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Günter Litfin: geboren am 19. Januar 1937, erschossen am 24. August 1961 bei einem Fluchtversuch im Berliner Grenzgewässer (Aufnahme um 1960)
Gedenkkreuz für Günter Litfin am Berliner Reichstagsgebäude, Aufnahme 2005

Günter Litfin

geboren am 19. Januar 1937
erschossen am 24. August 1961


im Humboldthafen in der Nähe der Charité
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Tiergarten
Es ist kurz nach 16.00 Uhr, als Günter Litfin an diesem Nachmittag versucht, zwischen den Bahnhöfen Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof von Ost- nach West-Berlin zu gelangen. Berichten der Ost-Berliner Volkspolizei zufolge führt sein Weg vom Charité-Gelände über eine Grundstücksmauer zum Spreeufer. Dort wird er von Angehörigen der Transportpolizei entdeckt.
Günter Litfin, erschossen im Berliner Grenzgewässer: Erstkommunion (Aufnahme um 1947)
Geboren am 19. Januar 1937 in Berlin, wo er im Stadtbezirk Weißensee aufwächst, erlebt Günter Litfin als Kind und Jugendlicher den Zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau und die fortschreitende Teilung der Stadt. Sein Vater Albert ist von Beruf Fleischermeister und gehört 1945 zu den Begründern des lokalen CDU-Kreisverbandes, dem sich auch seine Frau Margarete anschließt. Die vier Söhne werden katholisch getauft und besuchen die St.-Joseph-Schule in Weißensee. So ist die Familie in einem Milieu verwurzelt, dass der Gründung der DDR und dem "Aufbau des Sozialismus" ablehnend gegenübersteht. [1] Die Söhne bleiben dieser Haltung treu: 1957 treten Günter Litfin und sein jüngerer Bruder Jürgen in die West-Berliner CDU ein, die in Abgrenzung zur CDU-Blockpartei in der DDR im Ostteil der Stadt noch illegal aktiv ist. [2]

Nachdem Günter Litfin eine Schneiderlehre absolviert hat, findet er eine Anstellung in einem West-Berliner Maßatelier. Er ist, wie es seinem Beruf entspricht, modebewusst, kleidet sich betont elegant und träumt davon, Theaterschneider zu werden. Anfangs pendelt der junge Mann täglich zwischen der elterlichen Wohnung in Weißensee und seinem Arbeitsplatz am Bahnhof Zoo. Doch sogenannte "Grenzgänger", die im Westen arbeiten und im Osten wohnen, geraten in der DDR zunehmend unter Druck. Um Konflikte zu vermeiden, nimmt sich Günter Litfin eine Wohnung im West-Berliner Bezirk Charlottenburg, meldet sich dort aber noch nicht polizeilich an. Andernfalls würde er als "Republikflüchtling" gelten und könnte seine Angehörigen in Ost-Berlin nicht mehr besuchen. Günter Litfin war, wie sein jüngerer Bruder im Rückblick sagt, "der ruhende Pol in der Familie, dem man sich immer anvertrauen konnte." [3] Nach dem Tod des Vaters, der im Mai 1961 gestorben sei, habe er sich besonders verpflichtet gefühlt, ihrer Mutter zur Seite zu stehen.

Günter Litfin, erschossen im Berliner Grenzgewässer: im Alter von 14 Jahren (Aufnahme 1951)
So schiebt er den endgültigen Umzug hinaus, bis der Mauerbau seine Zukunftspläne schlagartig zunichte macht. Den 12. August 1961, einen Samstag, verbringt Günter Litfin mit Mutter und Bruder bei Verwandten im Westteil der Stadt. Als sie spät abends mit der S-Bahn nach Weißensee zurückfahren, ahnen sie nichts von den bevorstehenden Sperrmaßnahmen. Umso größer ist der Schock, als sie am nächsten Morgen aus dem Radio erfahren, dass die Sektorengrenze im Laufe der Nacht vollständig abgeriegelt worden ist. Günter Litfin will sich mit der Einmauerung nicht abfinden und beginnt, nach Fluchtwegen Ausschau zu halten.

In den ersten Tagen nach dem Mauerbau ist die Zahl der erfolgreichen Fluchtversuche groß. Viele Ost-Berliner finden eine Lücke oder nutzen einen unbeobachteten Moment, um über die noch nicht vollständig kontrollierte Sektorengrenze zu entkommen. [4] Dass die Grenzposten gezielt auf Flüchtende schießen würden, erscheint zu diesem Zeitpunkt noch unvorstellbar. Doch am 24. August 1961 offenbart sich die tödliche Konsequenz des neu errichteten Grenzregimes zum ersten Mal. Es ist kurz nach 16.00 Uhr, als Günter Litfin an diesem Nachmittag versucht, zwischen den Bahnhöfen Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof von Ost- nach West-Berlin zu gelangen. Berichten der Ost-Berliner Volkspolizei zufolge führt sein Weg vom Charité-Gelände über eine Grundstücksmauer zum Spreeufer. [5] Dort wird er von Angehörigen der Transportpolizei entdeckt. Von der Eisenbahnbrücke aus fordern sie den Flüchtenden auf, stehen zu bleiben, und geben Warnschüsse ab. Als Günter Litfin in das angrenzende Becken des Humboldthafens springt, eröffnen sie das Feuer. Das gegenüberliegende West-Berliner Ufer fast in Reichweite, wird er durch eine Kugel in den Hinterkopf tödlich verletzt. Drei Stunden später wird sein Leichnam von Ost-Berliner Feuerwehrleuten aus dem Wasser gezogen. Am anderen Ufer haben sich derweil Hunderte von West-Berlinern versammelt, die den Abtransport des toten Flüchtlings beobachten.
Die Presseberichterstattung der nächsten Tage spiegelt die Empörung, die der Tod von Günter Litfin im Westen auslöst. "Ulbrichts Menschenjäger wurden zu Mördern!", titelt die "BZ", und auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" verurteilt die "brutale Kaltblütigkeit" der Grenzposten. [6] Darüber hinaus bezeugen spontane Protestbekundungen den Unmut der West-Berliner Bevölkerung. So wird am Morgen des 27. August auf der Westseite des Humboldthafens ein Transparent mit der Aufschrift angebracht: "Und wenn der Ulbricht noch so tobt, Berlin bleibt frei, wird niemals rot." [7] Ein Jahr später wird an der gleichen Stelle ein Gedenkstein für Günter Litfin enthüllt.

Ganz anders sehen die Reaktionen in Ost-Berlin aus. Unter der Überschrift "Schüsse missachtet" wird der Flüchtling in Ost-Berliner Presseberichten als "eine wegen verbrecherischer Handlungen verfolgte Person" hingestellt. [8] Das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" und Chef-Propagandist Karl Eduard von Schnitzler schrecken auch nicht davor zurück, den Toten namentlich zu verunglimpfen. Unterdessen werden die Angehörigen Günter Litfins von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit schikaniert und eingeschüchtert. Ohne zu wissen, was passiert ist, wird sein Bruder am 25. August festgenommen und eine Nacht lang verhört. Am gleichen Tag muss seine Mutter erleben, wie ihre Wohnung ohne Angabe von Gründen durchsucht wird. Über das Schicksal von Günter Litfin werden sie jedoch im Unklaren gelassen. Erst durch eine Meldung in der West-Berliner "Abendschau", die am 26. August über den Todesfall am Humboldthafen berichtet, erfahren sie, dass er an der Mauer erschossen worden ist. [9]

Günter Litfin, erschossen im Berliner Grenzgewässer: Straßenbenennung in Berlin-Weißensee, 24. August 2003
Obwohl die Todesumstände angesichts westlicher Medienberichte allgemein bekannt sind, verlangen die Ost-Berliner Behörden, dass die Hinterbliebenen darüber Stillschweigen bewahren. In der Todesanzeige formulieren die Angehörigen daher vieldeutig, "durch einen tragischen Unfall" sei Günter Litfin plötzlich und unerwartet verstorben. Auch während der Beerdigung, die am 31. August in Anwesenheit von Stasi-Mitarbeitern auf dem Weißenseer St.-Hedwigs-Friedhof stattfindet, darf die Wahrheit nicht zur Sprache kommen. So gerät das Begräbnis zur Farce, denn die Mehrzahl der Trauergäste habe durchaus gewusst, so Jürgen Litfin, dass sein Bruder nicht "verunglückt" war. [10]

Nach dem Ende der DDR werden strafrechtliche Ermittlungen gegen zwei damalige Schützen eingeleitet. 1997 müssen sie sich vor dem Landgericht Berlin für ihre Tat verantworten. Laut Urteil sind sie des gemeinschaftlich begangenen Totschlags schuldig. Wie in den meisten Mauerschützenprozessen fallen die Strafen mit einem Jahr sowie einem Jahr und sechs Monaten milde aus und werden zur Bewährung ausgesetzt. Zur Begründung gibt das Gericht zu bedenken, "wie wenig alle einschlägigen Verurteilungen dem Unrechtscharakter der Taten gerecht werden, wie stark sie Symbolcharakter tragen." [11]

Auf Initiative seines Bruders Jürgen wurde die Erinnerung an Günter Litfin in der zur Gedenkstätte umgewidmeten ehemaligen Führungsstelle der Grenztruppen am Spandauer Schifffahrtskanal bewahrt. Der frühere Wachturm ist seit 2017 Teil der Stiftung Berliner Mauer. In Günter Litfins früherem Wohnbezirk Berlin-Weißensee wurde im Jahr 2000 eine Straße nach ihm benannt; am Kapelle-Ufer in Berlin-Mitte, unweit des Fluchtorts, erinnert ein Gedenkstein an das erste Opfer des Schießbefehls in Berlin.

Text: Christine Brecht

[1] Vgl. Jürgen Litfin, Tod durch fremde Hand. Das erste Maueropfer in Berlin und die Geschichte einer Familie, Husum 2006. [2] Vgl. Günter Buchstab (Hg.), Verfolgt und entrechtet. Die Ausschaltung christlicher Demokraten unter sowjetischer Besatzung und SED-Herrschaft 1945-1961, Düsseldorf 1998. [3] Gespräch von Christine Brecht mit Jürgen Litfin, 2.6.2006. [4] Vgl. Bernd Eisenfeld/Roger Engelmann, 13.8.1961. Mauerbau, Fluchtbewegung und Machtsicherung, Berlin 2001. [5] Vgl. Rapport Nr. 236 des PdVP Berlin/OS für die Zeit vom 24.8./25.8.1961, 25.8.1961, in: PHS, Bestand PdVP-Rapporte, Bl. 188; Rapport Nr. 236/61 der Trapo/Abschnitt Berlin/Operativstab für die Zeit vom 24.8.1961, 00.00 Uhr, bis 24.8.1961, 24.00 Uhr, 25.8.1961, in: PHS, Bestand Trapo-Rapporte, Bl. 17; Bericht der [SED-]Bezirkseinsatzleitung Berlin über den 24. August 1961 an Walter Ulbricht, 25.8.1961, in: BArch, VA-07/39575, Bl. 22-26; Rapport Nr. 234 der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei, 25.8.1961, in: BArch, DO 1/11.0/1351, Bl. 170. [6] BZ, 25.8.1961; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.8.1961. [7] Journal der Handlungen des Stabs des PdVP, 27.8.1961, in: LAB, C Rep. 303-26-01, Nr. 239, Bl. 116. [8] Berliner Zeitung, 25.8.1961. [9] Vgl. Interview von Maria Nooke mit Jürgen Litfin, 8.1.2001. [10] Vgl. ebd. [11] Urteil des Landgerichts Berlin vom 17.1.1997, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 141/90, Bd. 3, Bl. 15-29, hier Bl. 28.
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