geboren am 17. August 1942
erschossen am 18. April 1962
am Gleisdreieck Griebnitzsee
am Außenring zwischen Potsdam-Babelsberg und Berlin-Zehlendorf
In dem Glauben, es handle sich um eine Kontrollstreife, sei der Postenführer Schmidtchen auf die beiden Uniformierten zugelaufen und habe sie nach der Parole gefragt, wird G. später aussagen. Dann sei es zu einem heftigen Schusswechsel gekommen, in dessen Verlauf Peter Böhme und Jörgen Schmidtchen tödlich getroffen werden, während Wolfgang G. unverletzt nach West-Berlin entkommen kann.Ende Dezember 1961 wird Peter Böhme Offiziersschüler an der Flak- und Artillerie-Schule der Nationalen Volksarmee in Geltow bei Potsdam. Doch schon bald bereut er, diese Laufbahn eingeschlagen zu haben: „Ich zeige keinerlei Interesse für den Beruf eines Offiziers und fühle mich auch nicht in der Lage, mir die dafür notwendigen Kenntnisse anzueignen. Weiterhin sehe ich für mich darin keine Perspektive. Darum bitte ich um Rückversetzung in meine alte Einheit", schreibt er nach wenigen Tagen an die Schulleitung. [1] Vom Batteriechef zur Rede gestellt, argumentiert der 19-Jährige, er wolle nicht ein so schlechter Offizier werden, wie er einige kenne, und stattdessen ein Sportlehrerstudium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig aufnehmen. Doch der Vorgesetzte beendet die „Aussprache" mit der Aufforderung, er möge sich seinen Standpunkt noch einmal überlegen. So lenkt Peter Böhme ein und erklärt sich – wenn auch nur zum Schein – bereit, die vorgesehene Ausbildung zu durchlaufen. [2]
Diese Auseinandersetzung markiert einen Wendepunkt im Leben von Peter Böhme. Zwar ist es keineswegs das erste Mal, dass der Jugendliche in Konflikten mit Eltern, Behörden oder Vorgesetzten den Kürzeren zieht. Doch diesmal fasst er den Entschluss, sich dem Druck nicht länger zu beugen und bei der nächsten Gelegenheit in den Westen zu flüchten.
Geboren und aufgewachsen im sächsischen Chemnitz, das zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt heißt, gerät Peter Böhme schon als Oberschüler mit der sozialistischen Obrigkeit in Konflikt. So droht ihm im Alter von 16 Jahren ein Schulverweis, weil er mit einem Freund in West-Berlin „Nietenhosen" gekauft hat, wie die offiziell verpönten Jeans im DDR-amtlichen Sprachgebrauch heißen. [3] Nach Abschluss der Mittleren Reife beginnt er eine Lehre als Kfz-Schlosser, muss die Ausbildung jedoch abbrechen, nachdem er im Januar 1960 über die damals noch offene Sektorengrenze nach West-Berlin geflüchtet und von seinem Vater zurückgeholt worden ist. Die DDR-Behörden verzichten offenbar darauf, den Jugendlichen wegen der versuchten „Republikflucht" zu bestrafen. Stattdessen wird von Peter Böhme verlangt, dass er sich für mehrere Jahre zur NVA verpflichtet. So tritt er im April 1960 gezwungenermaßen in die DDR-Armee ein und absolviert mehr schlecht als recht die üblichen Stationen von der Grundausbildung über den Unteroffizierslehrgang bis zur Bewerbung als Offiziersschüler.
An der Offiziersschule freundet sich Peter Böhme bald mit dem gleichaltrigen Wolfgang G. an, der zur gleichen Zeit von Cottbus nach Geltow versetzt worden ist. Auch Wolfgang G. wurde wegen geringfügiger Vergehen zum Militärdienst gedrängt und gibt offen zu, dass er keine Lust hat, Offizier zu werden. [4] Der ständigen Bevormundungen und Gängeleien überdrüssig, sind sich die beiden Jugendlichen offenbar rasch einig, dass Fahnenflucht der einzige Ausweg ist, um dieser Situation zu entkommen. [5] Anfang April 1962 beginnen sie, entsprechende Vorbereitungen zu treffen. „Wir konnten diesem verhassten Regime nicht länger dienen", wird G. später zitiert. [6] In der Nacht vom 16. auf den 17. April 1962 entwenden die beiden Offiziersschüler aus dem Waffenschrank der Flakartillerie-Schule zwei Pistolen und Munition, um sich im Notfall zu verteidigen, wie Wolfgang G. im Nachhinein bei der West-Berliner Polizei angibt. [7] Als wider Erwarten nach kurzer Zeit das Fehlen der Waffen bemerkt wird, müssen sie aus der Kaserne verschwinden. Sie laufen zu Fuß nach Potsdam, wo sie sich den ganzen Tag über versteckt halten, während überall nach ihnen gefahndet wird. Am Abend fahren sie mit einem Taxi nach Potsdam-Babelsberg und nähern sich vorsichtig der Grenze zur West-Berliner Siedlung Kohlhasenbrück. Vom Bahnhof Griebnitzsee kommend laufen sie die unterbrochene S-Bahntrasse entlang, die einst nach Berlin-Wannsee führte. Dort sind in dieser Nacht die beiden Grenzpolizisten Jörgen Schmidtchen und Klaus R. als Doppelposten im Einsatz. Sie halten sich Militärakten zufolge in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen auf, als sie gegen 2.30 Uhr Geräusche hören und nach draußen gehen, um nachzusehen. [8] In dem Glauben, es handle sich um eine Kontrollstreife, sei der Postenführer Schmidtchen auf die beiden Uniformierten zugelaufen und habe sie nach der Parole gefragt, wird G. später aussagen. Dann sei es zu einem heftigen Schusswechsel gekommen, in dessen Verlauf Peter Böhme und Jörgen Schmidtchen tödlich getroffen werden, während Wolfgang G. unverletzt nach West-Berlin entkommen kann.
Dass die Fahnenflucht der beiden NVA-Soldaten zwei Menschen das Leben kostet, ist vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts von großer politischer Brisanz. Die West-Berliner Presse solidarisiert sich mit den Flüchtlingen: „Ein Flüchtling, der von Ulbrichts Schergen beschossen wird, handelt in Notwehr", schreibt die Bild-Zeitung. „Die Erschießung eines Flüchtlings aber geschieht vorsätzlich, ist Mord!" [9] In der DDR werden Peter Böhme und Wolfgang G. hingegen als „gemeine Verbrecher" diffamiert, die sich durch ihre Fahnenflucht „als Feinde der Deutschen Demokratischen Republik" entlarvt hätten. [10] Ohne ausreichende Beweise legen die DDR-Behörden Wolfgang G. den Tod von Jörgen Schmidtchen zur Last und verlangen seine Auslieferung. Nachdem die bundesdeutschen Behörden dies verweigern, wird G. im Westen jahrzehntelang vom MfS bespitzelt, wie ein umfangreicher Aktenvorgang bezeugt. Das Schicksal von Peter Böhme gerät unterdessen in Ost und West in Vergessenheit. Dass sein Tod in den 1990er Jahren Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens ist, bleibt, da es nicht zum Prozess kommt, weitgehend unbekannt. Wie die im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von Gewaltakten an der Mauer angestellten Nachforschungen ergeben, war es tatsächlich Peter Böhme, der seinerzeit Jörgen Schmidtchen erschoss, bevor er selbst von dessen Posten R. tödlich getroffen wurde. Das Verfahren gegen R. wird im August 1992 eingestellt. Ihm wird zugebilligt, in Notwehr gehandelt zu haben, als er Schüsse auf den fahnenflüchtigen Offiziersschüler abgab. Peter Böhme hingegen, so lautet die staatsanwaltschaftliche Schlussfolgerung, habe sich des Totschlags an Jörgen Schmidtchen schuldig gemacht, da er seinerzeit, ohne unmittelbar bedroht zu sein, das Feuer eröffnete. [11]
Text: Christine Brecht
Diese Auseinandersetzung markiert einen Wendepunkt im Leben von Peter Böhme. Zwar ist es keineswegs das erste Mal, dass der Jugendliche in Konflikten mit Eltern, Behörden oder Vorgesetzten den Kürzeren zieht. Doch diesmal fasst er den Entschluss, sich dem Druck nicht länger zu beugen und bei der nächsten Gelegenheit in den Westen zu flüchten.
Geboren und aufgewachsen im sächsischen Chemnitz, das zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt heißt, gerät Peter Böhme schon als Oberschüler mit der sozialistischen Obrigkeit in Konflikt. So droht ihm im Alter von 16 Jahren ein Schulverweis, weil er mit einem Freund in West-Berlin „Nietenhosen" gekauft hat, wie die offiziell verpönten Jeans im DDR-amtlichen Sprachgebrauch heißen. [3] Nach Abschluss der Mittleren Reife beginnt er eine Lehre als Kfz-Schlosser, muss die Ausbildung jedoch abbrechen, nachdem er im Januar 1960 über die damals noch offene Sektorengrenze nach West-Berlin geflüchtet und von seinem Vater zurückgeholt worden ist. Die DDR-Behörden verzichten offenbar darauf, den Jugendlichen wegen der versuchten „Republikflucht" zu bestrafen. Stattdessen wird von Peter Böhme verlangt, dass er sich für mehrere Jahre zur NVA verpflichtet. So tritt er im April 1960 gezwungenermaßen in die DDR-Armee ein und absolviert mehr schlecht als recht die üblichen Stationen von der Grundausbildung über den Unteroffizierslehrgang bis zur Bewerbung als Offiziersschüler.
An der Offiziersschule freundet sich Peter Böhme bald mit dem gleichaltrigen Wolfgang G. an, der zur gleichen Zeit von Cottbus nach Geltow versetzt worden ist. Auch Wolfgang G. wurde wegen geringfügiger Vergehen zum Militärdienst gedrängt und gibt offen zu, dass er keine Lust hat, Offizier zu werden. [4] Der ständigen Bevormundungen und Gängeleien überdrüssig, sind sich die beiden Jugendlichen offenbar rasch einig, dass Fahnenflucht der einzige Ausweg ist, um dieser Situation zu entkommen. [5] Anfang April 1962 beginnen sie, entsprechende Vorbereitungen zu treffen. „Wir konnten diesem verhassten Regime nicht länger dienen", wird G. später zitiert. [6] In der Nacht vom 16. auf den 17. April 1962 entwenden die beiden Offiziersschüler aus dem Waffenschrank der Flakartillerie-Schule zwei Pistolen und Munition, um sich im Notfall zu verteidigen, wie Wolfgang G. im Nachhinein bei der West-Berliner Polizei angibt. [7] Als wider Erwarten nach kurzer Zeit das Fehlen der Waffen bemerkt wird, müssen sie aus der Kaserne verschwinden. Sie laufen zu Fuß nach Potsdam, wo sie sich den ganzen Tag über versteckt halten, während überall nach ihnen gefahndet wird. Am Abend fahren sie mit einem Taxi nach Potsdam-Babelsberg und nähern sich vorsichtig der Grenze zur West-Berliner Siedlung Kohlhasenbrück. Vom Bahnhof Griebnitzsee kommend laufen sie die unterbrochene S-Bahntrasse entlang, die einst nach Berlin-Wannsee führte. Dort sind in dieser Nacht die beiden Grenzpolizisten Jörgen Schmidtchen und Klaus R. als Doppelposten im Einsatz. Sie halten sich Militärakten zufolge in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen auf, als sie gegen 2.30 Uhr Geräusche hören und nach draußen gehen, um nachzusehen. [8] In dem Glauben, es handle sich um eine Kontrollstreife, sei der Postenführer Schmidtchen auf die beiden Uniformierten zugelaufen und habe sie nach der Parole gefragt, wird G. später aussagen. Dann sei es zu einem heftigen Schusswechsel gekommen, in dessen Verlauf Peter Böhme und Jörgen Schmidtchen tödlich getroffen werden, während Wolfgang G. unverletzt nach West-Berlin entkommen kann.
Dass die Fahnenflucht der beiden NVA-Soldaten zwei Menschen das Leben kostet, ist vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts von großer politischer Brisanz. Die West-Berliner Presse solidarisiert sich mit den Flüchtlingen: „Ein Flüchtling, der von Ulbrichts Schergen beschossen wird, handelt in Notwehr", schreibt die Bild-Zeitung. „Die Erschießung eines Flüchtlings aber geschieht vorsätzlich, ist Mord!" [9] In der DDR werden Peter Böhme und Wolfgang G. hingegen als „gemeine Verbrecher" diffamiert, die sich durch ihre Fahnenflucht „als Feinde der Deutschen Demokratischen Republik" entlarvt hätten. [10] Ohne ausreichende Beweise legen die DDR-Behörden Wolfgang G. den Tod von Jörgen Schmidtchen zur Last und verlangen seine Auslieferung. Nachdem die bundesdeutschen Behörden dies verweigern, wird G. im Westen jahrzehntelang vom MfS bespitzelt, wie ein umfangreicher Aktenvorgang bezeugt. Das Schicksal von Peter Böhme gerät unterdessen in Ost und West in Vergessenheit. Dass sein Tod in den 1990er Jahren Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens ist, bleibt, da es nicht zum Prozess kommt, weitgehend unbekannt. Wie die im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von Gewaltakten an der Mauer angestellten Nachforschungen ergeben, war es tatsächlich Peter Böhme, der seinerzeit Jörgen Schmidtchen erschoss, bevor er selbst von dessen Posten R. tödlich getroffen wurde. Das Verfahren gegen R. wird im August 1992 eingestellt. Ihm wird zugebilligt, in Notwehr gehandelt zu haben, als er Schüsse auf den fahnenflüchtigen Offiziersschüler abgab. Peter Böhme hingegen, so lautet die staatsanwaltschaftliche Schlussfolgerung, habe sich des Totschlags an Jörgen Schmidtchen schuldig gemacht, da er seinerzeit, ohne unmittelbar bedroht zu sein, das Feuer eröffnete. [11]
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Abschrift des Schreibens von Peter Böhme an den Gen. Oberleutnant M. zur Weiterleitung, 5.1.1962, in: BArch, VA-01/13496, Bd. 1, Bl. 350.
[2]
Vgl. Abschrift des Unterhaltungsblatts [Protokoll] für den Offiziersschüler Peter Böhme über ein Gespräch über die Zurückziehung einer Bewerbung zur Offiziersschule, o.D. [18.1.1962], in: Ebd., Bl. 351.
[3]
Vgl. Einschätzungs-Bericht [des MfS]/HA I/LSK-LV/U.-Abt. Stab/Potsdam über den Deserteur Peter Böhme , 22.4.1962, in: BStU, MfS, Rechtsstelle Nr. 0118, Bl. 68-72; Ermittlungsbericht [des MfS]/HA I/LSK-LV/U.-Abt. Stab/Potsdam über Peter Böhme, 22.4.1962, in: Ebd., Bl. 73-77.
[4]
Vgl. Einschätzungs-Bericht [des MfS]/HA I/LSK-LV/U.-Abt. Stab/Potsdam über den Deserteur Wolfgang G., 22.4.1962, in: Ebd., Bl. 78-81.
[5]
Zu Fahnenfluchten als Form von Resistenz und Verweigerung vgl. Rüdiger Wenzke (Hg.), Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA, Berlin 2005.
[6]
"Sterbender gibt Feuerschutz", BZ, 19.4.1962.
[7]
Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung des Mitflüchtlings von Peter Böhme durch die West-Berliner Polizei, 19.4.1962, in: StA Berlin, Az. 27 Js/56 Js 277/03, Bd. 1, Bl. 34-35.
[8]
Vgl. Bericht der Bepo/2.GB/B/Der Kommandeur betr. Schwerer Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schußwaffe und mit tödlichem Ausgang am 18.4.1962, 17.4.1962 [falsche Datierung], in: BArch, VA-07/18345, Bl. 257-263.
[9]
„Berlins Kripo sucht Mörder des Flüchtlings", Bild-Zeitung, 21.4.1962.
[10]
Bericht der NVA/Flak-Artillerie-Schule/Untersuchungskommission zum besonderen Vorkommnis an der Flakartillerieschule, 18.4.1962, in: BArch, VA-01/13496, Bd. 1, Bl. 314-334, Zitat Bl. 320.
[11]
Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht [2 Js 150/90], 18.8.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 150/90, Bd. 2, Bl. 202-207.