geboren am 31. Juli 1881
verletzt am 25. September 1961
bei der Flucht aus ihrer Wohnung in der Bernauer Straße 34
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Wedding
am 26. September 1961 an den Folgen gestorben
Am Abend des 25. September entschließt sich auch Olga Segler, aus dem Fenster ihrer im zweiten Stock gelegenen Wohnung zu springen. Unten auf dem Gehweg wartet ihre Tochter und ermutigt sie, während Feuerwehrleute ein Sprungtuch ausbreiten und die 80-Jährige auffangen.Olga Segler wird 1881 in einem Ort namens Prischt im Gebiet der späteren Ukraine als Tochter deutschstämmiger Eltern geboren. Amtliche Quellen, die ihren weiteren Lebensweg dokumentieren, sind offenbar nicht überliefert. Im Jahr 1961 ist sie 80 Jahre alt und lebt in der Bernauer Straße Nr. 34, nahe der Brunnenstraße, im Ost-Berliner Bezirk Mitte. Wie bei allen Häusern auf dieser Straßenseite bildet die Baufluchtlinie die Grenze zum Westteil der Stadt. So gerät die alte Frau durch die Sperrmaßnahmen in eine außerordentlich prekäre Lage. Zum einen wird sie von ihrer Tochter getrennt, die nicht weit entfernt auf der West-Berliner Seite der Sektorengrenze wohnt. Zum anderen muss sie erleben, wie die DDR-Behörden immer rücksichtsloser in den Alltag der Anwohner eingreifen. Nahezu sechs Wochen harrt Olga Segler in einem verbarrikadierten Wohnhaus aus, in dem zur Verhinderung von Fluchtaktionen Wachposten in Fluren und Treppenhäusern postiert sind und die Bewegungen im Gebäude und das Verhalten der Bewohner rund um die Uhr kontrollieren.
Denn die Grenzhäuser an der Bernauer Straße gelten den DDR-Behörden als ein „besonderer Schwerpunkt der Grenzdurchbrüche", wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt. [1] Einem Ost-Berliner Lagebericht zufolge gehören im September 1961 „Absprünge aus Wohnhäusern, deren Baufluchtlinie die Staatsgrenze darstellen, in bereitgehaltene Sprungtücher der Feuerwehr bzw. Abseilen aus diesen Häusern" zu den häufigsten Fluchtmethoden. [2] Im West-Berliner Nachbarbezirk Wedding treffen in den ersten drei Monaten nach dem Mauerbau mehr als 150 Menschen ein, die auf diese Weise geflüchtet sind. Viele von ihnen verletzen sich bei der gefährlichen Flucht und müssen ärztlich behandelt werden. [3] Der erste Todesfall ereignet sich am 22. August, als die 58-jährige Ida Siekmann beim Sprung aus ihrer Wohnung tödlich verunglückt.
Im September spitzt sich die Lage in der Bernauer Straße weiter zu. Am Morgen des 24. September beginnt eine groß angelegte Räumungsaktion. Zumeist gegen ihren Willen sollen 2.000 Menschen ihre Wohnungen verlassen. West-Berliner Polizei und Feuerwehr stellen sich darauf ein, dass viele Anwohner versuchen würden, „noch im letzten Augenblick bevor ihre Wohnungen geräumt wurden, in die Freiheit zu fliehen." [4] Tatsächlich kommt es im Zuge der Häuserräumung zu dramatischen Szenen, so etwa als eine 77-jährige Frau minutenlang vor einer Hauswand hängt, weil von oben ein Räumkommando versucht, sie in ihre Wohnung zurückzuzerren, während von unten West-Berliner Passanten an ihr ziehen, bis sie schließlich im Sprungtuch der Feuerwehr landet. [5] Am Abend des 25. September entschließt sich auch Olga Segler, aus dem Fenster ihrer im zweiten Stock gelegenen Wohnung zu springen. Unten auf dem Gehweg wartet ihre Tochter und ermutigt sie, während Feuerwehrleute ein Sprungtuch ausbreiten und die 80-Jährige auffangen. Beim Aufprall zieht sie sich jedoch eine Rückenverletzung zu und muss mit einem Krankenwagen in das nahe gelegene Lazarus-Krankenhaus gebracht werden. Dort stirbt Olga Segler einen Tag später. [6] Sie erliegt einem Herzleiden, das durch die bei der Flucht erlittene Aufregung zum Tod führt. [7]
Die DDR-Behörden registrieren Olga Seglers Fluchtversuch als „Grenzdurchbruch", was sich in der amtlichen Berichterstattung in der Formulierung niederschlägt, ihr sei die „Republikflucht" gelungen. [8] Das hat zur Folge, dass in Ost-Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen die tödlich verunglückte Greisin eingeleitet wird. [9]
Auf der anderen Seite der Mauer wird unterdessen öffentlich um Olga Segler getrauert. Die Beisetzung findet auf dem Städtischen Friedhof in Berlin-Reinickendorf statt. Am Ort des Unglücks wird ihr im November 1961 ein Mahnmal gewidmet. Gestaltet aus Holz und Stacheldraht hat dieses Erinnerungsmal die gleiche Form wie die Gedenkzeichen für Ida Siekmann und Rudolf Urban, die ebenfalls in der Bernauer Straße wohnten und dort bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen sind. An Gedenktagen wird es in den folgenden Jahrzehnten stets aufs Neue mit Kränzen und Blumen geschmückt.
Das Haus, in dem Olga Segler gewohnt hat, wird 1966 bis auf die Erdgeschossfassade abgerissen. Bis 1980 bildet der gespenstisch anmutende Fassadenrest mit den vermauerten Fenstern die Grenzmauer. Dann müssen auch die letzten Spuren der ursprünglichen Wohnsituation einer Betonmauer weichen.
Text: Christine Brecht
Im September spitzt sich die Lage in der Bernauer Straße weiter zu. Am Morgen des 24. September beginnt eine groß angelegte Räumungsaktion. Zumeist gegen ihren Willen sollen 2.000 Menschen ihre Wohnungen verlassen. West-Berliner Polizei und Feuerwehr stellen sich darauf ein, dass viele Anwohner versuchen würden, „noch im letzten Augenblick bevor ihre Wohnungen geräumt wurden, in die Freiheit zu fliehen." [4] Tatsächlich kommt es im Zuge der Häuserräumung zu dramatischen Szenen, so etwa als eine 77-jährige Frau minutenlang vor einer Hauswand hängt, weil von oben ein Räumkommando versucht, sie in ihre Wohnung zurückzuzerren, während von unten West-Berliner Passanten an ihr ziehen, bis sie schließlich im Sprungtuch der Feuerwehr landet. [5] Am Abend des 25. September entschließt sich auch Olga Segler, aus dem Fenster ihrer im zweiten Stock gelegenen Wohnung zu springen. Unten auf dem Gehweg wartet ihre Tochter und ermutigt sie, während Feuerwehrleute ein Sprungtuch ausbreiten und die 80-Jährige auffangen. Beim Aufprall zieht sie sich jedoch eine Rückenverletzung zu und muss mit einem Krankenwagen in das nahe gelegene Lazarus-Krankenhaus gebracht werden. Dort stirbt Olga Segler einen Tag später. [6] Sie erliegt einem Herzleiden, das durch die bei der Flucht erlittene Aufregung zum Tod führt. [7]
Die DDR-Behörden registrieren Olga Seglers Fluchtversuch als „Grenzdurchbruch", was sich in der amtlichen Berichterstattung in der Formulierung niederschlägt, ihr sei die „Republikflucht" gelungen. [8] Das hat zur Folge, dass in Ost-Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen die tödlich verunglückte Greisin eingeleitet wird. [9]
Auf der anderen Seite der Mauer wird unterdessen öffentlich um Olga Segler getrauert. Die Beisetzung findet auf dem Städtischen Friedhof in Berlin-Reinickendorf statt. Am Ort des Unglücks wird ihr im November 1961 ein Mahnmal gewidmet. Gestaltet aus Holz und Stacheldraht hat dieses Erinnerungsmal die gleiche Form wie die Gedenkzeichen für Ida Siekmann und Rudolf Urban, die ebenfalls in der Bernauer Straße wohnten und dort bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen sind. An Gedenktagen wird es in den folgenden Jahrzehnten stets aufs Neue mit Kränzen und Blumen geschmückt.
Das Haus, in dem Olga Segler gewohnt hat, wird 1966 bis auf die Erdgeschossfassade abgerissen. Bis 1980 bildet der gespenstisch anmutende Fassadenrest mit den vermauerten Fenstern die Grenzmauer. Dann müssen auch die letzten Spuren der ursprünglichen Wohnsituation einer Betonmauer weichen.
Text: Christine Brecht
[1]
[MfS-]Bericht, 1.11.1961, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 525, Bl. 9-39, Zitat Bl. 32.
[2] Information Nr. 21 zum Rapport Nr. 283/61 der HV DVP/Operativstab über Einschätzung der Lage in den Grenzkreisen der Staatsgrenze West, der Staatsgrenze im Bezirk Potsdam und im demokratischen Berlin, 13.10.1961, in: BArch, DO 1/11.0/1354, Bl. 196-199, hier Bl. 199.
[3] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding über die seit dem 13.8.61 geflüchteten Vopo und andere Personen, 14.11.1961, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o.Pag.
[4] Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding über die Zwangsräumungsaktion der Vopo in den Häusern im Zuge der Bernauer Straße (SBS) am 24.9.61, 26.9.1961, in: Ebd.
[5] Vgl. z.B. Berliner Morgenpost, 26.9.1961; Der Tagesspiegel, 26.9.1961.
[6] Vgl. Telegraf, 26. und 27.9.1961; Der Tagesspiegel, 26.9. und 1.10.1961; Ereignismeldungen der West-Berliner Schutzpolizei, 26.9.1961, in: PHS, Bestand E-Meldungen, o.Pag.
[7] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding über die seit dem 13.8.61 geflüchteten Vopo und andere Personen, 14.11.1961, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o.Pag. [8] Vgl. Spitzenmeldung des MdI/Bepo/1.GB/II. Abt. über einen Grenzdurchbruch in der Bernauer Str. 34, 25.9.1961, in: BArch, VA-07/16927, Bl. 257; vgl. auch Rapport Nr. 266 der HV DVP/Operativstab, 26.9.1961, in: BArch, DO1/11.0/1353, Bl. 176.
[9] Vgl. [MfS]-Strafkarte für Olga Segler, 15.9.71, in: BStU, MfS, Strafnachricht, Speicher XII/01.
[2] Information Nr. 21 zum Rapport Nr. 283/61 der HV DVP/Operativstab über Einschätzung der Lage in den Grenzkreisen der Staatsgrenze West, der Staatsgrenze im Bezirk Potsdam und im demokratischen Berlin, 13.10.1961, in: BArch, DO 1/11.0/1354, Bl. 196-199, hier Bl. 199.
[3] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding über die seit dem 13.8.61 geflüchteten Vopo und andere Personen, 14.11.1961, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o.Pag.
[4] Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding über die Zwangsräumungsaktion der Vopo in den Häusern im Zuge der Bernauer Straße (SBS) am 24.9.61, 26.9.1961, in: Ebd.
[5] Vgl. z.B. Berliner Morgenpost, 26.9.1961; Der Tagesspiegel, 26.9.1961.
[6] Vgl. Telegraf, 26. und 27.9.1961; Der Tagesspiegel, 26.9. und 1.10.1961; Ereignismeldungen der West-Berliner Schutzpolizei, 26.9.1961, in: PHS, Bestand E-Meldungen, o.Pag.
[7] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Wedding über die seit dem 13.8.61 geflüchteten Vopo und andere Personen, 14.11.1961, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o.Pag. [8] Vgl. Spitzenmeldung des MdI/Bepo/1.GB/II. Abt. über einen Grenzdurchbruch in der Bernauer Str. 34, 25.9.1961, in: BArch, VA-07/16927, Bl. 257; vgl. auch Rapport Nr. 266 der HV DVP/Operativstab, 26.9.1961, in: BArch, DO1/11.0/1353, Bl. 176.
[9] Vgl. [MfS]-Strafkarte für Olga Segler, 15.9.71, in: BStU, MfS, Strafnachricht, Speicher XII/01.