geboren am 12. Juni 1927
erschossen am 18. August 1964
an der stillgelegten S-Bahnstrecke Schönhauser Allee - Gesundbrunnen
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Prenzlauer Berg und Berlin-Wedding
Gegen 18.50 Uhr entdecken Grenzsoldaten im Postenbereich "Holzbrücke" eine Frau, die sich in dem unübersichtlichen Gelände hinter einem Holunderstrauch versteckt. Als einer der Posten sie auffordert, aus ihrem Versteck herauszukommen, springt die Frau auf und rennt weg. Dabei läuft sie aber nicht auf die Grenzanlagen zu, die sie noch von West-Berlin trennen, sondern bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung. Dennoch entsichert der Grenzer seine Maschinenpistole und streckt die Frau nach Abgabe eines Warnschusses mit einem gezielten Schuss in den Rücken nieder.Seit dem Mauerbau ist die S-Bahn-Strecke zwischen den Bahnhöfen Schönhauser Allee und Gesundbrunnen stillgelegt. Das Schienengelände im Ost-Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, das parallel zur Kopenhagener Straße Richtung West-Berlin führt, gehört zum Sperrgebiet. In diesem »toten Schlauch«, wie die verwaisten Gleisanlagen im Grenztruppen-Jargon heißen, wird am 18. August 1964 ein Fluchtversuch verhindert. Gegen 18.50 Uhr entdecken Grenzsoldaten im Postenbereich »Holzbrücke« eine Frau, die sich in dem unübersichtlichen Gelände hinter einem Holunderstrauch versteckt. Als einer der Posten sie auffordert, aus ihrem Versteck herauszukommen, springt die Frau auf und rennt weg. Dabei läuft sie aber nicht auf die Grenzanlagen zu, die sie noch von West-Berlin trennen, sondern bewegt sich, wie eine von den DDR-Grenztruppen gefertigte Skizze belegt, in die entgegengesetzte Richtung. [1] Dennoch entsichert einer der Grenzer seine Maschinenpistole und streckt die Frau nach Abgabe eines Warnschusses mit einem gezielten Schuss in den Rücken nieder. Eine Stunde später verstirbt sie im Krankenhaus der Volkspolizei. Der stellvertretende Kommandeur des Grenzregiments bescheinigt dem Schützen eine »vorbildliche Handlungsweise«. [2] Er wird für seinen Volltreffer zum Gefreiten befördert und zusammen mit seinem Postenführer mit der »Medaille für vorbildlichen Grenzdienst« ausgezeichnet. [3]
Die Tote ist Hildegard Trabant. Als Hildegard Pohl wird sie am 12. Juni 1927 in Berlin geboren. Soweit ihr Werdegang dokumentiert ist, tritt sie 1949, im Gründungsjahr der DDR, der SED bei und ist als aktives Parteimitglied geschätzt. Seit 1954 verheiratet, wohnt sie mit ihrem Ehemann im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain. Sie arbeitet in leitender Funktion bei der Kommunalen Wohnungsverwaltung, ihr Mann ist als Angehöriger der Volkspolizei beim Pass- und Meldewesen tätig. [4] Die Gründe, die die 37-Jährige im August 1964 zur Flucht bewegen, liegen vermutlich im familiären Bereich. Mit dem Ehemann, so entnahm es die Stasi aus seiner Kaderakte bei der Volkspolizei, hatte im Februar 1964 eine »Aussprache« geführt werden müssen, »da er seine Frau auf Grund von Meinungsverschiedenheiten derartig geschlagen hatte, daß sie ein blaues Auge und blaue Stellen am Körper davontrug.« [5] Ein Grund der Auseinandersetzungen sei gewesen, daß der Ehemann nicht habe einsehen wollen, »daß seine Ehefrau wegen gesellschaftlicher Tätigkeit dreimal wöchentlich später nach Hause kommt.« Im Februar 1964 wird der Angehörige der Volkspolizei deshalb von seinen Vorgesetzten zur Rede gestellt. [6] Danach soll es »angeblich«, wie die Stasi vermerkt, zu keinen weiteren Akten häuslicher Gewalt gekommen sein. [7]
Am 19. August 1964, einen Tag nach dem Tod von Hildegard Trabant, teilt ein Stasi-Mitarbeiter ihrem Ehemann mit, dass seine Frau bei einem »versuchten Grenzdurchbruch« erschossen worden sei. [8] Die Benachrichtigung des Ehemanns findet im Beisein leitender Beamter seiner Dienststelle der Volkspolizei statt. Angaben dazu, warum seine Frau einen Fluchtversuch unternommen hat, kann oder will er im Verlauf des Gesprächs offenbar nicht machen. Schließlich muss er sich schriftlich verpflichten, über die Tatsache, dass Hildegard Trabant an der Mauer erschossen worden ist, Stillschweigen zu bewahren. »Ich bin belehrt worden«, so lautet die von ihm geforderte Erklärung, »daß ich nur gegenüber meinen Dienstvorgesetzten die Todesursache sagen darf. Gegenüber sonstigen Personen werde ich nur das tödliche Verunglücken zum Ausdruck bringen.« [9]
Die Vorgehensweise des MfS zielt darauf ab, den Kreis der Mitwisser klein und entscheidende Details wie Ort und Zeitpunkt des Geschehens geheim zu halten, damit keine Informationen in den Westen gelangen. »Bei sämtlichen Dienststellen, die mit dieser Sache zu tun hatten«, notiert der zuständige Stasi-Oberleutnant, »wurden die üblichen Sicherheitsmaßnahmen eingehalten, so daß keine näheren Angaben über den Ort des Vorkommnisses bekannt geworden sind«. [10] Dazu gehört auch, dass das MfS die Einäscherung und die Urnenbeisetzung des Todesopfers arrangiert, die am 23. September auf dem Friedhof Frieden-Himmelfahrt in Berlin-Niederschönhausen stattfindet. Allerdings gelingt es den DDR-Behörden nicht, unerwünschte Reaktionen vollständig zu unterdrücken. So löst die Nachricht über Einzelheiten vom Tod der Parteigenossin auf einer von der SED-Kreisleitung Friedrichshain anberaumten Mitgliederversammlung der Kommunalen Wohnungsverwaltung Friedrichshain eine Diskussion aus, die das MfS veranlasst, sich auf höherer Ebene mit der SED-Bezirksleitung abzustimmen, »um derartiges künftig zu vermeiden«. [11] Eine weitere Störung besteht offenbar darin, dass der Witwer die Ost-Berliner Generalstaatsanwaltschaft aufsucht, um eine Sterbeurkunde zur Vorlage bei der Versicherung zu beantragen. Als ihm eine Staatsanwältin erklärt, dass er keinen Anspruch auf Sterbegeld erheben könne, begründet er sein Anliegen mit dem Hinweis, dass inzwischen allgemein bekannt sei, auf welche Art und Weise seine Frau ums Leben gekommen sei. Ihr Betrieb habe die Information darüber am Tag nach ihrem Tod von der SED-Kreisleitung erhalten, woraufhin »entsprechende Gerüchte« auch in der Wohngegend in Umlauf gekommen seien. [12]
In West-Berlin bleibt der gewaltsame Tod von Hildegard Trabant hingegen gänzlich unbemerkt. Strafrechtliche Ermittlungen, die zur Aufklärung des Geschehens führen, kommen erst in Gang, als der Ost-Berliner Aktenvorgang aus dem Jahr 1964 im Oktober 1990 an die bundesdeutschen Justizbehörden übergeben wird. [13] Das Verfahren gegen den Todesschützen zieht sich in diesem Fall ungewöhnlich lange hin, weil der Beschuldigte trotz erdrückender Beweislage standhaft leugnet, der Täter zu sein. 1997 wird mit Rücksicht darauf, dass er zur Tatzeit erst 20 Jahre alt war, vor der Jugendkammer des Landgerichts Berlin Anklage erhoben. [14] In der Hauptverhandlung legt der ehemalige Grenzer schließlich ein Geständnis ab. Am 10. Juni 1998 wird er schuldig gesprochen und wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung das Gericht zur Bewährung aussetzt. [15] Das Gericht sieht es auf der Grundlage der überlieferten Dokumente als erwiesen an, dass Hildegard Trabant im Moment der Schussabgabe, »nicht mehr versuchte, über die Grenze zu fliehen, sondern sich durch Weglaufen in das Hinterland lediglich der Festnahme entziehen wollte«. [16]
Text: Christine Brecht
Die Tote ist Hildegard Trabant. Als Hildegard Pohl wird sie am 12. Juni 1927 in Berlin geboren. Soweit ihr Werdegang dokumentiert ist, tritt sie 1949, im Gründungsjahr der DDR, der SED bei und ist als aktives Parteimitglied geschätzt. Seit 1954 verheiratet, wohnt sie mit ihrem Ehemann im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain. Sie arbeitet in leitender Funktion bei der Kommunalen Wohnungsverwaltung, ihr Mann ist als Angehöriger der Volkspolizei beim Pass- und Meldewesen tätig. [4] Die Gründe, die die 37-Jährige im August 1964 zur Flucht bewegen, liegen vermutlich im familiären Bereich. Mit dem Ehemann, so entnahm es die Stasi aus seiner Kaderakte bei der Volkspolizei, hatte im Februar 1964 eine »Aussprache« geführt werden müssen, »da er seine Frau auf Grund von Meinungsverschiedenheiten derartig geschlagen hatte, daß sie ein blaues Auge und blaue Stellen am Körper davontrug.« [5] Ein Grund der Auseinandersetzungen sei gewesen, daß der Ehemann nicht habe einsehen wollen, »daß seine Ehefrau wegen gesellschaftlicher Tätigkeit dreimal wöchentlich später nach Hause kommt.« Im Februar 1964 wird der Angehörige der Volkspolizei deshalb von seinen Vorgesetzten zur Rede gestellt. [6] Danach soll es »angeblich«, wie die Stasi vermerkt, zu keinen weiteren Akten häuslicher Gewalt gekommen sein. [7]
Am 19. August 1964, einen Tag nach dem Tod von Hildegard Trabant, teilt ein Stasi-Mitarbeiter ihrem Ehemann mit, dass seine Frau bei einem »versuchten Grenzdurchbruch« erschossen worden sei. [8] Die Benachrichtigung des Ehemanns findet im Beisein leitender Beamter seiner Dienststelle der Volkspolizei statt. Angaben dazu, warum seine Frau einen Fluchtversuch unternommen hat, kann oder will er im Verlauf des Gesprächs offenbar nicht machen. Schließlich muss er sich schriftlich verpflichten, über die Tatsache, dass Hildegard Trabant an der Mauer erschossen worden ist, Stillschweigen zu bewahren. »Ich bin belehrt worden«, so lautet die von ihm geforderte Erklärung, »daß ich nur gegenüber meinen Dienstvorgesetzten die Todesursache sagen darf. Gegenüber sonstigen Personen werde ich nur das tödliche Verunglücken zum Ausdruck bringen.« [9]
Die Vorgehensweise des MfS zielt darauf ab, den Kreis der Mitwisser klein und entscheidende Details wie Ort und Zeitpunkt des Geschehens geheim zu halten, damit keine Informationen in den Westen gelangen. »Bei sämtlichen Dienststellen, die mit dieser Sache zu tun hatten«, notiert der zuständige Stasi-Oberleutnant, »wurden die üblichen Sicherheitsmaßnahmen eingehalten, so daß keine näheren Angaben über den Ort des Vorkommnisses bekannt geworden sind«. [10] Dazu gehört auch, dass das MfS die Einäscherung und die Urnenbeisetzung des Todesopfers arrangiert, die am 23. September auf dem Friedhof Frieden-Himmelfahrt in Berlin-Niederschönhausen stattfindet. Allerdings gelingt es den DDR-Behörden nicht, unerwünschte Reaktionen vollständig zu unterdrücken. So löst die Nachricht über Einzelheiten vom Tod der Parteigenossin auf einer von der SED-Kreisleitung Friedrichshain anberaumten Mitgliederversammlung der Kommunalen Wohnungsverwaltung Friedrichshain eine Diskussion aus, die das MfS veranlasst, sich auf höherer Ebene mit der SED-Bezirksleitung abzustimmen, »um derartiges künftig zu vermeiden«. [11] Eine weitere Störung besteht offenbar darin, dass der Witwer die Ost-Berliner Generalstaatsanwaltschaft aufsucht, um eine Sterbeurkunde zur Vorlage bei der Versicherung zu beantragen. Als ihm eine Staatsanwältin erklärt, dass er keinen Anspruch auf Sterbegeld erheben könne, begründet er sein Anliegen mit dem Hinweis, dass inzwischen allgemein bekannt sei, auf welche Art und Weise seine Frau ums Leben gekommen sei. Ihr Betrieb habe die Information darüber am Tag nach ihrem Tod von der SED-Kreisleitung erhalten, woraufhin »entsprechende Gerüchte« auch in der Wohngegend in Umlauf gekommen seien. [12]
In West-Berlin bleibt der gewaltsame Tod von Hildegard Trabant hingegen gänzlich unbemerkt. Strafrechtliche Ermittlungen, die zur Aufklärung des Geschehens führen, kommen erst in Gang, als der Ost-Berliner Aktenvorgang aus dem Jahr 1964 im Oktober 1990 an die bundesdeutschen Justizbehörden übergeben wird. [13] Das Verfahren gegen den Todesschützen zieht sich in diesem Fall ungewöhnlich lange hin, weil der Beschuldigte trotz erdrückender Beweislage standhaft leugnet, der Täter zu sein. 1997 wird mit Rücksicht darauf, dass er zur Tatzeit erst 20 Jahre alt war, vor der Jugendkammer des Landgerichts Berlin Anklage erhoben. [14] In der Hauptverhandlung legt der ehemalige Grenzer schließlich ein Geständnis ab. Am 10. Juni 1998 wird er schuldig gesprochen und wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung das Gericht zur Bewährung aussetzt. [15] Das Gericht sieht es auf der Grundlage der überlieferten Dokumente als erwiesen an, dass Hildegard Trabant im Moment der Schussabgabe, »nicht mehr versuchte, über die Grenze zu fliehen, sondern sich durch Weglaufen in das Hinterland lediglich der Festnahme entziehen wollte«. [16]
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Skizze [der NVA / 1.GB / Grenzregiment 31 / Stellvertreter des Kommandeurs / Leiter der Polit-Abt. GR 31] zum versuchten Grenzdurchbruch am 18.8.1964, 18.53 Uhr, o.D. [18.8.1964], in: BArch, VA-07 / 6012, Bl. 96.
[2]
Vgl. Bericht [der NVA / 1.GB / Grenzregiment 31 / Stellvertreter des Kommandeurs / Leiter der Polit-Abt. GR 31] zum versuchten Grenzdurchbruch mit Anwendung der Schußwaffe, 18.8.1964, in: BArch, VA-07 / 6012, Bl. 93–95, Zitat Bl. 94.
[3]
Befehl Nr. 54 /64 des NVA-Stadtkommandanten über Kader, 19.8.1964, in: BArch, VA-07/ 8327, Bl. 268.
[4]
Vgl. Information der VfS Groß-Berlin, 18.8.1964, in: BStU, MfS, AS 754 /70, Bd. II, Nr. 7, Bl. 5.
[5]
Bericht der VfS Groß-Berlin über Grenzverletzung am 18. August 1964 mit tödlichem Ausgang, 19.8.1964, in: Ebd., Bl. 5. – Hier auch das folgende Zitat.
[6]
Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin über Grenzverletzung mit tödlichem Ausgang, 19.8.1964, in: Ebd., Bl. 9.
[7]
Ebd., Bl. 9.
[8]
Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin / Abt. IX über Grenzverletzung mit tödlichem Ausgang vom 18.8.1964, 21.8.1964, in: Ebd., Bl. 9– 10.
[9]
Erklärung des Ehemannes von Hildegard Trabant, 19.8.1964, in: Ebd., Bl. 24.
[10]
Bericht der VfS Groß-Berlin / Abt. IX über Grenzverletzung mit tödlichem Ausgang vom 18.8.1964, 21.8.1964, in: Ebd., Bl. 10.
[11]
Handschriftlicher Nachtrag [der VfS Groß-Berlin / Abt. IX], o.D. [21.8.1964], in: Ebd., Bl. 11.
[12]
Vermerk des Generalstaatsanwalts von Groß-Berlin (I A AR 1 83.64), 4.9.1964, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 69 / 90, Bd. 1, Bl. 6.
[13]
Vgl. Verfügung des Generalstaatsanwalts bei dem Kammergericht Berlin, 30.10.1990, in: Ebd., Bd. 1, Bl. 21–22.
[14]
Vgl. Anklageschrift der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin (27 / 2 Js 69 / 90), 18.4.1997, in: Ebd., Bd. 2, Bl. 180– 198.
[15]
Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 10.6.1998, in: Ebd., Bd. 3, Bl. 22a–22h.
[16]
Ebd., Bl. 22f.