Willi Marzahn: Abschlussbericht der NVA-Untersuchungskommission
20. März 1966
[...]Abschlußbericht
über die Gruppenfahnenflucht der Unteroffiziere Marzahn und (...) vom III. MSB des MSR-2 am 19.03.1966 06.25 Uhr
I. Sachverhalt:
Am 19.03.1966 06.25 Uhr unternahmen die Unteroffiziere Marzahn und (...) vom III. MSB des MSR-2 unter Anwendung von Schußwaffen, die sie aus der Waffenkammer des III. MSB entwendet hatten, im Bereich des KPP Kohlhasenbrück an der Staatsgrenze zu West-Berlin einen gewaltsamen Grenzdurchbruch.
Bei der Verhinderung dieses gewaltsamen Grenzdurchbruchs unter Anwendung der Schußwaffen durch die diensthabenden Grenzposten wurde der Unteroffizier Marzahn lebensgefährlich verletzt und verstarb im Standortlazarett Potsdam.
Unteroffizier (...) auf westberliner Gebiet.
II. Einschätzung der Person der Flüchtigen:
a) Unteroffizier Marzahn:
nach seiner Einberufung am 03.11.1964 wurde M. nach Besuch des Waffenmeisterlehrgangs in der Artillerie-Werkstatt 1 am 01.05.1965 zum Unteroffizier befördert, zunächst in der I.-Kompanie und später im III. MSB als Waffenmeister eingesetzt.
Am 16.03.1966 wurde er, ohne daß er sich dazu selbst angeboten hatte, als Stabswaffenkammerverwalter des III. MSB eingesetzt. M. war nach einer im Standortlazarett Potsdam erfolgten Operation der Meinung, nicht mehr diensttauglich zu sein und wollte mit allen Mitteln seine Verpflichtung als Soldat auf Zeit rückgängig machen und entlassen werden. Er war ursprünglich nicht bereit, den ihm nach der neuen Besoldungsverordnung zustehenden Mehrbetrag zu empfangen, da er darin eine Schwierigkeit für seine beabsichtigte vorzeitige Entlassung sah.
Während M. seit Beginn des Jahres wenig Ausgang einreichte, er befand sich am 08.01.1966 und dann erst wieder am 02.03.1966 im Ausgang, ging er vom 16. bis 18.03.1966 täglich aus.
Der Beweis für eine evtl. damit in Verbindung stehende Vorbereitung der Fahnenflucht konnte noch nicht erbracht werden. Eine diesbezügliche Vermutung in dieser Richtung ergibt sich jedoch aus der Tatsache, daß er sich am 17.03.1966 von 21.00 Uhr nach vorzeitiger Beendigung des Ausgangs bis 21.05 Uhr in der Waffenkammer aufhielt und der ständige Ausgang ab 16.03.1966 mit der Übernahme der Funktion als Waffenkammerverwalter zusammenhält.
Vor der Einberufung zur NVA hatte M. lt. Auskunft seiner Frau zwei Verkehrsunfälle, die zu Gehirnerschütterungen führten und in deren Ergebnis er auch noch in den letzten Wochen über häufige Kopfschmerzen klagte. Die im Standortlazarett Potsdam erfolgte Behandlung erfolgte u.a. aus diesem Grunde.
[...]
Vom Stubenkollektiv wird M. als Nörgler bezeichnet, der über viele Dinge unzufrieden war. Seine Äußerungen über einen beabsichtigten Selbstmord und über die von ihm ständig geäußerten Entlassungsabsichten wurden dadurch nicht ernst genommen. M. unterhielt mit dem Stubenkollektiv keine näheren Verbindungen, sondern verkehrte mehr mit den Waffenmeistern der I.-Kompanie und des II. MSB. Die Befragung dieser Unteroffiziere ergab, daß er mit diesem Genossen vornehmlich dienstlich verkehrte.
Im Politunterricht und anderen Diskussionen trat M. nicht negativ in Erscheinung. Auseinandersetzungen über seine Entlassungspsychose wurden jedoch weder im Politunterricht noch in der FDJ-Organisation geführt.
[...]
III. Wesentliches Untersuchungsergebnis:
Die Unteroffiziere Marzahn, Waffenmeister und Waffenkammerverwalter im III. MSB, und Unteroffizier (...) Gruppenführer 7. MSK, erhielten am 18.03.1966 Standortausgang bis 19.03.1966 06.00 Uhr. Gegen 02.40 Uhr am 19.03.1966 fuhren beide mit einem PKW "Wartburg" vor der Kaserne vor. Zur Zeit ist noch nicht ermittelt, ob es sich um eine Taxe oder anderen Zivil-PKW handelte und dadurch gleichzeitig eine Befragung des Fahrers noch nicht möglich gewesen.
Sie betraten anschließend die Kaserne durch den KsP. Gegen 02.45 Uhr betrat Marzahn die vom Gehilfen des U.v.B., Gefr. d.R. (...), geöffnete Bataillonsunterkunft und forderte von diesem den Waffenkammerschlüssel, weil er eine Kontrolle der Waffenkammer durchzuführen habe.
Entsprechend DV 41/45 und Befehl des Kommandeurs des III. MSB, Hauptmann (...), war der Unteroffizier Marzahn als Stabswaffenkammerverwalter des III.MSB zum Empfang des Waffenkammerschlüssels berechtigt. Auf dem Schlüsselkasten waren neben der Empfangsberechtigung des Bataillonskommandeurs und des Stabschefs des III. MSB auch die Empfangsberechtigung für Unteroffizier Marzahn festgelegt. Die Eintragung über die Ausgabe des Waffenkammerschlüssels im Dienstbuch des U.v.B. nahm Gefr.d.R. (...) sofort vor und ließ sich diese von Marzahn quittieren.
Nach durchgeführter Tatortbesichtigung und entsprechender kriminaltechnischer Untersuchungen muß eingeschätzt werden, daß Marzahn dem außerhalb des Gebäudes befindlichen (...) die entwendeten 2 MPi-K, 3 Pistolen-M, 220 Patronen 9 mm, 200 Patronen M-43 (MPi), 7 MPi-Magazine und 3 Pistolenmagazine durch das Waffenkammerfenster übergeben hat.
Die Waffenkammer befindet sich im Erdgeschoß. Das Fenster ist vergittert.
Marzahn verschloß anschließend die Waffenkammer wieder und gab den Schlüssel an Gefr.d.R. zurück.
Anschließend verließ Marzahn des Unterkunftsbereich, nachdem er beim Gefr.d.R. (...) eine Flasche Wein für den zu dieser Zeit lt. Dienstanweisung ruhenden U.v.B., Unteroffizier (...), zurück ließ.
Unteroffizier (...) war der Annahme, daß er diese Flasche Wein für Marzahn aufheben solle, da er ansonsten mit diesem nichts zu tun hatte.
Nachdem die Maschinenpistolen von Marzahn und (...) an den Objektzaun gestellt wurden, das besagen die derzeitigen Ermittlungsergebnisse, verließen sie die Kaserne wieder durch den KdP, nahmen die Waffen aus der Objektumzäunung und begaben sich in Richtung Staatsgrenze.
Gegen 06.30 Uhr am 19.03.1966 meldete der U.v.B. des III. MSB an den O.v.D. erforderte eine sofortige Überprüfung. Um 07.30 h meldete der Hauptfeldwebel der 7. MSK das Fehlen der Unteroffiziere Marzahn und (...), das Betreten der Waffenkammer des Stabes des III. MSB, das Fehlen von Pistolen und den Aufbruch von Munitionskisten.
Hierüber erstattete der Kommandeur des MSR-2 dem Kommandeur der 1. MSD sofort eine telefonische Meldung.
Gleichzeitig wurde vom Chef des Stabes der Stadtkommandantur Berlin bekannt, daß um 06.25 Uhr im Bereich des KPP Kohlhasenbrück an der Staatsgrenze zu West-Berlin ein gewaltsamer Grenzdurchbruch durch Armeeangehörige stattfand, bei dem der Unteroffizier Marzahn durch Kopfschuß lebensgefährlich verletzt wurde und ein weiterer Armeeangehöriger auf westberliner Gebiet gelangte.
Unteroffizier Marzahn verstarb am 19.03.1966 07.58 Uhr im Standortlazarett Potsdam, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
Während die 2 Maschinenpistolen und 2 Pistolen vom GR-48 sichergestellt und dem MSR-2 zurückgegeben wurden, fehlt die dritte entwendete Pistole M-Nr. L-0369.
Es muß angenommen werden, daß der auf westberliner Gebiet gelangte (...) diese Waffe mit sich führte.
Bisher wurden 89 Patronen M-43, 53 Patronen 9 mm, 2 MPi-Magazine und 2 Pistolenmagazine sichergestellt.
IV. Ursachen und begünstigende Bedingungen:
- Nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen, die gemeinsam mit dem Militärstaatsanwalt und den Sicherheitsorganen geführt wurde, ist ein Motiv für dieses Verbrechen nicht klar erkennbar.
Die durchgeführten Befragungen und Einschätzungen des engeren Personenkreises beider Unteroffiziere ergab, daß (...) stark westlichen Einflüssen unterlag, die offensichtlich durch familäre Verbindung mit Angehörigen in Westdeutschland, kapitalistischen Ausland und West-Berlin hervorgerufen wurden.
(...) selbst weilte 1960/61 mehrmals in West-Berlin. Er muß als der aktivere Teil der Fahnenflucht angesehen werden, der den (...) Marzahn in seine Beeinflussung einbezog.
Die von beiden Unteroffizieren geäußerten Meinungen wurden nicht ernst genommen, nicht weitergemeldet und gaben aus diesen Gründen für die Vorgesetzten keine besonderen erzieherischen Maßnahmen mit diesen Unteroffizieren.
- Der Diebstahl der Handfeuerwaffen und Munition erfolgte unter Mißbrauch der Dienststellung "Waffenkammerverwalter" und nicht durch Verletzung der in der DV 41/45 festgelegten Forderungen über die Sicherheit der Waffenkammern und der Ordnung des Betretens.
Zur Erhöhung der Sicherheit ist eine Präzisierung dieser Forderungen erforderlich, insbesondere für die Ordnung des Betretens der Waffenkammern außerhalb der regulären Dienstzeit.
- Die Dienstdurchführung der Tagesdienste (besonders des U.v.B. und dessen Gehilfen) hatten keinen unmittelbaren Einfluß auf das Verbrechen. Die Forderung einer präzisen täglichen Einweisung, Aufgabenstellung und Überprüfung der Kenntnisse der Tagesdienste wird nicht im erforderlichen Maße erfüllt. Es fehlt eine systematische Kontrolle und der Zwang zur unbedingten Erfüllung der Dienstpflichten.
- Erneut wird offensichtlich, daß der Wert der individuellen Erziehung durch Unkenntnis der persönlichen Charaktereigenschaften und Neigungen des Einzelnen wesentlich herabgemindert wird und nicht vorbeugenden Charakter trägt.
Das ist besonders typisch für Dienststellungen in Stäben und wurde im Stab III. MSB mit zu einem begünstigenden Faktor.
- Die verspätet erstattete Meldung (30 Minuten) über das Fehlen beider Unteroffiziere vom Ausgang an den O.v.D. des Regiments hatte in diesem Fall keine Auswirkungen auf die Verhinderung der Tat (Grenzdurchbruch 06.25 Uhr). Diese eingebürgerte Gewohnheit der verspäteten Erstattung von Meldungen ist auch im III. MSB stark verbreitet.
V. Angewiesene Sofortmaßnahmen:
- Erstatten der Sofortmeldung entsprechend Melde- und Untersuchungsordnung.
- Sicherung des Tatorts (Waffenkammer des Stabes III. MSB)
- Einsatz einer Untersuchungsgruppe, bestehend aus Offizieren des MB V, des Stabes der 1. MSD und des MSR-2.
- Aufnahme der Arbeit durch den Militärstaatsanwalt und der Kriminalpolizei
- Austausch von Informationen mit der 4. Grenzbrigade und dem Grenzregiment 48
- Absprache und Festlegung von Maßnahmen mit der 4. Grenzbrigade, der Abteilung Sicherheit der Bezirksleitung der SED Potsdam und allen Kommandeuren der im Standort Potsdam stationierten Einheiten der NVA:
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- erste Einweisung des Offiziersbestandes in das Vorkommnis sofort nach Bekanntwerden durch den Kommandeur des MSR-2
- Erarbeitung einer Argumentation für die politische Arbeit mit den Armeeangehörigen
- Einweisung der Stellvertreter für PA der Bataillons, der Parteisekretäre der Bataillons und der Kompaniechefs der sst. Kompanien in die durchzuführenden Maßnahmen
- Beratungen in den Parteiorganisationen zu den Fragen des Auftretens der Mitglieder und Kandidaten in den Kompanieversammlungen
- Kompanieversammlungen mit der Information über das Vorkommnis
- Organisation der Parteiinformation zu den eingewiesenen Fragen
- Einweisung der Streifenoffiziere durch den Stellvertreter für PA des MSR-2
- Einsatz von leitenden Offizieren der Bataillone zur zusätzlichen Zivilstreife für den 19. und 20.03.1966
- Auswertung der Stimmungen und Meinungen.
- Festlegung notwendiger Maßnahmen mit den Stadtleitungen der SED der Wohnorte der Fahnenflüchtigen durch Offiziere des MSR-2.
VI. Schlußfolgerungen und Vorschläge:
1. Die abschließende Einschätzung des Motivs und der Ursachen dieser Gruppenfahnenflucht kann erst dann erfolgen, wenn durch die Untersuchungsorgane noch einige offenstehende und außerhalb des Truppenteils liegende Ermittlungen geführt wurden. Es gibt bisher keine Beweise für eine längere Vorbereitung dieses Verbrechens und eventueller weiterer Beteiligter. Die Untersuchungsergebnisse lassen den Unteroffizier (...) als den aktiveren Teil für die Fahnenflucht erkennen.
2. Nach den bisherigen Ermittlungen ist eine Verletzung der Dienstvorschriften, die die Tat in Vorbereitung und Durchführung begünstigte, nicht festzustellen.
Die Festlegung in der DV 41/45 über das Betreten von Waffenkammern ließen den Mißbrauch der Dienstbefugnisse des Unteroffiziers Marzahn zu.
Zur Erhöhung der Sicherheit der Waffenkammern und der Verhinderung weiterer ähnlicher Vorkommnisse wird vorgeschlagen:
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a) das Betreten der Waffenkammern außerhalb der Dienstzeit nur auf Befehl des O.v.D. des Truppenteils zu gestatten
b) das Betreten der Waffenkammern des lt. DV 41/45 festgelegten Personenkreises nur in Begleitung des Diensthabenden der Einheit zu gestatten.
3. Durch die eingeleiteten Sofortmaßnahmen im Truppenteil und eine offensive politische Arbeit mit dem Ziel, eine mögliche demoralisierende Auswirkung des Vorkommnisses zu verhindern, wurde erreicht, daß die Masse der Armeeangehörigen die Fahnenflucht zweier Unteroffiziere als Verbrechen und dem Regiment Schande einbringend erkannten und bereit ist, durch erhöhte Anstrengungen ihren Beitrag zur Erhöhung der Kampfkraft zu leisten. Diese Bereitschaft drückt sich aus in Kollektivverpflichtungen der Züge und Kompanien.
Einzelerscheinungen, die sich in passiven Verhalten bzw. objektivistischen Auffassungen ausdrücken, erfordern weitere zielgerichtete Maßnahmen, besonders mit den Unteroffizieren und im gesamten III. MSB.
4. Es wird vorgeschlagen, weitere Maßnahmen zur Auswertung sowie erforderliche Disziplinarmaßnahmen nach Abschluß der Untersuchungen durch den Kommandeur der 1. MSD treffen zu lassen.
(...) Oberstleutnant
Quelle: BStU, MfS, U 83/88, Bl. 77-85