen des Postenturmes des Leuchtzeichen „Grenzdurchbruch" und übernahm dann selbst die Sicherung des EHRLICH, während D(...) ebenfalls vom Turm kam und sich dem Grenzverletzer näherte.
Beide Posten kannten EHRLICH nicht, da zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Organisierung der Grenzsicherung die Angehörigen der Grenzkompanie Schildow die Absicherung des Abschnittes der Grenzkompanie Glienicke/Nordbahn übernommen hatten.
EHRLICH wurde von ihnen aufgefordert, sich zu der in Richtung des Hinterlandes befindlichem Straßensperre zu begeben und sich dort, mit dem Gesicht zum Boden zugewandt, niederzulegen. Dieser Aufforderung kam er insofern nur widerwillig nach, daß er die Posten beschimpfte und ihnen androhte, sie zu erschießen, falls er sie einmal erwischen würde. Etwa 10 Minuten nach erfolgter Festnahme traf die durch Leuchtsignale angeforderte motorisierte Kontrollstreife, bestehend aus Unteroffizier M(...) und Gefreiten (...), ein. W(...) gab einen kurzen Situationsbericht und übergab der Streife den Grenzverletzer zur weiteren Sicherung, während er und sein Begleitposten die Suche nach der vermuteten zweiten Person aufnahmen. Unteroffizier M(...) und Gefreiter (...) hatten in einem Abstand von etwa 4 bis 6 Meter rechts und links von dem auf der unbeleuchteten Straße liegenden EHRLICH mit gesicherter Waffe Stellung bezogen.
Zeitweilig wurde der Grenzverletzer von M(...) mit der Taschenlampe angeleuchtet, wozu ihm der Gefreite (...) mehrfach darum ersuchte, da er die Handlungen des EHRLICH besser unter Kontrolle halten wollte.
Nach der Übernahme der Sicherungsaufgabe durch die Kontrollstreife beschimpfte EHRLICH auch diese Posten und drohte ihnen an, sie zu erschießen. Er wendete sich dem Gefreiten (...) zu und rief wütend: „Los, schieß doch, Du Feigling, sonst ziehe ich blank!" Dabei hob EHRLICH seinen bis dahin vom Körper ausgestreckten Arm an, faßte mit der Hand an die Gesäßtasche und richtete sich mit dem Oberkörper auf. Aus dieser Geste und den erregten Bemerkungen des EHRLICH zog (...) die Schlußfolgerung, daß der Grenzverletzer eine Waffe mit sich führt und im Begriff ist, diese gegen ihn anzuwenden.
In einer realen Gefahrensituation fühlte sich (...) darüber hinaus dadurch, daß ihm bei der Einweisung vor Antritt seines Dienstes bekanntgeworden war, daß zwei Unteroffiziere der NVA in Fahndung stehen, die vermutlich einen Grenzdurchbruch nach Westdeutschland oder Westberlin durchführen wollen und er glaubte, einen dieser Flüchtigen vor sich zu haben.
Um einen vermeintlichen Schußwaffengebrauch des Grenzverletzers zuvor zu kommen, entsicherte (...) seine im Hüftanschlag gehaltene und auf den Grenzverletzer gerichtete Maschinenpistole und gab einen Schuß ab. Als daraufhin Unteroffizier M(...) den EHRLICH untersuchte, stellte er eine Schußverletzung im Unterbauchbereich fest. Unteroffizier (...) nahm anschließend den Verletzten, der, wie später festgestellt wurde, keine Waffe bei sich trug sondern nur eine Täuschungshandlung vorgenommen hatte, die Ausweisdokumente ab.
Gefreiter (...) ist inoffizieller Mitarbeiter der Hauptabteilung I und wird von dem zuständigen operativen Mitarbeiter als pflichtbewußter Genosse eingeschätzt.
Nach entsprechender Informierung des Führungspunktes des Grenzregimentes Glienicke wurde etwa nach 20 Minuten der Verletzte in das VP-Krankenhaus überführt, wo er kurz darauf an den Folgen der Verletzung verstarb.
Die sofort durchgeführte Durchsuchung des Tatortes, der Einsatz eines Fährtenhundes sowie die eingeleiteten Untersuchungen ergaben keine Hinweise darauf, daß EHRLICH in Begleitung einer zweiten Person in das Grenzgebiet eingedrungen war.
Auf der Grundlage des erarbeiteten Untersuchungsergebnisses ist festzustellen, daß die Ursachen der Fahnenflucht des EHRLICH in seiner unter dem Einfluß der westlichen Hetzpropaganda entstandenen Vorstellung, unter kapitalistischen Verhältnissen ein angenehmeres Leben führen zu können, begründet sind [...] gefördert wurde.
Vom Polit-Stellvertreter des Regimentes wurde in Zusammenarbeit mit der Hauptabteilung I in der Grenzkompanie Glienicke/Nordbahn dieses Vorkommnis dahingehend ausgewertet, daß EHRLICH bei der Begehung des Verbrechens der Fahnenflucht nach Westberlin und des dabei von ihm geleiteten Widerstandes tötlich verletzt wurde und die eingesetzten Grenzposten in konsequenter Pflichterfüllung handelten.
L(...) Hauptmann
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Quelle: BStU, MfS, HA I Nr. 5024, Bl. 674-680