geboren am 29. April 1938
erschossen am 27. Mai 1962
am Alexanderufer nahe der Charité
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Tiergarten
Nach einem Warnschuss gibt der Grenzer K. von diesem Turm aus zwei gezielte Schüsse ab. Eine der Kugeln trifft Lutz Haberlandt in den Kopf. Er erleidet einen Schädeldurchschuss und bricht tödlich verletzt zusammen. Ärzte, Schwestern und Patienten der anliegenden Nervenklinik der Charité werden Zeugen, wie er ungefähr 40 Minuten lang im Gebüsch liegen gelassen wird.Der Tag, an dem der Ost-Berliner Lutz Haberlandt in den Westteil der Stadt flüchten will, ist ein Sonntag. Es ist sonnig und für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. In einer Rundfunkansprache fordert an diesem 27. Mai 1962 der Regierende Bürgermeister Willy Brandt die West-Berliner Bevölkerung zur Besonnenheit auf. Denn vier Tage zuvor hat ein Schusswechsel zwischen Ost-Berliner Grenzpolizisten und West-Berliner Polizeibeamten, in dessen Verlauf ein jugendlicher Flüchtling angeschossen und der Grenzpolizist Peter Göring tödlich verletzt worden ist, die Gemüter erregt. Doch allen Appellen westlicher Politiker zum Trotz reißt die Kette der Gewaltakte gegen Flüchtlinge nicht ab. Auch Lutz Haberlandt wird rücksichtslos beschossen und muss seinen Fluchtversuch mit dem Leben bezahlen.
1938 in Berlin geboren, wächst Lutz Haberlandt als zweites von drei Kindern im Stadtbezirk Prenzlauer Berg auf. Nach acht Jahren Schule absolviert er eine Maurerlehre und ist seither in diesem Beruf tätig. Sein Vater arbeitet vor dem Mauerbau als Stoffpauser in einem West-Berliner Textilbetrieb, wo die Familie viele Verwandte hat. Als »Grenzgänger« verliert er mit dem Mauerbau seine Arbeit und nimmt zwangsweise eine Tätigkeit in Ost-Berlin auf – bei der Post. Nicht nur der Vater, besonders auch ihr Bruder habe sich durch den Mauerbau stark eingeschränkt gefühlt, erinnert sich seine Schwester Lieselott. Lutz Haberlandt wohnt auch mit 24 Jahren noch bei seinen Eltern in der damaligen Dimitroffstraße, die heute wieder Danziger Straße heißt. Am 27. Mai holt er gegen Mittag seine Schwester und deren Tochter Andrea von zu Hause ab; die Mutter hat wie so oft für alle gekocht, man trifft sich zum gemeinsamen sonntäglichen Familienessen. Nachdem sie selbst schon gegangen war, habe ihr Bruder Lutz die elterliche Wohnung verlassen, ohne etwas zu sagen, erfährt die Schwester später. Eine Fluchtabsicht habe ihr Bruder der Familie gegenüber nie erwähnt. [1]
Lutz Haberlandt besucht zunächst ein Lokal in seinem Viertel. Dort kommt er beim Bier mit einem Freund ins Gespräch. Von der Kriminalpolizei befragt, wird der Freund später verneinen, von dem Fluchtvorhaben gewusst zu haben, und aussagen, er selbst sei von der Kneipe angetrunken nach Hause gegangen. [2] Auch die Eltern von Lutz Haberlandt geben bei einer Vernehmung durch die Stasi an, weder etwas geahnt noch seine Fluchtmotive gekannt zu haben. [3] Lutz Haberlandt ist vermutlich nicht ganz nüchtern, als er sich auf den Weg in die Innenstadt macht und das Gelände des Charité-Krankenhauses betritt, das unmittelbar an der Sektorengrenze liegt. Dort werden gegen 16.00 Uhr zwei Angehörige der Transportpolizei auf ihn aufmerksam, die die Umgebung von der nahegelegenen Eisenbahnbrücke aus bewachen. [4] Wie sie später zu Protokoll geben, beobachten die beiden Posten, dass der junge Mann auf das Dach eines Schuppens steigt, Jacke und Schuhe auszieht und sich in die Sonne legt. Nach einer Weile sei er plötzlich vom Dach heruntergesprungen und über die Grundstücksmauer in den gesperrten Grenzstreifen geklettert. Dabei wird er auch von Grenzposten bemerkt, die etwa 100 Meter entfernt auf dem Turm des Obersten Gerichts an der Invalidenstraße postiert sind. Nach einem Warnschuss gibt der Grenzer K. von diesem Turm aus zwei gezielte Schüsse ab. Eine der Kugeln trifft Lutz Haberlandt in den Kopf. Er erleidet einen Schädeldurchschuss und bricht tödlich verletzt zusammen. Ärzte, Schwestern und Patienten der anliegenden Nervenklinik der Charité werden Zeugen, wie er ungefähr 40 Minuten lang im Gebüsch liegen gelassen wird. [5] Als endlich sein Abtransport erfolgt, ist Lutz Haberlandt vermutlich schon tot.
Um den Fluchtversuch zu verhindern, haben auch andere Grenzposten geschossen. Einzelne Kugeln schlagen auf West-Berliner Gebiet ein, von wo aus ein Polizist das Feuer erwidert. Dabei trifft ein Streifschuss einen Ost-Berliner Grenzposten an seinem Stahlhelm. Die DDR-Propaganda legt den Schusswaffeneinsatz von West-Berliner Seite als »schwere Provokation« aus und reagiert wie schon in früheren Fällen mit heftigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen.
Wenige Tage nach dem gewaltsamen Tod von Lutz Haberlandt gehen bei der West-Berliner Polizei anonym Hinweise ein, vermutlich aus seiner Westverwandtschaft, die auf die Identität des Opfers schließen lassen. [6] Danach sind bei den Eltern von Lutz Haberlandt am Tag nach seinem Tod frühmorgens gegen 4.00 Uhr Ost-Berliner Volkspolizisten und ein DDR-Staatsanwalt erschienen, die ihnen die Todesnachricht übermittelt haben. Die Frage der Mutter, ob ihr Sohn erschossen wurde, sei bejaht worden. Dann habe man die Wohnung durchsucht und die Eltern gedrängt, der Einäscherung der Leiche zuzustimmen. Die Beerdigung werde am 8. Juli auf dem Friedhof in Weißensee stattfinden. Dort findet sich der engste Familienkreis zusammen. Die Tötung des Sohnes und Bruders habe die Familie über lange Zeit nicht fassen können; es habe Monate gedauert, bis man seinen Tod realisiert habe. Ohne ihre Kenntnis seien später Grab und Grabstein ihres Bruders auf dem Friedhof in Weißensee verschwunden. [7] In den 1990er Jahren werden Ermittlungen gegen die ehemaligen Grenzpolizisten eingeleitet, die an der Erschießung von Lutz Haberlandt beteiligt waren. Wie sich zeigt, lässt sich der tödliche Schuss eindeutig dem damaligen Gefreiten K. zuordnen. Im März 1996 wird er wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. [8]
Text: Christine Brecht
1938 in Berlin geboren, wächst Lutz Haberlandt als zweites von drei Kindern im Stadtbezirk Prenzlauer Berg auf. Nach acht Jahren Schule absolviert er eine Maurerlehre und ist seither in diesem Beruf tätig. Sein Vater arbeitet vor dem Mauerbau als Stoffpauser in einem West-Berliner Textilbetrieb, wo die Familie viele Verwandte hat. Als »Grenzgänger« verliert er mit dem Mauerbau seine Arbeit und nimmt zwangsweise eine Tätigkeit in Ost-Berlin auf – bei der Post. Nicht nur der Vater, besonders auch ihr Bruder habe sich durch den Mauerbau stark eingeschränkt gefühlt, erinnert sich seine Schwester Lieselott. Lutz Haberlandt wohnt auch mit 24 Jahren noch bei seinen Eltern in der damaligen Dimitroffstraße, die heute wieder Danziger Straße heißt. Am 27. Mai holt er gegen Mittag seine Schwester und deren Tochter Andrea von zu Hause ab; die Mutter hat wie so oft für alle gekocht, man trifft sich zum gemeinsamen sonntäglichen Familienessen. Nachdem sie selbst schon gegangen war, habe ihr Bruder Lutz die elterliche Wohnung verlassen, ohne etwas zu sagen, erfährt die Schwester später. Eine Fluchtabsicht habe ihr Bruder der Familie gegenüber nie erwähnt. [1]
Lutz Haberlandt besucht zunächst ein Lokal in seinem Viertel. Dort kommt er beim Bier mit einem Freund ins Gespräch. Von der Kriminalpolizei befragt, wird der Freund später verneinen, von dem Fluchtvorhaben gewusst zu haben, und aussagen, er selbst sei von der Kneipe angetrunken nach Hause gegangen. [2] Auch die Eltern von Lutz Haberlandt geben bei einer Vernehmung durch die Stasi an, weder etwas geahnt noch seine Fluchtmotive gekannt zu haben. [3] Lutz Haberlandt ist vermutlich nicht ganz nüchtern, als er sich auf den Weg in die Innenstadt macht und das Gelände des Charité-Krankenhauses betritt, das unmittelbar an der Sektorengrenze liegt. Dort werden gegen 16.00 Uhr zwei Angehörige der Transportpolizei auf ihn aufmerksam, die die Umgebung von der nahegelegenen Eisenbahnbrücke aus bewachen. [4] Wie sie später zu Protokoll geben, beobachten die beiden Posten, dass der junge Mann auf das Dach eines Schuppens steigt, Jacke und Schuhe auszieht und sich in die Sonne legt. Nach einer Weile sei er plötzlich vom Dach heruntergesprungen und über die Grundstücksmauer in den gesperrten Grenzstreifen geklettert. Dabei wird er auch von Grenzposten bemerkt, die etwa 100 Meter entfernt auf dem Turm des Obersten Gerichts an der Invalidenstraße postiert sind. Nach einem Warnschuss gibt der Grenzer K. von diesem Turm aus zwei gezielte Schüsse ab. Eine der Kugeln trifft Lutz Haberlandt in den Kopf. Er erleidet einen Schädeldurchschuss und bricht tödlich verletzt zusammen. Ärzte, Schwestern und Patienten der anliegenden Nervenklinik der Charité werden Zeugen, wie er ungefähr 40 Minuten lang im Gebüsch liegen gelassen wird. [5] Als endlich sein Abtransport erfolgt, ist Lutz Haberlandt vermutlich schon tot.
Um den Fluchtversuch zu verhindern, haben auch andere Grenzposten geschossen. Einzelne Kugeln schlagen auf West-Berliner Gebiet ein, von wo aus ein Polizist das Feuer erwidert. Dabei trifft ein Streifschuss einen Ost-Berliner Grenzposten an seinem Stahlhelm. Die DDR-Propaganda legt den Schusswaffeneinsatz von West-Berliner Seite als »schwere Provokation« aus und reagiert wie schon in früheren Fällen mit heftigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen.
Wenige Tage nach dem gewaltsamen Tod von Lutz Haberlandt gehen bei der West-Berliner Polizei anonym Hinweise ein, vermutlich aus seiner Westverwandtschaft, die auf die Identität des Opfers schließen lassen. [6] Danach sind bei den Eltern von Lutz Haberlandt am Tag nach seinem Tod frühmorgens gegen 4.00 Uhr Ost-Berliner Volkspolizisten und ein DDR-Staatsanwalt erschienen, die ihnen die Todesnachricht übermittelt haben. Die Frage der Mutter, ob ihr Sohn erschossen wurde, sei bejaht worden. Dann habe man die Wohnung durchsucht und die Eltern gedrängt, der Einäscherung der Leiche zuzustimmen. Die Beerdigung werde am 8. Juli auf dem Friedhof in Weißensee stattfinden. Dort findet sich der engste Familienkreis zusammen. Die Tötung des Sohnes und Bruders habe die Familie über lange Zeit nicht fassen können; es habe Monate gedauert, bis man seinen Tod realisiert habe. Ohne ihre Kenntnis seien später Grab und Grabstein ihres Bruders auf dem Friedhof in Weißensee verschwunden. [7] In den 1990er Jahren werden Ermittlungen gegen die ehemaligen Grenzpolizisten eingeleitet, die an der Erschießung von Lutz Haberlandt beteiligt waren. Wie sich zeigt, lässt sich der tödliche Schuss eindeutig dem damaligen Gefreiten K. zuordnen. Im März 1996 wird er wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. [8]
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Zeitzeugeninterview von Sarah Bornhorst mit Lieselott Fuhs, einer Schwester von Lutz Haberlandt, und ihrer Tochter Andrea Knobloch, 20.11.2018, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer.
[2]
Vernehmung eines Zeugen durch die Ost-Berliner Kriminalpolizei, 28.5.1962, in: StA Berlin, Az. 27 Js 152 / 90, Bd. 1, Bl. 151– 154.
[3]
Vgl. Bericht [des MfS] / HA IX / Morduntersuchungskommission, 28.5.1962, in: BStU, MfS, AS 185 / 66, Bl. 123– 126.
[4]
Vgl. Rapport Nr. 147 des PdVP Berlin / Operativstab, 28.5.1962, in: PHS, Bestand PdVP-Rapporte, o.Pag.; Spitzenmeldung des MdI / Bepo / 1.GB (B) / III. Grenzabteilung betr. versuchter Grenzdurchbruch mit Schußwaffengebrauch, 27.5.1962, in: BArch, VA-07 / 8371, Bl. 3, sowie Einzel-Information Nr. 337 / 62 [des MfS-]ZAIG über einen verhinderten Grenzdurchbruch am Alexanderufer, in der Nähe des KPP Invalidenstraße, am 27.5.1962, 28.5.1962., in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 581, Bl. 23–25.
[5]
Vgl. Isabel Atzl / Volker Hess / Thomas Schnalke (Hg.), Zeitzeugen Charité. Arbeitswelten der Psychiatrischen und Nervenklinik 1940 – 1999, Münster 2005, S. 38.
[6]
Vgl. Zeitzeugeninterview von Sarah Bornhorst mit Lieselott Fuhs, einer Schwester von Lutz Haberlandt, und ihrer Tochter Andrea Knobloch, 20.11.2018, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer, sowie Bericht der West-Berliner Polizei, 5.6.1962, in: StA Berlin, Az. 27 Js 152 / 90, Bd. 1, Bl. 43.
[7]
Zeitzeugeninterview von Sarah Bornhorst mit Lieselott Fuhs, einer Schwester von Lutz Haberlandt, und ihrer Tochter Andrea Knobloch, 20.11.2018, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer.
[8]
Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 26.3.1996, in: Ebd., Bd. 5, Bl. 110– 126.