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Todesopfer

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Norbert Wolscht: geboren am 27. Oktober 1943, ertrunken am 28. Juli 1964 bei einem Fluchtversuch im Berliner Grenzgewässer (Aufnahmedatum unbekannt)
Norbert Wolscht: Erinnerungsstele an der Lankestraße am Fuß der Brücke nach Klein Glienicke über den Teltowkanal

Norbert Wolscht

geboren am 27. Oktober 1943
ertrunken am 28. Juli 1964


in der Havel
am Außenring zwischen Potsdam-Babelsberg und Berlin-Zehlendorf
Norbert Wolscht und Rainer Gneiser haben ihre Flucht aus der DDR monatelang geplant und vorbereitet. Im Juli 1964 brechen die beiden 20-Jährigen von Freiberg in Sachsen nach Potsdam auf. Mit Sauerstoffgeräten, Schwimmflossen und Taucheranzügen ausgerüstet, wollen sie in der Nacht zum 28. Juli durch die Havel nach West-Berlin gelangen.Norbert Wolscht wird am nächsten Vormittag von Angehörigen des Grenzregiments 48 tot aus dem Fluss gezogen. Ort und Uhrzeit der Bergung halten Tagesmeldungen der DDR-Grenztruppen fest. [1]

Eine Woche später wird auch die Leiche von Rainer Gneiser am Babelsberger Ufer der Havel gefunden. [2] Im Westen bleibt das Schicksal von Norbert Wolscht und Rainer Gneiser seinerzeit unbekannt. Doch nach dem Ende der DDR machen Freunde und Angehörige darauf aufmerksam. Um die Todesumstände aufzuklären, werden zu Beginn der 1990er Jahre strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Sie bestätigen den Verdacht, dass die beiden Freunde bei ihrem Fluchtversuch Opfer eines tragischen Unglücksfalles wurden. [3]

Norbert Wolscht ist wie Rainer Gneiser in Freiberg aufgewachsen, die beiden kennen sich seit der Schulzeit. Geboren wird Norbert Wolscht im Oktober 1943 im schlesischen Greiffenberg als zweites Kind von Benno Wolscht und seiner Ehefrau Charlotte. Seine Schwester Barbara ist ein Jahr älter als er. 1947, während der Vater noch in Kriegsgefangenschaft ist, muss die Mutter mit den Kindern und der Großmutter Greiffenberg, das nun zu Polen gehört, verlassen. Auch wenn sie damals noch klein waren, sind Krieg und Vertreibung prägende Kindheitserlebnisse, sagt die Schwester von Norbert Wolscht im Rückblick. [4] Ihre Mutter habe nach der endgültigen Vertreibung aus Schlesien in die britische Besatzungszone gehen wollen, da ihre Brüder in Düsseldorf lebten. Aber das Flüchtlingslager in der Nähe von Görlitz, in dem sie zunächst unterkommen, ist so überfüllt, dass sie sich darum bemüht, eine Zuzugsgenehmigung zu Verwandten im nahe gelegenen Freiberg zu bekommen. So wird die Familie in Sachsen ansässig.

Die Schule schließt Norbert Wolscht mit der Mittleren Reife ab und absolviert danach eine Lehre als Dreher in einem Freiberger Betrieb für Präzisionsmechanik. Auch wenn er während seiner Schul- und Lehrzeit nirgendwo aneckt, sei es ihm schwer gefallen, so glaubt seine Schwester, sich den in der DDR herrschenden ideologischen Vorgaben unterzuordnen oder anzupassen. Er habe immer vorgehabt, später nach Südafrika auszuwandern - wie ein Freund, mit dem er noch lange im Briefkontakt steht. Zuvor aber will er, dem Rat des Freundes folgend, seine Lehre abschließen und Englisch lernen. Der Mauerbau zerstört die Zukunftspläne des noch nicht 18-Jährigen. Doch seinen Traum von einem Leben am anderen Ende der Welt gibt er wohl nie ganz auf. Im Sommer 1963 soll er sich dann mit Rainer Gneiser zusammen getan haben, der nach einem ersten gescheiterten Fluchtversuch offenbar fest entschlossen ist, der DDR im zweiten Anlauf endgültig den Rücken zu kehren. Sie beginnen, Langstreckenschwimmen zu trainieren und informieren sich, wie man eine Taucherausrüstung konstruiert. [5] Norbert Wolscht ist sehr sportlich und ein guter Schwimmer.

Im folgenden Sommer machen sie sich daran, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, ohne Freunde oder Verwandte in die Einzelheiten einzuweihen. Unter dem Vorwand, zum Zelten zu fahren, brechen sie am 25. Juli mit dem Motorrad in Freiberg auf. Vermutlich begeben sie sich auf direktem Weg nach Potsdam und erkunden in den folgenden beiden Tagen die örtlichen Gegebenheiten. Um welche Zeit und an welcher Stelle des Ufers sie in der Nacht zum 28. Juli ins Wasser der Havel steigen, ist nicht bekannt. Der Fundort der Leichen deutet allerdings darauf hin, dass ihr Fluchtversuch am so genannten Tiefen See, dem Havelabschnitt zwischen Potsdam und Babelsberg, seinen Ausgang nimmt. Vermutlich wollten sie sich unter Wasser in Richtung Norden bewegen und die so genannte „Babelsberger Enge" passieren, um auf diesem Weg bis ans West-Berliner Havelufer zu gelangen. Dabei ertrinken sie unter ungeklärten Umständen. Bei Norbert Wolscht tritt der Tod laut Sektionsbefund am 28. Juli gegen 2.00 Uhr morgens ein. Er sei, so heißt es weiter, durch Versagen des Atemgeräts gestorben. [6] Das letzte Lebenszeichen, das er hinterlässt, ist ein Frachtbrief, der an seine Eltern adressiert ist, und dokumentiert, dass er am 27. Juli seine Campingausrüstung von Potsdam nach Freiberg schickt. [7] „Da es sich um einen Unglücksfall handelt, wird das Ministerium für Staatssicherheit in diesem Fall nicht eingeschaltet. Die Bearbeitung des „Vorkommnisses" übernimmt das Volkspolizeikreisamt Potsdam. Die Eltern von Norbert Wolscht werden noch am gleichen Abend informiert und fahren am nächsten Morgen nach Potsdam. [8]

Norbert Wolscht, ertrunken im Berliner Grenzgewässer: Todesanzeige (Juli 1964)
Dort werden ihnen zum Beweis, dass der Tote ihr Sohn ist, sein Personalausweis und sein Brustbeutel vorgelegt. Anschließend dürfen die Eltern, wie es ihr Wunsch ist, die Leiche ihres Sohnes sehen. Um genaueren Aufschluss über die Todesumstände zu bekommen, wendet sich der Vater von Norbert Wolscht an den zuständigen Arzt, der ausdrücklich versichert, keine äußeren Verletzungszeichen gefunden zu haben. Vielmehr sei anzunehmen, so lautet die Auskunft des Arztes, „dass der Tod infolge Kohlendioxydvergiftung eingetreten war. Anscheinend hatte bei dem selbstgebauten Tauchgerät die Absorption des Dioxyds durch Atemkalk nicht einwandfrei funktioniert." [9]

Am 1. August 1964 wird Norbert Wolscht auf dem Donatsfriedhof in Freiberg beerdigt. Er sei durch einen tragischen Unfall verstorben, geben seine Eltern in der Todesanzeige bekannt. Doch gegenüber Verwandten und Freunden verschweigen sie nicht, dass ihr Sohn bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen ist. [10]

Text: Christine Brecht

[1] Vgl. Operative Tagesmeldung Nr. 210/64 der NVA/Stadtkommandantur Berlin/Operative Abt., 29.7.1964, in: BArch, VA-07/6028, Bl. 104; Tagesmeldung Nr. 24/VII/64 des MNfV/Operativer Diensthabender, 29.7.1964, in: BArch, VA-01/5088, Bl. 32; Handschriftliche Lagemeldungen [der NVA/Stadtkommandantur Berlin], 28.7.1964 und 29.7.1964, in: BArch, VA-07/18612, Bl. 35-36, 41-42. [2] Vgl. Operative Tagesmeldung Nr. 216/64 der NVA/Stadtkommandantur Berlin/Operative Abt., 6.8.1964, in: BArch, VA-07/6028, Bl. 135, sowie der biographische Text über Rainer Gneiser in diesem Band. [3] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Kammergericht Berlin (27/2 Js 72/91), 7.10.1993, in: StA Berlin, Az. 27 Js 72/91, Bl. 131-132. [4] Gespräch von Christine Brecht mit Barbara B., der Schwester von Norbert Wolscht, 2.10.2007. [5] Vgl. Handschriftliche Erklärung eines Freundes von Rainer Gneiser gegenüber der Berliner Polizei, 12.7.1993, in: StA Berlin, Az. 27 Js 72/91, Bl. 100-101. [6] Vgl. Abschrift des Sektionsbefunds zum Sterbefall Norbert Wolscht des Städtischen Krankenhauses Potsdam-Babelsberg, o.D. [28.7.1964], Privatbesitz. [7] Vgl. Handschriftliche Lagemeldungen [der NVA/Stadtkommandantur Berlin], 28.7.1964, in: BArch, VA-07/18612, Bl. 35-36. [8] Schreiben der Mutter von Norbert Wolscht an die ZERV, 29.7.1993, in: StA Berlin, Az. 27 Js 72/91, Bl. 117. [9] Schreiben des Städtischen Krankenhauses Potsdam-Babelsberg an den Vater von Norbert Wolscht, 25.8.1964, Privatbesitz. [10] Vgl. Handschriftliche Erklärung eines Freundes von Norbert Wolscht an die ZERV, 19.8.1993, in: StA Berlin, Az. 27 Js 72/91, Bl. 110-111.
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