Todesopfer > Mende, Herbert

Herbert Mende: Untersuchungsbericht der 2. Grenzbrigade der DDR-Bereitschaftspolizei

9. Juli 1962

[...]

Betr.: Untersuchungsbericht zum Schußwaffengebrauch mit schwerer Körperverletzung am 8.7.62 gegen 00.20 Uhr im Abschnitt der 1./I./2.GB an der Brücke der Einheit

Bezug: Meldung des Grenzpostens vom 8.7.62 und Sofortmeldung an das Kommando der BP

Am 8.7.62 gegen 00.30 Uhr meldete der Grenzposten Postenführer
    Gefr. A(...), Hans-Jürgen
    geb. (...) 42
    Mitglied der FDJ
    VP seit: 30.5.60
    DA-Nr.: BP 021160
eingesetzt mit dem Posten
    Sold. H(...) Günter
    geb. (...) 42
    Mitglied der FDJ
    VP seit: 12.9.61
    DA-Nr.: BP 040667
Als Grenzstreife im Abschnitt der 1./I./2.GB Potsdam Brücke der Einheit bis Hasengraben Pq.: 11-70/7 bis 11-69/9 der Kompanie, daß er auf eine von einer Streife der VP festgenommene und anschließend flüchtende männliche Zivilperson die Schußwaffe anwandte und dieser verletzte.

Zur Untersuchung des Vorkommnisses begaben sich zum Tatort
    Major K(...) in Vertretung Stabschef der Brig.
    Major F(...) i.V. Stellv. f. PA der 2. GB
    Hptm. W(...) Kommandeur der I. GA
    Obltn. N(...) Offz. der Op.-Abt. der 2. GB
    Obltn. K(...) Militärstaatsanwalt
sowie Offiziere des VPKA Potsdam.

Bei der Untersuchung wurde festgestellt:

Am 8.7.62 gegen 00.10 Uhr wurde durch den Zolloberassistenten T(...) – verantwortlicher Schichtleiter – am KPP Brücke der Einheit beobachtet, daß sich eine männliche Zivilperson aus Richtung Potsdam auf der Berlinerstraße in Richtung Brücke der Einheit bewegte. Der Genosse ging der Zivilperson ca. 20 m vom KPP entgegen. Beim Zusammentreffen mit der Zivilperson sprach diese den Genossen T. wie folgt an: "Onkel kannst Du mir nicht sagen, von wo der Bus nach Potsdam fährt"? Genosse T. erklärte ihm, wie er zur Bushaltestelle kommt, worauf sich der Zivilist in Richtung Bushaltestelle bewegte. Während der Unterhaltung stellte der Genosse T. fest, daß der Zivilist unter Alkoholeinfluß stand.

Während der Bewegung in Richtung Bushaltestelle drehte sich der Zivilist mehrmals um und machte die Äußerung: "Dein Schießgewehr kannst Du herunternehmen und Deine Meinung auch ändern".

Zum gleichen Zeitpunkt traf an der Brücke der Einheit eine Streife des VPKA Potsdam, Streifenführer
    Obwm. M(...)
und Streifenposten
    Hptwm. A(...)
ein und beobachteten das Verhalten des Zivilisten. Sie entschlossen sich, diese Person zu kontrollieren, worauf sie den Zivilist folgten und zur Kontrolle stellten.

Da der Zivilist keinen PA mit sich führte, wurde er zum Schlagbaum an der Brücke der Einheit geführt. Bei der näheren Kontrolle wies sich der Zivilist mit einer Registrierkarte für den Wehrdienst aus und verweigerte weitere Angaben zur Person. Der Streifenführer entschloß sich zwecks weiterer Überprüfung den Zivilisten, es handelte sich um
    Mende, Herbert geb. am 9.2.1939
    wohnhaft in Potsdam, (...)
dem VPKA Potsdam zuzuführen.

Während sich der Streifenführer Obwm. M(...) zum KPP begab, um von dort das VPKA zwecks Abholung des Festgenommenen zu verständigen, verblieb der Streifenposten Hptwm. A(...) am Schlagbaum mit dem Festgenommenen zurück.

Während dieser Zeit traf der Grenzposten Gefr. A(...) und Sold. B(...) an der Brücke der Einheit ein. Der Postenführer ließ seinen Posten zur Sicherung am Schlagbaum Straße Schwanenallee zurück und begab sich in Richtung Schlagbaum am KPP Brücke der Einheit. Aus der Unterhaltung des Hptwm. A(...) mit dem Zivilisten entnahm er, daß es sich hier um eine festgenommene Person handelt und entschloß sich, seinen Streifenweg entsprechend des erhaltenen Kampfbefehls in Richtung Hasengraben fortzusetzen. Gegen 00.20 Uhr traf der Omnibus (Linie Berlinerstraße) am Schlagbaum Brücke der Einheit ein und wendete. Während des Wendens blieb der Bus quer über der Straße vor dem Schlagbaum stehen und der Busfahrer führte mit einem Angehörigen der VP-Streife ein Gespräch. Zum gleichen Zeitpunkt traf auch ein Funkstreifenwagen des VPKA Potsdam, besetzt mit Kraftfahrer VP-Mstr. V(...), Streifenführer VP-Hptwm. B(...) und Posten VP-Hptwm. T(...), an der Brücke der Einheit zur Abholung des festgenommen ein.

Beim Eintreffen des Funkstreifenwagens ergriff der Festgenommene in Richtung Potsdam-Stadt die Flucht. Zum Zeitpunkt der Fluchtergreifung befand sich der Postenführer Gefr. A(...) ca. 10 m von dem Flüchtenden entfernt. Auf Grund des Rufens "Halt, stehen bleiben!" durch einen Angehörigen der VP, nahm auch der Gefr. A(...) die Verfolgung der Zivilperson auf und forderte diese mehrmals auf stehen zu bleiben. Da sich der Vorsprung des Flüchtenden gegenüber den Verfolgenden weiter vergrößerte, wurde aus dem Hinterhalt durch Angehörige der VP gerufen: "Wende die Schußwaffe an, sonst entkommt er uns". Auf Grund dieser Rufe entschloß sich der Postenführer Gefr. A(...) die Schußwaffe anzuwenden und feuerte einen Warnschuß aus der Maschinenpistole Nr. 5657 aus einer Entfernung von ca. 25 m ab. Zum gleichen Zeitpunkt wurde durch den Hptwm. A(...) aus der Pistole "M" ein Warnschuß abgegeben. Als der Flüchtende auf die Warnschüsse nicht reagierte, wurde vom Gefr. A(...) ein Zielschuß aus einer Entfernung von ca. 30 m abgegeben, worauf der Flüchtende zusammenbrach. Durch den Funkstreifenwagen wurde ein Rettungswagen der Feuerwehr zum Tatort gerufen. Gegen 00.35 Uhr wurde der Verletzte in Begleitung eines VP-Angehörigen zum Bezirkskrankenhaus Potsdam überführt.

Der flüchtende Mende wurde durch den Zielschuß, Einschuß rechte Beckenseite, Verletzung des Beckenknochens, vermutlich der Niere und des Hodens schwer verletzt und schwebt in Lebensgefahr.

Mende wurde bereits am 13.11.1961 gleichfalls zur Nachtzeit an der Brücke der Einheit durch Angehörige des GZA festgenommen und dem VPKA Potsdam zugeführt, weil er nicht im Besitz eines Personalausweises war und sich rüpelhaft gegenüber den Kontrollierenden verhielt. Sein Verhalten am 8.7.1962 gegen 00.10 Uhr gegenüber den Angehörigen der Volkspolizei und im weiteren war ähnlich wie am 13.11.1961.

Die Eltern des Mende konnten über das Vorkommnis noch nicht informiert werden, da sie sich gegenwärtig besuchsweise in der Volksrepublik Polen aufhalten.

Zum Zeitpunkt des Vorkommnisses befanden sich am Tatort die genannten 5 Angehörigen der Volkspolizei, der Grenzposten sowie der Busfahrer und Schaffnerin des am Schlagbaum Brücke der Einheit haltenden Linienbusses.

Schlußfolgerungen:

Das Zusammenwirken der Kräfte der Volkspolizei untereinander und den Grenzposten wurde ungenügend organisiert, wodurch eine Lage entstand, die ein aktives Handeln zur Verfolgung und Festnahme des Flüchtenden nicht gewährleistete.

Die Anwendung eines Zielschusses wäre nicht erforderlich gewesen wenn die VP-Streife und Besatzung des Funkstreifenwagens aktiv und entschlossen gehandelt hätten, um den Flüchtenden festzunehmen. Der Gefr. A(...) handelte aktiv, um den Flüchtenden festzunehmen, indem er sofort die Verfolgung aufnahm. Die Anwendung der Schußwaffe erfolgte von ihm erst zu einem Zeitpunkt, wo er durch Zurufe "Wende die Schußwaffe an, sonst entkommt er uns" aufgefordert wurde. Dieser Zuruf mußte unweigerlich beim Gefr. A(...) den Eindruck erwecken, daß es sich hierbei um eine wichtige Festnahme handelt, zumal er vorher den zusammenhängenden Sachverhalt und den Grund der Festnahme nicht kannte.

Eingeleitete Maßnahmen:

- Durch den Abteilungs-Kommandeur und Leiter der Abteilung Schutzpolizei des VPKA Potsdam ist in den Einheiten bis zum 10.7.62 12,00 Uhr, das untaktische Verhalten und ungenügende Zusammenwirken der Kräfte untereinander auszuwerten.

- Durch den Abteilungskommandeur in Verbindung mit dem Revier-Leiter ist das Zusammenwirken der Kräfte der I. GA und VPKA Potsdam zu präzisieren und protokollarisch neu festzulegen. Termin: 10.07.1962, 12.00 Uhr.

- Der Einsatz von Kräften der Volkspolizei zur Unterstützung der Grenzsicherung hat nur nach gründlicher Einweisung durch den Revierleiter bzw. Abschnittsbevollmächtigten nach Absprache mit dem Kompaniechef zu erfolgen.

- Die Berlinerstraße ist in einer Entfernung von ca. 150 m vom KPP Brücke der Einheit entfernt, für den Fahrzeugverkehr jeglicher Art außer Anlieger zu sperre. Die Bushaltestelle ist weiter zurückzuverlegen.

- Durch das VPKA Potsdam werden die Eltern des Mende telegrafisch verständigt um zurückzukehren und werden über das Vorkommnis mit ihrem Sohn unterrichtet.

Die Bearbeitung des Vorgangs wurde vom Militärstaatsanwalt der 2. Grenzbrigade (B) übernommen.

Stabschef der 2. Grenzbrigade (B)
- Major -

Quelle: BArch, DY 30/IV 2/12/76, Bd. 3. Bl. 286-290
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