Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Walter Rolf F. und Erich Richard S. vom 5. März 1997
Fall Peter Fechter, erschossen an der Berliner Mauer
Abschrift [Auszug] Landgericht Berlin Az.:(521) 27/2 Js 83/90 Kls (28/96)5. März 1997 URTEIL
Im Namen des Volkes Strafsache gegen
- 1. den Rentner Walter Rolf F., geboren 1935,
2. den Former Erich Richard S., geboren 1941,
Die 21. große Strafkammer – Jugendkammer – des Landgerichts Berlin hat […] in der Sitzung vom 5. März 1997 für Recht erkannt:
Die Angeklagten sind des Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Totschlag schuldig.
Es werden verurteilt:
Der Angeklagte F. zu einer Freiheitsstrafe von 1 (einem) Jahr und 9 (neun) Monaten, der Angeklagte S. zu einer Jugendstrafe von 1 (einem) Jahr und 8 (acht) Monaten.
Die Vollstreckung wird zur Bewährung ausgesetzt.
Die Angeklagten haben die Kosten des Verfahrens und die der Nebenklägerin erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen. Angewendete Vorschriften:
§§ 212, 43, 47, 73 StGB 1871 i. d. F. des Strafrechtsergänzungsgesetzes 1957 i. V. m. §§ 112, 21, 22 Abs. 2 Nr. 2, 63, 81 StGB/DDR 1968 und §§ 212, 213, 2, 22, 25 Abs. 2, 52, 56 StGB, Art. 315, 315a EGStGB.
Beim Angeklagten S. zusätzlich §§ 1, 105 ff JGG.
Gründe:
[…]
III. [Beweiswürdigung]
Die Kammer hat sich in der Hauptverhandlung damit auseinandergesetzt, von wem der letztendlich tödliche Schuss auf Peter Fechter abgegeben wurde. Von zentraler Bedeutung waren in diesem Zusammenhang die sachverständigen Angaben von Herrn Prof. Dr. P., der das Opfer 1962 obduziert hatte. Bei dem Sachverständigen handelt es sich um den international hoch angesehenen und äußerst erfahrenen langjährigen Leiter der forensischen Medizin in der Berliner Charite. Nach seinen überzeugenden und wissenschaftlich begründeten Angaben, die sich auf das vor kurzem aufgefundene Obduktionsprotokoll stützten, war von folgenden Prämissen auszugehen:
- 1. Der Wundkanal verlief in leicht aufsteigender Weise.
2. Die inneren Verletzungen waren tödlich. Peter Fechter wäre auch bei sofortiger optimaler ärztlicher Versorgung nicht mehr zu retten gewesen.
3. Es kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Verletzung durch einen Querschläger verursacht wurde.
4. Es ist anzunehmen, dass Peter Fechter sofort nach dem Treffer zusammenbrach. Mit letzter Sicherheit kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass er doch noch in der Lage war, einige Schritte zurückzulegen.
Auf der anderen Seite konnte der Sachverständige aber auch nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass Peter Fechter doch noch in der Lage war, einige Meter weiter zu laufen, bevor er direkt an der Mauer zusammenbrach. Angesichts des aufsteigenden Schusskanals und des Umstandes, dass die Verletzung nicht durch einen Querschläger hervorgerufen sein konnte, ist es auch denkbar, dass der Schuss vom Postenführer S. kam, der von der Charlottenstraße aus einem Graben auf Peter Fechter gefeuert hatte.
Da sich nicht mit endgültiger Sicherheit klären ließ, wer den tödlichen Schuss abgegeben hatte, war nach dem Zweifelsgrundsatz zugunsten der Angeklagten davon auszugehen, dass der Postenführer 3, also der verstorbene S., der Todesschütze war.
IV. [Rechtliche Würdigung]
Aufgrund des festgestellten Sachverhaltes haben sich die Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Totschlag gemäß §§ 212, 22, 23 StGB strafbar gemacht, indem sie Peter Fechter töteten, ohne Mörder zu sein und mit Tötungsvorsatz auf Helmut K. schossen. Das bundesdeutsche Strafrecht ist unter Berücksichtigung des Günstigkeitsprinzips gemäß Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.V.m. § 2 StGB anzuwenden, da die Voraussetzungen des § 213 StGB vorliegen und die Strafdrohung der §§ 212, 213 StGB mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren gegenüber den §§ 112, 113 StGB/DDR mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren milder ist (vgl. BGHSt 40, 48, 51).
[…]
Dass in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden konnte, aus welcher Waffe das tödliche Projektil stammte, steht der Annahme eines vollendeten Totschlags nicht entgegen: Denn die Angeklagten handelten gemeinschaftlich sowohl untereinander als auch mit dem Postenführer 3. Der Schusswaffengebrauch durch die beiden Angeklagten und den inzwischen verstorbenen Postenführer S. stellt sich als ein arbeitsteiliges Vorgehen dar, bei dem der Tatbeitrag jedes Angeklagten denjenigen des Mitangeklagten und des dritten Posten ergänzte. Jeder Angeklagte stellte sich vor, er müsste den Grenzdurchbruch auch unter Einsatz der Schusswaffe verhindern. Keiner von ihnen hat bewusst daneben geschossen. Jeder Posten konnte sich, wie die Angeklagten wussten, darauf verlassen, dass ihr Schießen durch das befehlsgemäße Verhalten der anderen Posten in der Wirkung verstärkt würde.
Die Tat der Angeklagten war rechtswidrig, obwohl der Schusswaffengebrauch nach den seinerzeit in der DDR geltenden Vorschriften in der Ausprägung der tatsächlichen Befehlslage gerechtfertigt war, weil er zur präventiven Verhinderung eines Grenzübertritts erforderlich war. Die Annahme unwirksamer Rechtfertigung nach Tatortrecht muss zwar auf Fälle extremen, offensichtlichen Unrechts beschränkt bleiben. Ein Rechtfertigungsgrund für die vorsätzliche Tötung von Personen, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten ist jedoch wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte als unwirksam anzusehen (BGHSt 39, 1, 15ff; 39, 168, 183ff, 41, 101; entsprechend BVerfG StV 1997, 14).
[…]
V. [Strafzumessung]
Bei der Strafzumessung war beim Angeklagten F. vom Strafrahmen des 213 StGB (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) auszugehen. Diese Beurteilung beruhte maßgeblich darauf, dass er die Tat nicht aus freiem Entschluss beging, sondern aufgrund einer – wenn auch rechtswidrigen – Befehlslage handelte. Vor dem Hintergrund des in der DDR herrschenden politischen und gesellschaftlichen Systems, das insbesondere in der damaligen Phase des "Kalten Krieges" von staatlicher Lenkung und Steuerung auf allen Gebieten gekennzeichnet war, war die Entwicklung des Angeklagten zu einer selbständigen und kritischen Persönlichkeit erheblich erschwert. Durch die Einberufung zum Wehrdienst in den Grenztruppen, die ständigen Vergatterungen und die Gerüchte von einschneidenden Konsequenzen bei Nichtverhinderung einer Flucht geriet er in eine Situation, deren vernünftige Bewältigung ihm nicht gelang. Hinzu kommt, dass er sich in einem – wenn auch vermeidbaren – Verbotsirrtum befand.
[…]
Dass Peter Fechter nahezu fünfzig Minuten unversorgt am Fuß der Mauer verblutete, war nicht strafschärfend zu berücksichtigen. Die Hauptverhandlung hat nicht vollständig geklärt, wer für das furchtbare Leiden Peter Fechters verantwortlich war. Es scheint aber zumindest soviel festzustehen, dass es sich hierbei nicht um eine beabsichtigte und gezielte Aktion der östlichen Seite gehandelt hatte. Vieles deutet darauf hin, dass Desorganisation und Konfusion seitens der verantwortlichen Offiziere hierfür ursächlich waren und die Grenztruppen auf einen derartigen Fall nicht eingerichtet waren. Erst sechs Tage später und ganz offensichtlich aufgrund dieses Vorfalles erging nämlich am 23. August 1962 ein Befehl des Kommandeurs der 1. Grenzbrigade, wonach u.a. entlang der Grenze an der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Orten Rettungsfahrzeuge in ständiger Alarmbereitschaft zu stationieren waren. Für das plan- und tatenlose Verhalten auf östlicher Seite am 17. August 1962 waren jedenfalls nicht die Angeklagten verantwortlich, denen das Betreten des Zehn – Meter – Streifens, in dem Peter Fechter blutend lag, verboten war und die ohnehin kurze Zeit nach der Schussabgabe abgelöst und ins Hinterland geschafft wurden.
[…]
Quelle: StA Berlin, Az. 27 Js 83/90, Bd. 6, Bl. 120a-g; auszugsweise dokumentiert in: Klaus Marxen/Gerhard Werle u.a. (Hg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2/1. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Berlin 2002, S. 239-248.