geboren am 3. August 1936
unter Beschuss ertrunken am 5. Oktober 1961
in der Spree nahe der Oberbaumbrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Friedrichshain und Berlin-Kreuzberg
Dass er ein guter Schwimmer ist, mag ihn in an jenem Oktoberabend ermutigt haben, die Flucht durch ein Grenzgewässer zu riskieren. Es ist schon fast Mitternacht, als er sich dem Spreeufer nähert. Auf dem Gelände der Osthafenmühle legt er Jacke, Hose und Schuhe ab und springt ins Wasser. Sofort werden Grenzposten, die auf der Oberbaumbrücke im Einsatz sind, auf den Flüchtling aufmerksam. Auf die Abgabe von Leuchtsignalen und Warnschüssen folgen gezielte Schüsse.
Am 7. Oktober 1961 wird zum ersten Mal seit dem Mauerbau der Jahrestag der DDR-Gründung begangen. Aus diesem Anlass halten staatliche Betriebe und Organisationen im ganzen Land obligatorische Feierlichkeiten ab. Am Abend des 5. Oktober nimmt auch Udo Düllick, der in Berlin-Lichtenberg als Ingenieur bei der Reichsbahn arbeitet, an einer solchen Betriebsfeier teil. Der 25-Jährige hat den politischen Druck, der im SED-Staat herrscht, seit langem satt. Es fällt ihm schwer, so erinnert sich seine Schwester, nicht aufzumucken und kritische Gedanken zu unterdrücken. [1] An diesem Abend kommt es zum Eklat. Im Laufe der Betriebsfeier gerät Udo Düllick mit einem Vorgesetzten in Streit. Während der Auseinandersetzung soll er dem Mann die Schulterstücke von der Reichsbahneruniform gerissen haben. Vermutlich ist es dieser Konflikt, der die Entscheidung zur Flucht herbeiführt. Denn noch in derselben Nacht fährt Udo Düllick mit einem Taxi zur Warschauer Straße im Bezirk Friedrichshain und versucht, in der Nähe der Oberbaumbrücke durch die Spree nach West-Berlin zu schwimmen. [2]
Udo Düllick wird am 3. August 1936 in Werder bei Strausberg östlich von Berlin geboren und wächst dort auf. Schon als Kind ist er lebhaft, wahrheitsliebend und rebellisch. Er stammt aus einer katholischen Familie und hat einen Bruder, der sechs Jahre älter ist. Nach dem frühen Tod der Mutter heiratet sein Vater zum zweiten Mal und die jüngere Halbschwester kommt zur Welt. Als Jugendlicher macht Udo Düllick eine Lehre als Maurer. Danach absolviert er ein Ingenieursstudium in Dresden. Während sein älterer Bruder 1959 in den Westen geht, bleibt Udo Düllick in der DDR und wohnt weiterhin im Haus seiner Eltern. Das Wochenende vom 12. und 13. August 1961 verbringt er zusammen mit seiner Freundin in West-Berlin. Als die Beiden im Laufe des 13. August nach Hause zurückfahren, können sie sich wahrscheinlich wie viele Berliner nicht vorstellen, dass die Abriegelung der Sektorengrenze in der Nacht zuvor endgültig ist. Auf den Mauerbau anspielend sagt Udo Düllick später zu seiner Stiefmutter, er werde immer einen Weg in den Westen finden, wenn es darauf ankomme. [3] Dass er ein guter Schwimmer ist, mag ihn in an jenem Oktoberabend ermutigt haben, die Flucht durch ein Grenzgewässer zu riskieren. Es ist schon fast Mitternacht, als er sich dem Spreeufer nähert. Auf dem Gelände der Osthafenmühle legt er Jacke, Hose und Schuhe ab und springt ins Wasser. Sofort werden Grenzposten, die auf der Oberbaumbrücke im Einsatz sind, auf den Flüchtling aufmerksam. Auf die Abgabe von Leuchtsignalen und Warnschüssen folgen gezielte Schüsse. Schließlich nimmt die Wasserschutzpolizei mit einem Boot die Verfolgung auf. Udo Düllick schwimmt um sein Leben. Um den Kugeln auszuweichen, taucht er immer wieder unter. Auf der anderen Seite des Flusses wollen ihm West-Berliner, die das dramatische Geschehen beobachten, zu Hilfe kommen. Sie müssen jedoch an der Kaimauer verharren. Denn die Spree gehört an dieser Stelle in ihrer ganzen Breite zu Ost-Berlin. Udo Düllick hat das rettende Ufer schon fast erreicht, als er plötzlich im Wasser versinkt. Eine Stunde später wird er am West-Berliner Ufer tot geborgen. [4]
Aus dem Blickwinkel seiner Verfolger sieht es so aus, als hätten ihre Kugeln getroffen. „Die Person wurde durch die abgegebenen Schüsse tödlich verletzt und versank", heißt es in einem Lagebericht der Ost-Berliner Stadtkommandantur. [5]
Doch in West-Berlin stellt sich rasch heraus, dass der Körper des toten Flüchtlings keine Schussverletzungen aufweist. Die Obduktion führt zu dem Ergebnis, dass er aufgrund der Verfolgungsjagd vor Erschöpfung ertrunken ist. [6] Auch in West-Berliner Polizei- und Medienberichten schlagen sich jedoch falsche Annahmen nieder. Augenzeugenberichten zufolge sollen an der Fluchtaktion zwei oder sogar drei Flüchtlinge beteiligt gewesen sein. So hält sich im Westen jahrzehntelang die Behauptung, in jener Nacht sei noch ein zweiter Flüchtling ums Leben gekommen.
Erst nach Öffnung der DDR-Archive kann zweifelsfrei geklärt werden, dass Udo Düllick seinen Fluchtversuch allein unternommen hat. [7] In West-Berlin löst der Tod des Flüchtlings, dessen Identität zunächst unbekannt ist, große Betroffenheit und eine Welle des Protests aus. [8] Nicht weniger als 2.500 Menschen versammeln sich am 7. Oktober 1961 zu einer Trauerfeier am Kreuzberger Gröbenufer. Jugendliche stellen ein großes Holzkreuz auf, das sie - zum Zeichen der Anklage gegen das SED-Regime - mit Stacheldraht versehen. Protestparolen wie „Von den KZ-Wächtern zu Tode gehetzt" werden auf Transparente und Schilder gemalt. In den nächsten Tagen kommen Hunderte von West-Berlinern zum Gröbenufer und legen Blumen und Kränze nieder. Am Totensonntag wird wenige Wochen später neben dem Kreuz ein Gedenkstein errichtet, der die Inschrift „Dem unbekannten Flüchtling" trägt.
In den folgenden Jahren finden dort regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt. Auch die Beerdigung am 18. Oktober 1961 ist eine öffentliche Angelegenheit. Im Anschluss an eine Trauerfeier der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung, die der RIAS live überträgt, wird der Tote unter großer Anteilnahme der Bevölkerung auf dem Jerusalemer Friedhof in Kreuzberg beigesetzt. Da seine Konfession nicht bekannt ist, halten ein katholischer und ein evangelischer Geistlicher gemeinsam die Zeremonie. [9]
Als die Eltern von Udo Düllick aus westlichen Medienberichten von dem Todesfall an der Oberbaumbrücke erfahren, setzen sie sich voller Sorge mit den West-Berliner Behörden in Verbindung. Doch die Verständigung zwischen Ost und West ist seit dem Mauerbau schwierig. So dauert es mehrere Wochen, bis sie die Gewissheit haben, dass der Tote tatsächlich ihr Sohn ist. Aus Rücksicht gegenüber den Angehörigen, die Repressionen befürchten, geben die West-Berliner Behörden seinen Namen dennoch nicht preis. [10] Im November 1961 wird in der katholischen Kirchengemeinde in Rehfelde, dem Nachbarort seines Heimatdorfes, ein Requiem für Udo Düllick gehalten. Auf Verlangen der DDR-Geheimpolizei dürfen die Umstände seines Todes dabei nicht zur Sprache gebracht werden.
Text: Christine Brecht
Udo Düllick wird am 3. August 1936 in Werder bei Strausberg östlich von Berlin geboren und wächst dort auf. Schon als Kind ist er lebhaft, wahrheitsliebend und rebellisch. Er stammt aus einer katholischen Familie und hat einen Bruder, der sechs Jahre älter ist. Nach dem frühen Tod der Mutter heiratet sein Vater zum zweiten Mal und die jüngere Halbschwester kommt zur Welt. Als Jugendlicher macht Udo Düllick eine Lehre als Maurer. Danach absolviert er ein Ingenieursstudium in Dresden. Während sein älterer Bruder 1959 in den Westen geht, bleibt Udo Düllick in der DDR und wohnt weiterhin im Haus seiner Eltern. Das Wochenende vom 12. und 13. August 1961 verbringt er zusammen mit seiner Freundin in West-Berlin. Als die Beiden im Laufe des 13. August nach Hause zurückfahren, können sie sich wahrscheinlich wie viele Berliner nicht vorstellen, dass die Abriegelung der Sektorengrenze in der Nacht zuvor endgültig ist. Auf den Mauerbau anspielend sagt Udo Düllick später zu seiner Stiefmutter, er werde immer einen Weg in den Westen finden, wenn es darauf ankomme. [3] Dass er ein guter Schwimmer ist, mag ihn in an jenem Oktoberabend ermutigt haben, die Flucht durch ein Grenzgewässer zu riskieren. Es ist schon fast Mitternacht, als er sich dem Spreeufer nähert. Auf dem Gelände der Osthafenmühle legt er Jacke, Hose und Schuhe ab und springt ins Wasser. Sofort werden Grenzposten, die auf der Oberbaumbrücke im Einsatz sind, auf den Flüchtling aufmerksam. Auf die Abgabe von Leuchtsignalen und Warnschüssen folgen gezielte Schüsse. Schließlich nimmt die Wasserschutzpolizei mit einem Boot die Verfolgung auf. Udo Düllick schwimmt um sein Leben. Um den Kugeln auszuweichen, taucht er immer wieder unter. Auf der anderen Seite des Flusses wollen ihm West-Berliner, die das dramatische Geschehen beobachten, zu Hilfe kommen. Sie müssen jedoch an der Kaimauer verharren. Denn die Spree gehört an dieser Stelle in ihrer ganzen Breite zu Ost-Berlin. Udo Düllick hat das rettende Ufer schon fast erreicht, als er plötzlich im Wasser versinkt. Eine Stunde später wird er am West-Berliner Ufer tot geborgen. [4]
Aus dem Blickwinkel seiner Verfolger sieht es so aus, als hätten ihre Kugeln getroffen. „Die Person wurde durch die abgegebenen Schüsse tödlich verletzt und versank", heißt es in einem Lagebericht der Ost-Berliner Stadtkommandantur. [5]
Doch in West-Berlin stellt sich rasch heraus, dass der Körper des toten Flüchtlings keine Schussverletzungen aufweist. Die Obduktion führt zu dem Ergebnis, dass er aufgrund der Verfolgungsjagd vor Erschöpfung ertrunken ist. [6] Auch in West-Berliner Polizei- und Medienberichten schlagen sich jedoch falsche Annahmen nieder. Augenzeugenberichten zufolge sollen an der Fluchtaktion zwei oder sogar drei Flüchtlinge beteiligt gewesen sein. So hält sich im Westen jahrzehntelang die Behauptung, in jener Nacht sei noch ein zweiter Flüchtling ums Leben gekommen.
Erst nach Öffnung der DDR-Archive kann zweifelsfrei geklärt werden, dass Udo Düllick seinen Fluchtversuch allein unternommen hat. [7] In West-Berlin löst der Tod des Flüchtlings, dessen Identität zunächst unbekannt ist, große Betroffenheit und eine Welle des Protests aus. [8] Nicht weniger als 2.500 Menschen versammeln sich am 7. Oktober 1961 zu einer Trauerfeier am Kreuzberger Gröbenufer. Jugendliche stellen ein großes Holzkreuz auf, das sie - zum Zeichen der Anklage gegen das SED-Regime - mit Stacheldraht versehen. Protestparolen wie „Von den KZ-Wächtern zu Tode gehetzt" werden auf Transparente und Schilder gemalt. In den nächsten Tagen kommen Hunderte von West-Berlinern zum Gröbenufer und legen Blumen und Kränze nieder. Am Totensonntag wird wenige Wochen später neben dem Kreuz ein Gedenkstein errichtet, der die Inschrift „Dem unbekannten Flüchtling" trägt.
In den folgenden Jahren finden dort regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt. Auch die Beerdigung am 18. Oktober 1961 ist eine öffentliche Angelegenheit. Im Anschluss an eine Trauerfeier der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung, die der RIAS live überträgt, wird der Tote unter großer Anteilnahme der Bevölkerung auf dem Jerusalemer Friedhof in Kreuzberg beigesetzt. Da seine Konfession nicht bekannt ist, halten ein katholischer und ein evangelischer Geistlicher gemeinsam die Zeremonie. [9]
Als die Eltern von Udo Düllick aus westlichen Medienberichten von dem Todesfall an der Oberbaumbrücke erfahren, setzen sie sich voller Sorge mit den West-Berliner Behörden in Verbindung. Doch die Verständigung zwischen Ost und West ist seit dem Mauerbau schwierig. So dauert es mehrere Wochen, bis sie die Gewissheit haben, dass der Tote tatsächlich ihr Sohn ist. Aus Rücksicht gegenüber den Angehörigen, die Repressionen befürchten, geben die West-Berliner Behörden seinen Namen dennoch nicht preis. [10] Im November 1961 wird in der katholischen Kirchengemeinde in Rehfelde, dem Nachbarort seines Heimatdorfes, ein Requiem für Udo Düllick gehalten. Auf Verlangen der DDR-Geheimpolizei dürfen die Umstände seines Todes dabei nicht zur Sprache gebracht werden.
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Gespräch von Christine Brecht, Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke mit Irene Düllick, der Schwester von Udo Düllick, 3.9.2005.
[2]
Das ergeben auch die zeitgenössischen Ermittlungen der West-Berliner Polizei. Vgl. StA Berlin, Az. 27 Js 143/90, Bd. 1, Bl. 1-89.
[3]
Vgl. Gespräch von Christine Brecht, Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke mit Irene Düllick, der Schwester von Udo Düllick, 3.9.2005.
[4]
Zum Hergang des Geschehens vgl. Spitzenmeldung des MdI//Bepo/1.GB/B./VI. Abt./Kommandeur betr. Schußwaffengebrauch am 5.10.61 gegen 24.00 Uhr im Gebiet des Osthafens, 6.10.1961, in: BArch, VA-07/16926, Bl. 83.
[5]
Lagebericht der SKB/1.GB/Abt. Operativ, 6.10.1961, in: BArch, VA-07/4787, o.P.
[6]
Vgl. Vorläufiges Gutachten von West-Berliner Gerichtsärzten über die Sektion eines unbekannten junges Mannes, 7.10.1961, in: StA, Az. 27 Js 143/90, Bd. 1, Bl. 29-30.
[7]
Vgl. Verfügung [27/2 Js 143/90] der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin, 4.10.1994, in: Ebd., Bd. 2, Bl. 281-284.
[8]
Vgl. z.B. „Ein schwarzes Kreuz an der Mordstelle", Der Kurier, 9.10.1961, sowie Ereignismeldung der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektor- und Zonengrenze, 13.10.1961, in: PHS, Bestand Ereignismeldungen, o.Pag.
[9]
Vgl. „Abschied von dem unbekannten Flüchtling", Der Tagesspiegel, 19.10.1961.
[10]
Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung des Bruders von Udo Düllick durch die West-Berliner Polizei, 17.11.1961, in: StA Berlin, Az. 27 Js 143/90, Bd. 1, Bl. 57, sowie Bericht der West-Berliner Polizei, 17.11.1961, in: Ebd., Bl. 58-59.