geboren am 31. Januar 1939
erschossen am 27. Februar 1964
in der Kiefholzstraße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln
Die Stimmen der nur wenige Meter entfernten Grenzposten können sie deutlich vernehmen. Einer von ihnen habe "Schnapp ihn dir" gerufen, ein anderer in barschem Ton gedroht "Bleib stehen, Du Schwein, oder ich leg Dich um." Für die West-Berliner Polizei besteht angesichts dieser Beobachtungen kein Zweifel, dass auf der anderen Seite der Sektorengrenze ein Fluchtversuch mit Waffengewalt vereitelt worden ist.Zu beiden Seiten von Schrebergärten gesäumt, führt die Sektorengrenze im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow ein Stück weit an der Kiefholzstraße entlang. Auf Ost-Berliner Seite liegt die Kleingartenanlage "Sorgenfrei", auf West-Berliner Seite beginnt am letzten Stacheldrahtzaun das Gelände der Kolonie "Neuköllnische Wiesen". Dort hören West-Berliner Laubenpieper am späten Abend des 27. Februar 1964 Schüsse. Sie bemühen sich, in Erfahrung zu bringen, was hinter dem Zaun vor sich geht. Zwar versperrt ihnen eine Hecke die Sicht. Aber die Stimmen der nur wenige Meter entfernten Grenzposten können sie deutlich vernehmen. Einer von ihnen habe "Schnapp ihn dir" gerufen, ein anderer in barschem Ton gedroht "Bleib stehen, Du Schwein, oder ich leg Dich um." [1] Für die West-Berliner Polizei besteht angesichts dieser Beobachtungen kein Zweifel, dass auf der anderen Seite der Sektorengrenze ein Fluchtversuch mit Waffengewalt vereitelt worden ist. Ob die Schüsse den Flüchtling getroffen haben, bleibt jedoch ungewiss. Erst im Zuge der Öffnung der DDR-Archive stellt sich heraus, dass an diesem Abend der 25 Jahre alte Walter Hayn beim Versuch, nach West-Berlin zu gelangen, von Grenzsoldaten erschossen wurde. Aus "Sicherheitsgründen" gaben die DDR-Behörden die Umstände seines Todes damals auch gegenüber den Angehörigen des Opfers nicht preis. [2]
Walter Hayn wird 1939 in Breslau geboren. Nachdem die Familie zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus Schlesien vertrieben wird, wächst er im sächsischen Ebersbach auf, einer Gemeinde im Kreis Großenhain in der Nähe von Dresden. Sein Vater gilt infolge des Krieges als vermisst, so dass die Mutter die vier Geschwister unter schwierigen Bedingungen allein groß zieht. Im Jahr 1950 kehrt der älteste Bruder der soeben gegründeten DDR den Rücken und lässt sich in der Bundesrepublik nieder. Walter Hayn, der zweitjüngste Bruder, absolviert nach achtjährigem Schulbesuch eine landwirtschaftliche Ausbildung und arbeitet vorübergehend auf dem Bau, bevor er sich 1958 weniger aus Überzeugung, denn wegen der Aufstiegschancen, die er sich dadurch erhofft, zum Dienst bei der Deutschen Volkspolizei verpflichtet. Als Volkspolizist wird er nach Ost-Berlin versetzt, wo er Angaben seines jüngeren Bruders zufolge an der innerstädtischen Sektorengrenze Dienst tut. [3] Das Grenzregime, das nach dem Mauerbau errichtet wird, lernt Walter Hayn jedoch nicht mehr als Volkspolizist kennen. Denn im Juni 1961 wird er aus dem Polizeidienst entlassen und arbeitet danach als Transport- und Bauarbeiter. [4] Unterdessen hat er geheiratet und wohnt mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn im Stadtbezirk Lichtenberg, bis die Ehe im September 1963 geschieden wird. Welche Gründe ihn dazu bewegen, ein paar Monate später die Flucht zu riskieren, ist nicht bekannt. Er wollte besser leben, glaubt sein Bruder. Die Stasi kann hingegen, als sie nach seinem Tod Nachforschungen anstellt, kein Fluchtmotiv entdecken. Sie findet lediglich heraus, dass Walter Hayn keineswegs, wie zunächst gemutmaßt, "Arbeitsbummelant" oder "Trinker" war, sondern regelmäßig seiner Arbeit nachging, Unterhalt für seinen Sohn zahlte, in geordneten finanziellen Verhältnissen lebte und bei seinen Nachbarn als freundlicher und höflicher Mensch angesehen war. [5]
Was immer seine Gründe gewesen sein mögen, leicht gefallen ist ihm der Entschluss zu dem gefahrvollen Unterfangen offenbar nicht. Denn bevor er sich ins Grenzgebiet begibt, trinkt sich Walter Hayn in einer Gaststätte auf dem Gelände der Kolonie "Sorgenfrei" Mut an. [6] Personalausweis, Arbeitsbuch, Scheidungsurteil und die Anschrift seines in Westdeutschland lebenden Bruders hat er da schon in der Tasche. Schließlich bricht er auf, steigt über den Hinterlandzaun in den Sperrstreifen und versucht, den dreireihigen Grenzzaun zu erreichen, hinter dem die West-Berliner Schrebergärten liegen. Es ist 22.20 Uhr, als er von dem Postenpaar, das diesen Abschnitt bewacht, entdeckt und, da er nicht stehen bleibt, unter Beschuss genommen wird. Dabei werden sie von einem Nachbarposten unterstützt, der von einem Wachturm ebenfalls das Feuer eröffnet. [7] Zusammen geben sie 17 Schüsse ab. Zwei Kugeln treffen Walter Hayn kurz vor dem Zaun, eine davon tödlich.
Zu DDR-Zeiten für den "verhinderten Grenzdurchbruch" ausgezeichnet, werden die drei Schützen 1995 wegen gemeinschaftlichen Totschlags angeklagt. In der Hauptverhandlung nehmen alle drei für sich in Anspruch, in die Luft geschossen zu haben. [8] Das Gericht gelangt hingegen zu der Auffassung, dass zumindest zwei von ihnen damals entschlossen waren, den Fluchtversuch von Walter Hayn mit allen Mitteln zu verhindern und dabei seinen Tod billigend in Kauf nahmen. Wer den tödlichen Schuss abgegeben hat, kann zwar nicht geklärt werden. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass die beiden ehemaligen Grenzsoldaten gemeinschaftlich handelten. Das komme auch in den Aufforderungen und Beschimpfungen zum Ausdruck, die sie in jener Februarnacht von sich gaben. Daher müsse sich jeder von ihnen den tödlichen Schuss zurechnen lassen.
Vor dem Hintergrund einer komplizierten Rechtslage und unter Berücksichtigung aller strafmildernden Gesichtspunkte werden sie zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und neun Monaten bzw. einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt werden. Ein Angeklagter war, wie es im Urteil heißt, "etwas höher zu bestrafen, da er in eigener Person das Opfer durch mindestens einen Schuß getroffen hat." [9] Der dritte Schütze wird indes frei gesprochen, weil ihm die Behauptung, daneben geschossen zu haben, nicht widerlegt werden kann.
Der Bruder von Walter Hayn, der 1991 Anzeige erstattet und den Prozess verfolgt hat, empfindet das geringe Strafmaß als ungerecht. Er erinnert sich noch gut daran, wie die DDR-Behörden ihn und seine Mutter nach dem Tod des Bruders unter Druck setzten. Denn der offiziellen Behauptung, sein Bruder sei an der "Staatsgrenze" ertrunken, glaubten sie damals nicht. Intern begründen die Mitarbeiter der Berliner Stasi-Bezirksverwaltung dieses Täuschungsmanöver mit den "Westverbindungen der Familie Hayn". Sie versuchen, die Angehörigen einzuschüchtern, indem sie ihnen drohen "dass sie sich strafbar machen, wenn sie über diese Angelegenheiten Gerüchte in Umlauf setzen." [10] Dennoch kann die Stasi nicht verhindern, dass sich in Walter Hayns Heimatgemeinde Ebersbach eine "gewisse Beunruhigung" breit macht, nachdem seine Mutter bei der örtlichen Polizei Beschwerde einlegt hat. [11] Damit will es der Bruder des Toten nicht bewenden lassen. Er fährt nach Ost-Berlin und stellt eigene Nachforschungen an. Beweise zu finden, gelingt ihm zwar nicht. Aber als er von einem Staatsanwalt zu hören bekommt, dass man doch wisse, was mit Flüchtlingen an der Grenze passiert, habe er gewusst, dass sein Bruder erschossen wurde. [12]
Text: Christine Brecht
Walter Hayn wird 1939 in Breslau geboren. Nachdem die Familie zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus Schlesien vertrieben wird, wächst er im sächsischen Ebersbach auf, einer Gemeinde im Kreis Großenhain in der Nähe von Dresden. Sein Vater gilt infolge des Krieges als vermisst, so dass die Mutter die vier Geschwister unter schwierigen Bedingungen allein groß zieht. Im Jahr 1950 kehrt der älteste Bruder der soeben gegründeten DDR den Rücken und lässt sich in der Bundesrepublik nieder. Walter Hayn, der zweitjüngste Bruder, absolviert nach achtjährigem Schulbesuch eine landwirtschaftliche Ausbildung und arbeitet vorübergehend auf dem Bau, bevor er sich 1958 weniger aus Überzeugung, denn wegen der Aufstiegschancen, die er sich dadurch erhofft, zum Dienst bei der Deutschen Volkspolizei verpflichtet. Als Volkspolizist wird er nach Ost-Berlin versetzt, wo er Angaben seines jüngeren Bruders zufolge an der innerstädtischen Sektorengrenze Dienst tut. [3] Das Grenzregime, das nach dem Mauerbau errichtet wird, lernt Walter Hayn jedoch nicht mehr als Volkspolizist kennen. Denn im Juni 1961 wird er aus dem Polizeidienst entlassen und arbeitet danach als Transport- und Bauarbeiter. [4] Unterdessen hat er geheiratet und wohnt mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn im Stadtbezirk Lichtenberg, bis die Ehe im September 1963 geschieden wird. Welche Gründe ihn dazu bewegen, ein paar Monate später die Flucht zu riskieren, ist nicht bekannt. Er wollte besser leben, glaubt sein Bruder. Die Stasi kann hingegen, als sie nach seinem Tod Nachforschungen anstellt, kein Fluchtmotiv entdecken. Sie findet lediglich heraus, dass Walter Hayn keineswegs, wie zunächst gemutmaßt, "Arbeitsbummelant" oder "Trinker" war, sondern regelmäßig seiner Arbeit nachging, Unterhalt für seinen Sohn zahlte, in geordneten finanziellen Verhältnissen lebte und bei seinen Nachbarn als freundlicher und höflicher Mensch angesehen war. [5]
Was immer seine Gründe gewesen sein mögen, leicht gefallen ist ihm der Entschluss zu dem gefahrvollen Unterfangen offenbar nicht. Denn bevor er sich ins Grenzgebiet begibt, trinkt sich Walter Hayn in einer Gaststätte auf dem Gelände der Kolonie "Sorgenfrei" Mut an. [6] Personalausweis, Arbeitsbuch, Scheidungsurteil und die Anschrift seines in Westdeutschland lebenden Bruders hat er da schon in der Tasche. Schließlich bricht er auf, steigt über den Hinterlandzaun in den Sperrstreifen und versucht, den dreireihigen Grenzzaun zu erreichen, hinter dem die West-Berliner Schrebergärten liegen. Es ist 22.20 Uhr, als er von dem Postenpaar, das diesen Abschnitt bewacht, entdeckt und, da er nicht stehen bleibt, unter Beschuss genommen wird. Dabei werden sie von einem Nachbarposten unterstützt, der von einem Wachturm ebenfalls das Feuer eröffnet. [7] Zusammen geben sie 17 Schüsse ab. Zwei Kugeln treffen Walter Hayn kurz vor dem Zaun, eine davon tödlich.
Zu DDR-Zeiten für den "verhinderten Grenzdurchbruch" ausgezeichnet, werden die drei Schützen 1995 wegen gemeinschaftlichen Totschlags angeklagt. In der Hauptverhandlung nehmen alle drei für sich in Anspruch, in die Luft geschossen zu haben. [8] Das Gericht gelangt hingegen zu der Auffassung, dass zumindest zwei von ihnen damals entschlossen waren, den Fluchtversuch von Walter Hayn mit allen Mitteln zu verhindern und dabei seinen Tod billigend in Kauf nahmen. Wer den tödlichen Schuss abgegeben hat, kann zwar nicht geklärt werden. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass die beiden ehemaligen Grenzsoldaten gemeinschaftlich handelten. Das komme auch in den Aufforderungen und Beschimpfungen zum Ausdruck, die sie in jener Februarnacht von sich gaben. Daher müsse sich jeder von ihnen den tödlichen Schuss zurechnen lassen.
Vor dem Hintergrund einer komplizierten Rechtslage und unter Berücksichtigung aller strafmildernden Gesichtspunkte werden sie zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und neun Monaten bzw. einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt werden. Ein Angeklagter war, wie es im Urteil heißt, "etwas höher zu bestrafen, da er in eigener Person das Opfer durch mindestens einen Schuß getroffen hat." [9] Der dritte Schütze wird indes frei gesprochen, weil ihm die Behauptung, daneben geschossen zu haben, nicht widerlegt werden kann.
Der Bruder von Walter Hayn, der 1991 Anzeige erstattet und den Prozess verfolgt hat, empfindet das geringe Strafmaß als ungerecht. Er erinnert sich noch gut daran, wie die DDR-Behörden ihn und seine Mutter nach dem Tod des Bruders unter Druck setzten. Denn der offiziellen Behauptung, sein Bruder sei an der "Staatsgrenze" ertrunken, glaubten sie damals nicht. Intern begründen die Mitarbeiter der Berliner Stasi-Bezirksverwaltung dieses Täuschungsmanöver mit den "Westverbindungen der Familie Hayn". Sie versuchen, die Angehörigen einzuschüchtern, indem sie ihnen drohen "dass sie sich strafbar machen, wenn sie über diese Angelegenheiten Gerüchte in Umlauf setzen." [10] Dennoch kann die Stasi nicht verhindern, dass sich in Walter Hayns Heimatgemeinde Ebersbach eine "gewisse Beunruhigung" breit macht, nachdem seine Mutter bei der örtlichen Polizei Beschwerde einlegt hat. [11] Damit will es der Bruder des Toten nicht bewenden lassen. Er fährt nach Ost-Berlin und stellt eigene Nachforschungen an. Beweise zu finden, gelingt ihm zwar nicht. Aber als er von einem Staatsanwalt zu hören bekommt, dass man doch wisse, was mit Flüchtlingen an der Grenze passiert, habe er gewusst, dass sein Bruder erschossen wurde. [12]
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei, 27.2.1964, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 93/90, Bd. 2, Bl. 5-6, Zitat Bl. 5.
[2]
Vgl. [MfS-]Abschlußvermerk zur Leichensache Walter Hayn, 4.3.1964, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 2, Nr. 5, Bl. 40.
[3]
Gespräch von Christine Brecht mit P. Hayn, dem Bruder von Walter Hayn, 3.7.2007.
[4]
Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über die Grenzverletzung in Berlin-Treptow, "Kolonie Sorgenfrei", Dammweg durch eine männliche Person , 28.2.1964, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 2, Nr. 5, Bl. 4-6, sowie Arbeitsbuch von Walter Hayn, ausgestellt vom Rat des Kreises Großenhain/Abt. Arbeit und Berufsausbildung, 27.9.1954, in: Ebd., Bl. 44.
[5]
Ermittlungsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. VIII/Referat 2 an die Arbeitsgruppe Staatsgrenze, 28.2.1964, in: Ebd., Bl. 10-12.
[6]
Vgl. Einzel-Information [des MfS-ZAIG] Nr. 167/64, 29.2.1964, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 836, Bl. 7.
[7]
Vgl. Bericht der NVA/1.GB/Der Kommandeur über das besondere Vorkommnis vom 27.2.64, 20.20 Uhr, im Abschnitt 5/GR-37 Kleingartenanlage Sorgenfrei, 27.2.1964, in: BArch, VA-07/16933, Bl. 191-193.
[8]
Vgl. "Schlagader zerrissen–aber keiner will getroffen haben", Welt am Sonntag, 14.1.1996.
[9]
Urteil des Landgerichts Berlin vom 22.1.1996, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 93/90, Bd. 3a, Bl. 1-38, Zitat Bl. 37.
[10]
Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zum Leichenvorgang Walter Hayn, 5.3.1964, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 2, Nr. 5, Bl. 18-20, hier Bl. 20.
[11]
Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zum Leichenvorgang Walter Hayn, 5.3.1964, in: Ebd., Bl. 18-20, sowie [MfS-]Abschlußvermerk zur Leichensache Walter Hayn, 4.3.1964, in: Ebd., Bl. 40.
[12]
Gespräch von Christine Brecht mit P. Hayn, dem Bruder von Walter Hayn, 3.7.2007.