geboren am 28. Juni 1941
erschossen am 18. April 1962
am Gleisdreieck Griebnitzsee
am Außenring zwischen Potsdam-Babelsberg und Berlin-Zehlendorf
Jörgen Schmidtchen ist der erste Grenzpolizist, der nach dem Mauerbau ums Leben kommt, während er an der Grenze zu West-Berlin seinen Dienst versieht. In der Nacht zum 18. April 1962 wird er von dem Offiziersschüler Peter Böhme, der zusammen mit seinem Kameraden Wolfgang G. von Potsdam nach West-Berlin flüchten will, erschossen.Das militärische Grenzregime, das die DDR-Führung an der Berliner Mauer errichtet, schreckt nicht nur ab, sondern erzeugt auch Gegengewalt. So setzen in einzelnen Fällen Flüchtlinge, Fahnenflüchtige oder Fluchthelfer Waffen gegen Grenzposten ein, um sich oder anderen einen Weg nach West-Berlin zu bahnen. Auch unter den Angehörigen der bewaffneten Einheiten, die die Sperranlagen in und um Berlin bewachen, sind daher Tote und Verletzte zu beklagen. Jörgen Schmidtchen ist der erste Grenzpolizist, der nach dem Mauerbau ums Leben kommt, während er an der Grenze zu West-Berlin seinen Dienst versieht. In der Nacht zum 18. April 1962 wird er von dem Offiziersschüler Peter Böhme, der zusammen mit seinem Kameraden Wolfgang G. von Potsdam nach West-Berlin flüchten will, erschossen. [1] Die offizielle, in der DDR mit großem Propagandaaufwand verbreitete Legende besagt, Jörgen Schmidtchen sei „bei der Verhinderung eines bewaffneten Grenzdurchbruchs durch Agenten ermordet" worden. [2] Zu DDR-Zeiten gilt er daher als Märtyrer, der sein Leben im Dienst für Frieden und Vaterland geopfert habe. „Unser gefallener Genosse", heißt es bei einer militärischen Gedenkfeier, „wusste, wie verantwortungsvoll sein Dienst war, damit der Frieden erhalten bleibt. Und diese Aufgabe hat er bis zum letzten Herzschlag gewissenhaft erfüllt und damit ein Ruhmesblatt sozialistischen Heldentums geschrieben. Alle Genossen eifern dir nach. An deinem Beispiel werden viele Grenzsoldaten zu Mut, Tapferkeit und Heldentum erzogen. (…) Du lebst in unseren Taten." [3]
Der Mensch Jörgen Schmidtchen verblasst hinter solch propagandistischer Vereinnahmung. In Leipzig geboren und aufgewachsen, macht er offiziellen Darstellungen zufolge nach der Schule eine Lehre als Galvaniseur. Danach arbeitet er als Facharbeiter im VEB Industriewerk Ludwigsfelde, wo er als Jungaktivist ausgezeichnet wird. [4] Im Alter von 19 Jahren verpflichtet er sich zum Dienst bei der Deutschen Grenzpolizei. Er kommt zur so genannten Grenzbereitschaft Blankenfelde, einer Einheit der Bereitschaftspolizei, die im Süden von Berlin stationiert ist und die Umlandgrenze zwischen West-Berlin und dem DDR-Bezirk Potsdam bewacht.
In der Nacht zum 18. April 1962 ist Jörgen Schmidtchen, inzwischen zum Gefreiten befördert, mit dem Soldaten R. in Potsdam-Babelsberg am so genannten „Standort Gleisdreieck" eingesetzt. Ihr Dienst auf dem stillgelegten S-Bahngelände an der Grenze zur West-Berliner Siedlung Kohlhasenbrück beginnt um 1.00 Uhr. Zuvor wurden sie darüber informiert, dass in Potsdam und Umgebung nach zwei NVA-Angehörigen gefahndet wird, die unter Mitnahme von Schusswaffen aus einer Offiziersschule verschwunden sind. Als der Postenführer Schmidtchen und sein Posten R. gegen 2.30 Uhr Geräusche hören, scheinen sie offenbar keinen Zusammenhang mit dieser Meldung zu sehen. Da sie sich zu diesem Zeitpunkt in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen aufhalten, gehen sie, um nachzusehen, hinaus und treffen dort auf zwei Uniformierte. Schmidtchen habe geglaubt, es handle sich um eine Kontrollstreife, wird der Soldat R. später zu Protokoll geben. Arglos sei er auf die beiden Männer zugelaufen und habe sie angesprochen. Dann seien plötzlich Schüsse gefallen. [5] Sie stammen, wie sich später herausstellt, aus der Waffe des 19-jährigen Offiziersschülers Peter Böhme, der zusammen mit seinem Kameraden Wolfgang G. nach West-Berlin flüchten will. [6] Jörgen Schmidtchen bricht zusammen und ist vermutlich sofort tot. Nachdem der Soldat R. das Feuer erwidert hat, kommt es zu einem heftigen Schusswechsel, in dessen Verlauf auch Peter Böhme tödlich getroffen wird. Wolfgang G. hingegen bleibt unverletzt und kann nach West-Berlin entkommen. Er wird anderntags in der Presse mit folgenden Worten zitiert: „Es war schrecklich. Aber es gab für uns keine andere Entscheidung. Wir oder sie." [7]
Der Kommandeur der 2. Grenzbrigade, der Schmidtchen angehörte, gelangt in seinem Untersuchungsbericht zu der Schlussfolgerung, dieser habe sich zu unvorsichtig verhalten. „Trotz der gründlichen Einweisung der Grenzposten über die Lage, insbes. über die Fahndungsmaßnahme und den Waffenbesitz der Fahnenflüchtigen", so stellt er fest, „entsprachen die Handlungen des Postenführers nicht in jedem Fall der gegebenen Situation. Das beweist seine offene Annäherung an die angenommene Kontrollstreife." [8]
Nach außen lässt die militärische Führung hingegen kein kritisches Wort über Jörgen Schmidtchen verlauten. So wird er einen Tag nach seinem Tod für „vorbildliche Pflichterfüllung bei der Sicherung der Staatsgrenze" zum Unteroffizier befördert, während seine Eltern eine einmalige Unterstützung in Höhe von 500 Mark erhalten. [9] Die Beerdigung auf dem Friedhof Leipzig-Schönefeld erfolgt mit allen militärischen Ehren. In den folgenden Jahren werden Straßen und Schulen nach Jörgen Schmidtchen benannt, darunter die 33. Polytechnische Oberschule in Potsdam. In der Traditionspflege der DDR-Grenztruppen nimmt das Gedenken an den getöteten Grenzpolizisten einen hohen Stellenwert ein. So erinnern ein Traditionszimmer und ein Ehrenhain im Truppenteil „Walter Junker" Generationen von Grenzsoldaten, die zwischen Potsdam und West-Berlin die Mauer bewachen, daran, dass Jörgen Schmidtchen zu „den unvergessenen Helden der DDR-Grenztruppen" gehört. [10]
Text: Christine Brecht
In der Nacht zum 18. April 1962 ist Jörgen Schmidtchen, inzwischen zum Gefreiten befördert, mit dem Soldaten R. in Potsdam-Babelsberg am so genannten „Standort Gleisdreieck" eingesetzt. Ihr Dienst auf dem stillgelegten S-Bahngelände an der Grenze zur West-Berliner Siedlung Kohlhasenbrück beginnt um 1.00 Uhr. Zuvor wurden sie darüber informiert, dass in Potsdam und Umgebung nach zwei NVA-Angehörigen gefahndet wird, die unter Mitnahme von Schusswaffen aus einer Offiziersschule verschwunden sind. Als der Postenführer Schmidtchen und sein Posten R. gegen 2.30 Uhr Geräusche hören, scheinen sie offenbar keinen Zusammenhang mit dieser Meldung zu sehen. Da sie sich zu diesem Zeitpunkt in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen aufhalten, gehen sie, um nachzusehen, hinaus und treffen dort auf zwei Uniformierte. Schmidtchen habe geglaubt, es handle sich um eine Kontrollstreife, wird der Soldat R. später zu Protokoll geben. Arglos sei er auf die beiden Männer zugelaufen und habe sie angesprochen. Dann seien plötzlich Schüsse gefallen. [5] Sie stammen, wie sich später herausstellt, aus der Waffe des 19-jährigen Offiziersschülers Peter Böhme, der zusammen mit seinem Kameraden Wolfgang G. nach West-Berlin flüchten will. [6] Jörgen Schmidtchen bricht zusammen und ist vermutlich sofort tot. Nachdem der Soldat R. das Feuer erwidert hat, kommt es zu einem heftigen Schusswechsel, in dessen Verlauf auch Peter Böhme tödlich getroffen wird. Wolfgang G. hingegen bleibt unverletzt und kann nach West-Berlin entkommen. Er wird anderntags in der Presse mit folgenden Worten zitiert: „Es war schrecklich. Aber es gab für uns keine andere Entscheidung. Wir oder sie." [7]
Der Kommandeur der 2. Grenzbrigade, der Schmidtchen angehörte, gelangt in seinem Untersuchungsbericht zu der Schlussfolgerung, dieser habe sich zu unvorsichtig verhalten. „Trotz der gründlichen Einweisung der Grenzposten über die Lage, insbes. über die Fahndungsmaßnahme und den Waffenbesitz der Fahnenflüchtigen", so stellt er fest, „entsprachen die Handlungen des Postenführers nicht in jedem Fall der gegebenen Situation. Das beweist seine offene Annäherung an die angenommene Kontrollstreife." [8]
Nach außen lässt die militärische Führung hingegen kein kritisches Wort über Jörgen Schmidtchen verlauten. So wird er einen Tag nach seinem Tod für „vorbildliche Pflichterfüllung bei der Sicherung der Staatsgrenze" zum Unteroffizier befördert, während seine Eltern eine einmalige Unterstützung in Höhe von 500 Mark erhalten. [9] Die Beerdigung auf dem Friedhof Leipzig-Schönefeld erfolgt mit allen militärischen Ehren. In den folgenden Jahren werden Straßen und Schulen nach Jörgen Schmidtchen benannt, darunter die 33. Polytechnische Oberschule in Potsdam. In der Traditionspflege der DDR-Grenztruppen nimmt das Gedenken an den getöteten Grenzpolizisten einen hohen Stellenwert ein. So erinnern ein Traditionszimmer und ein Ehrenhain im Truppenteil „Walter Junker" Generationen von Grenzsoldaten, die zwischen Potsdam und West-Berlin die Mauer bewachen, daran, dass Jörgen Schmidtchen zu „den unvergessenen Helden der DDR-Grenztruppen" gehört. [10]
Text: Christine Brecht
[1]
Siehe die Biografie von Peter Böhme in diesem Band.
[2] Aufstellung der NVA/Stadtkommandantur Berlin/Abt. Operativ über von Westberliner Banditen ermordete bzw. verletzte Grenzsoldaten, 9.9.1966, in: BArch, VA-07/6008, Bl. 358. [3] „Er lebt in unseren Taten weiter", Volksarmee/Wochenblatt der NVA, Nr. 28, Juli 1963. [4] Vgl. „Er fiel beim Schutz des Friedens. Vor 25 Jahren wurde Jörgen Schmidtchen an der Staatsgrenze ermordet", Märkische Volksstimme, 18.4.1987. [5] Vgl. Bericht der NVA/Bepo/2.GB (B)/Der Kommandeur betr. schwerer Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schusswaffe und mit tödlichem Ausgang, 18.4.1962, in: BArch, VA-07/8370, Bl. 129-135.
[6] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht [2 Js 150/90], 18.8.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 150/90, Bd. 2, Bl. 202-207. [7] „Sterbender gab Feuerschutz", BZ, 19.4.1962. [8] Bericht der NVA/Bepo/2.GB (B)/Der Kommandeur betr. schwerer Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schusswaffe und mit tödlichem Ausgang, 18.4.1962, in: BArch, VA-07/8370, Bl. 135. [9] Befehl Nr. 43/62 des MdI/Kommando/Bepo zur Beförderung und Prämierung bei der Bereitschaftspolizei, 19.4.1962, in: StA Berlin, Az. 2 Js 150/90, Bd. 3, Bl. 111.
[10] „Plötzlich hallten Schüsse an der Grenze. 25. Jahrestag der Ermordung des Unteroffiziers Schmidtchen", Brandenburgische Neueste Nachrichten, 18./19.4.1987.
[2] Aufstellung der NVA/Stadtkommandantur Berlin/Abt. Operativ über von Westberliner Banditen ermordete bzw. verletzte Grenzsoldaten, 9.9.1966, in: BArch, VA-07/6008, Bl. 358. [3] „Er lebt in unseren Taten weiter", Volksarmee/Wochenblatt der NVA, Nr. 28, Juli 1963. [4] Vgl. „Er fiel beim Schutz des Friedens. Vor 25 Jahren wurde Jörgen Schmidtchen an der Staatsgrenze ermordet", Märkische Volksstimme, 18.4.1987. [5] Vgl. Bericht der NVA/Bepo/2.GB (B)/Der Kommandeur betr. schwerer Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schusswaffe und mit tödlichem Ausgang, 18.4.1962, in: BArch, VA-07/8370, Bl. 129-135.
[6] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht [2 Js 150/90], 18.8.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 150/90, Bd. 2, Bl. 202-207. [7] „Sterbender gab Feuerschutz", BZ, 19.4.1962. [8] Bericht der NVA/Bepo/2.GB (B)/Der Kommandeur betr. schwerer Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schusswaffe und mit tödlichem Ausgang, 18.4.1962, in: BArch, VA-07/8370, Bl. 135. [9] Befehl Nr. 43/62 des MdI/Kommando/Bepo zur Beförderung und Prämierung bei der Bereitschaftspolizei, 19.4.1962, in: StA Berlin, Az. 2 Js 150/90, Bd. 3, Bl. 111.
[10] „Plötzlich hallten Schüsse an der Grenze. 25. Jahrestag der Ermordung des Unteroffiziers Schmidtchen", Brandenburgische Neueste Nachrichten, 18./19.4.1987.