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Todesopfer

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Erich Kühn: geboren am 27. Februar 1903, angeschossen am 26. November 1965 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer, an den Folgen am 3. Dezember 1965 gestorben (Aufnahme um 1964)
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Erich Kühn

geboren am 27. Februar 1903
angeschossen am 26. November 1965


in der Kiefholzstraße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln

am 3. Dezember 1965 seinen Verletzungen erlegen
Es ist schon dunkel, als Erich Kühn am Abend des 26. November 1965 versucht, an der Kiefholzstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow nach West-Berlin zu flüchten. Das unübersichtliche Gelände an den stillgelegten Gleisen, die zwischen den Bahnhöfen Treptower Park und Sonnenallee über die Kiefholzstraße führen, ist weiträumig abgesperrt. Auf der Brücke sind zwei Grenzsoldaten postiert.Es ist schon dunkel, als Erich Kühn am Abend des 26. November 1965 versucht, an der Kiefholzstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow nach West-Berlin zu flüchten. Das unübersichtliche Gelände an den stillgelegten Gleisen, die zwischen den Bahnhöfen Treptower Park und Sonnenallee über die Kiefholzstraße führen, ist weiträumig abgesperrt. Auf der Brücke sind zwei Grenzsoldaten postiert. Doch Erich Kühn, der sich unterhalb des Bahndamms den Sperranlagen nähert, bleibt ihren Blicken verborgen. Erst durch ein Geräusch, das von der Böschung des Bahndamms kommt, werden sie aufmerksam. Wegen der Dunkelheit können sie nicht erkennen, ob es sich um einen Flüchtling handelt. Außerdem haben sie Hemmungen einzugreifen. Daher wendet sich der Postenführer per Telefon an den Zugführer der Kompanie. Als der ihm befiehlt zu handeln, fordert er seinen Posten zum Schießen auf. Daraufhin entsichert dieser seine Kalaschnikow und feuert „blindlings ins Gebüsch", wie die Presse berichtet, als die drei Grenzsoldaten Jahrzehnte später vor Gericht stehen. [1]

Erich Kühn wird getroffen und schwer verletzt ins Volkspolizei-Krankenhaus gebracht. Er hat einen Bauchdurchschuss erlitten, an dessen Folgen er acht Tage später im Alter von 62 Jahren stirbt.

Angehörige, die um ihn trauern, hinterlässt er offenbar nicht. Zumindest können die DDR-Behörden niemanden ausfindig machen, der sich um sein Begräbnis kümmern will. So wird die Urne auf Veranlassung der Ost-Berliner Staatsanwaltschaft auf dem Friedhof Baumschulenweg in einem anonymen Reihengrab bestattet. [2] Erst nach Öffnung der DDR-Archive wird das Schicksal von Erich Kühn bekannt. Mit großem Interesse verfolgt die Öffentlichkeit im Jahr 1995, wie sich drei ehemalige Grenzsoldaten vor dem Landgericht Berlin für seinen Tod verantworten müssen. Wegen Totschlags bzw. Anstiftung zum Totschlag werden sie zu einer Freiheits- bzw. Jugendstrafe von jeweils einem Jahr auf Bewährung verurteilt.

Die Lebensgeschichte von Erich Kühn hat nur bruchstückhaft in amtliche Überlieferungen Eingang gefunden. Soweit es daraus hervorgeht, ist er nach einem unsteten Leben voller Probleme und Konflikte einsam, krank und mittellos, als er sich zur Flucht nach West-Berlin entscheidet.

Geboren wird Erich Kühn am 27. Februar 1903 in Landsberg an der Warthe im heutigen Polen. Im Alter von neun Jahren zieht er nach Berlin, wo er den größten Teil seines Lebens verbringt. Ohne Berufsausbildung schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und kommt Stasi-Unterlagen zu Folge schon früh mit dem Gesetz in Konflikt. So geht aus einer Strafakte der Ost-Berliner Kriminalpolizei hervor, dass Erich Kühn im Alter von 14 Jahren zum ersten Mal wegen Diebstahls für vier Wochen ins Gefängnis muss. [3] Das ist im Jahr 1917, als Deutschland noch eine Monarchie ist und im Ersten Weltkrieg steht. Auch in den Jahren der Weimarer Republik und in der NS-Zeit wird er mehrfach wegen Diebstahls und Urkundenfälschung zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt, zuletzt im Januar 1942. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fällt er den Behörden im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin zunächst wegen Schwarzmarktgeschäften auf. Dann folgt am 16. November 1953 eine Verurteilung wegen „Unzucht mit Kindern" zu sechs Jahren und drei Monaten Zuchthaus. [4] Erich Kühn hat sich demnach an einer 13-Jährigen vergangen, die eine Tochter von ihm bekommt. [5]

Als er im Juni 1959 entlassen wird, ist Erich Kühn 56 Jahre alt. Auch in den folgenden Jahren ist sein Leben geprägt von privaten Konflikten, wechselnden Arbeitsverhältnissen und gesundheitlichen Problemen. Nach der Scheidung von seiner zweiten Frau heiratet er 1960 zum dritten Mal. Doch auch diese Ehe scheitert und wird vier Jahre später geschieden. Seine berufliche Situation bleibt ebenfalls prekär. Bis zum Mauerbau soll er „Grenzgänger" gewesen sein. Seit Februar 1963 ist er, wie aus dem Arbeitsbuch hervorgeht, das er bei seinem Fluchtversuch mit sich führt, bei verschiedenen Betrieben in Ost-Berlin als Transport- und Lagerarbeiter tätig. [6] Die letzten Wochen vor seinem Fluchtversuch verbringt er ausschließlich im Krankenhaus, wie sein Arbeitsbuch belegt. Nach einem längeren Aufenthalt im evangelischen Königin-Elisabeth-Hospital wird er am 27. September ins Städtische Krankenhaus Herzberge, eine Nervenheilanstalt, verlegt. [7] Am 13. November wird er für die Dauer von zwei Tagen nach Hause entlassen, kehrt aber nicht mehr dorthin zurück. [8] Dokumente, die in seiner Wohnung gefunden werden, deuten darauf hin, dass er sich in einer existenziellen Krise befindet: Am 18. November setzt er einen nie abgeschickten Brief auf, in dem er sich gegen die Kündigung durch seinen letzten Arbeitgeber verwehrt. Gleichzeitig droht ihm offenbar wegen Unterhaltsforderungen eine Zwangsvollstreckung. [9] Am 24. November bringt er einen Anzug ins Pfandhaus. [10] All das legt die Vermutung nahe, dass sich Erich Kühn durch die Flucht nach West-Berlin aus einer Notlage befreien will.

Nach seiner „Festnahme" wird der angeschossene Flüchtling noch am Abend des 25. November im Volkspolizei-Krankenhaus operiert. In den folgenden Tagen ist er zwar bei Bewusstsein. Doch der Zustand des 62-Jährigen verschlechtert sich zusehends. Die schwere Schussverletzung führt zu einer Bauchfellentzündung, an der Erich Kühn am Abend des 3. Dezember 1965 verstirbt. [11]

Text: Christine Brecht

[1] Vgl. „Mauerschütze: Blindlings ins Gebüsch gefeuert", Welt am Sonntag, 19.2.1995, sowie Urteil des Landgerichts Berlin vom 24.2.1995, in: StA Berlin, Az. 2 Js 67/90, Bd. 3, Bl. 102-123, hier Bl. 108-109. Auszugsweise abgedruckt in: Klaus Marxen/Gerhard Werle u.a. (Hg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Berlin 2002, S. 445-479. [2] Vgl. Abschlußvermerk [des MfS] zur Leichensache Erich Kühn, 28.1.1966, in: BStU, MfS, AU 3948/71 (Staatsanwaltschaftsakte), Bl. 16-17. [3] Vgl. Aktenvermerk des [MfS] zur Leichensache Erich Kühn, 8.3.1966, in: BStU, MfS, AU 3948/71 (Staatsanwaltschaftsakte), Bl. 24-25. [4] Ebd., Bl. 24. [5] Vgl. [MfS-]Information, 27.11.1965, in: BStU, MfS, AU 3948/71 (Ermittlungsverfahren), Bl. 8-10; [MfS-]Abschlußvermerk, 28.1.1966, in: Ebd. [6] Vgl. Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung für Erich Kühn, ausgestellt vom VEB Großdrehmaschinenbau „7. Oktober" in Berlin-Weißensee, 8.2.1963, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 2, Bl. 37. [7] Vgl. Obduktionsbericht des IGM der HU in der Leichensache Erich Kühn, 7.12.1965, in: BStU, MfS, AU 3948/71 (Staatsanwaltschaftsakte), Bl. 6-13. - Ob und warum er in psychiatrischer Behandlung war, wie das MfS behauptete, geht aus den dem Projekt vorliegenden Unterlagen nicht hervor. [8] Vgl. Erlaubnisschein zum Verlassen des Städtischen Krankenhaus Herzberge, Berlin-Lichtenberg, 13.11.1965, BStU, MfS, AU 3948/71, Bl. 72. [9] Vgl. Aktenvermerk [des MfS] zur Leichensache Erich Kühn, 27.1.1966, in: BStU, MfS, AU 3948/71 (Staatsanwaltschaftsakte), Bl. 15. [10] Vgl. Information [des MfS] zum versuchten Grenzdurchbruch am 26.11.1965 in Höhe der Gartenkolonie „Eintracht" in Berlin-Treptow, 27.11.1965, in: BStU, MfS, AU 3948/71 (Ermittlungsverfahren), Bl. 8-10. [11] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 24.2.1995, in: StA Berlin, Az. 2 Js 67/90, Bd. 3, Bl. 110, sowie Totenschein für Erich Kühn, ausgestellt vom Krankenhaus der Volkspolizei/Berlin, 4.12.1965, in: in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 2, Bl. 23.
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