geboren 1960
ertrunken am 13. September 1966
in der Spree nahe der Oberbaumbrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Kreuzberg und Berlin-Friedrichshain
Der 13. September 1966 ist ein diesiger Spätsommertag. Am Vormittag zwischen 10.00 und 12.00 Uhr wird der sechsjährige Andreas Senk am Kreuzberger Gröbenufer in die Spree gestoßen – von einem gleichaltrigen Spielgefährten, der erschrocken über seine Tat davonläuft.Als der Sechsjährige – einziger Sohn seiner 25-jährigen Mutter Renate Senk – an dieser Stelle ins Wasser fällt [1], fällt er vom Westteil in den Ostteil der Stadt, denn die Spree gehört hier in ganzer Breite zum sowjetischen Sektor. Die Grenze wird nur vom Osten her als Staatsgrenze betrachtet und streng bewacht. Und die Wachsamkeit der Posten richtet sich vor allem gen Osten. Vom Postenturm auf der ca. 200 Meter entfernten Oberbaumbrücke wird der Vorfall offenbar nicht bemerkt oder nicht als „Grenzverletzung" ernst genommen – auch nicht von den Booten der DDR-Grenzer, die auf der Flussmitte patrouillieren, etwa 80 Meter vom Westufer entfernt. Stundenlang geschieht nichts, um Andreas Senk zu retten oder zu bergen.
Erst gegen 14.00 Uhr registriert man auf einem DDR-Grenzboot vier Löschfahrzeuge der West-Berliner Feuerwehr. „Am westlichen Ufer begannen Feuerwehrleute mit langen Stangen die Spree abzusuchen. 14.30 Uhr wurde ein ca. 5-jähriges Kind geborgen und sofort ins westliche Hinterland transportiert. Alle Kräfte zogen sich anschließend ohne weitere Handlungen ins westliche Hinterland zurück." [2] Andreas Senk wird ins Bethanien-Krankenhaus gebracht, wo nur noch sein Tod festgestellt werden kann.
„Sechsjähriger ertrank vor den Augen der Grepos", titelt die „BZ" am nächsten Tag. [3] Am selben Tag verurteilt ein Sprecher des West-Berliner Senats das Verhalten der DDR-Grenzposten auf dem Patrouillenboot und wirft ihnen vor, die Bergung nicht nur behindert, sondern verhindert zu haben. Die Berliner CDU ersucht den Staatsanwalt bei der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, „unverzüglich ein Verfahren gegen die Zonen-Grenzposten einzuleiten, die sich an dem Tod des Sechsjährigen mitschuldig gemacht haben." [4]
Ob die Grenzposten den Sturz des Jungen überhaupt bemerkt haben, lässt sich nicht mehr klären – es gibt dazu keinen Vermerk in den Akten. Und auch die angebliche Behinderung durch das Patrouillenboot liest sich am zweiten Tag nach dem Unfall und nach der Befragung der beteiligten Feuerwehrleute nüchterner: Als die Feuerwehr am Ufer eingetroffen war, sei das Boot auf etwa dreißig Meter an die Bergungsstelle herangekommen, berichtet ein Brandoberinspektor. „Er habe daraufhin den Zonensoldaten zugerufen: ‚Wir müssen hier mal suchen, da soll jemand reingefallen sein.’ Ein Soldat habe geantwortet: ‚Ja, aber nicht so weit ins Wasser kommen’. Die Grenzposten hätten zwar die ganze Zeit mit schussbereiten Maschinenpistolen auf Deck gestanden, aber sonst nichts unternommen." [5] Sie unternehmen allerdings auch nichts zur Bergung des Jungen, wozu sie vom westlichen Ufer her aufgefordert werden.
Ist Andreas Senk ein Opfer der Berliner Mauer? Dass die Feuerwehr so spät alarmiert wurde, hatte keine politischen Gründe. Nur innerhalb von maximal acht Minuten nach seinem Sturz von West nach Ost hätte eine Chance bestanden, Andreas Senk lebend zu bergen. Doch die Chance war an dieser Stelle besonders gering, und das hatte durchaus politische Gründe. „Am Berliner Todesstreifen fehlt es an Passanten, die schnell zu Rettern werden könnten", schreibt ein Kommentator. „Und wenn sie da gewesen wären, mussten sie nicht damit rechnen, bei einem Sprung in Ost-Berliner Gewässer erschossen zu werden?" [6]
In den Jahren 1972 bis 1975 werden am Kreuzberger Gröbenufer weitere vier Kinder ertrinken, die hier in die Spree fallen – und damit von West- nach Ost-Berlin. Die Tatsache, dass sie nicht gerettet werden können und die unwürdigen Umstände ihrer Bergung werden immer auch mit dieser Grenzsituation zu tun haben.
Erst im Frühjahr 1976 wird eine Regelung umgesetzt, auf die sich Regierungsstellen in Ost- und West-Berlin im Herbst 1975 geeinigt haben und die derartige Fälle künftig ausschließen soll: Auf einer Gesamtlänge von gut sechs Kilometern Wassergrenze werden in West-Berlin Rettungssäulen installiert, deren Rundumlicht auch von den Grenzwachtürmen aus sichtbar ist.
Text: Martin Ahrends
Erst gegen 14.00 Uhr registriert man auf einem DDR-Grenzboot vier Löschfahrzeuge der West-Berliner Feuerwehr. „Am westlichen Ufer begannen Feuerwehrleute mit langen Stangen die Spree abzusuchen. 14.30 Uhr wurde ein ca. 5-jähriges Kind geborgen und sofort ins westliche Hinterland transportiert. Alle Kräfte zogen sich anschließend ohne weitere Handlungen ins westliche Hinterland zurück." [2] Andreas Senk wird ins Bethanien-Krankenhaus gebracht, wo nur noch sein Tod festgestellt werden kann.
„Sechsjähriger ertrank vor den Augen der Grepos", titelt die „BZ" am nächsten Tag. [3] Am selben Tag verurteilt ein Sprecher des West-Berliner Senats das Verhalten der DDR-Grenzposten auf dem Patrouillenboot und wirft ihnen vor, die Bergung nicht nur behindert, sondern verhindert zu haben. Die Berliner CDU ersucht den Staatsanwalt bei der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, „unverzüglich ein Verfahren gegen die Zonen-Grenzposten einzuleiten, die sich an dem Tod des Sechsjährigen mitschuldig gemacht haben." [4]
Ob die Grenzposten den Sturz des Jungen überhaupt bemerkt haben, lässt sich nicht mehr klären – es gibt dazu keinen Vermerk in den Akten. Und auch die angebliche Behinderung durch das Patrouillenboot liest sich am zweiten Tag nach dem Unfall und nach der Befragung der beteiligten Feuerwehrleute nüchterner: Als die Feuerwehr am Ufer eingetroffen war, sei das Boot auf etwa dreißig Meter an die Bergungsstelle herangekommen, berichtet ein Brandoberinspektor. „Er habe daraufhin den Zonensoldaten zugerufen: ‚Wir müssen hier mal suchen, da soll jemand reingefallen sein.’ Ein Soldat habe geantwortet: ‚Ja, aber nicht so weit ins Wasser kommen’. Die Grenzposten hätten zwar die ganze Zeit mit schussbereiten Maschinenpistolen auf Deck gestanden, aber sonst nichts unternommen." [5] Sie unternehmen allerdings auch nichts zur Bergung des Jungen, wozu sie vom westlichen Ufer her aufgefordert werden.
Ist Andreas Senk ein Opfer der Berliner Mauer? Dass die Feuerwehr so spät alarmiert wurde, hatte keine politischen Gründe. Nur innerhalb von maximal acht Minuten nach seinem Sturz von West nach Ost hätte eine Chance bestanden, Andreas Senk lebend zu bergen. Doch die Chance war an dieser Stelle besonders gering, und das hatte durchaus politische Gründe. „Am Berliner Todesstreifen fehlt es an Passanten, die schnell zu Rettern werden könnten", schreibt ein Kommentator. „Und wenn sie da gewesen wären, mussten sie nicht damit rechnen, bei einem Sprung in Ost-Berliner Gewässer erschossen zu werden?" [6]
In den Jahren 1972 bis 1975 werden am Kreuzberger Gröbenufer weitere vier Kinder ertrinken, die hier in die Spree fallen – und damit von West- nach Ost-Berlin. Die Tatsache, dass sie nicht gerettet werden können und die unwürdigen Umstände ihrer Bergung werden immer auch mit dieser Grenzsituation zu tun haben.
Erst im Frühjahr 1976 wird eine Regelung umgesetzt, auf die sich Regierungsstellen in Ost- und West-Berlin im Herbst 1975 geeinigt haben und die derartige Fälle künftig ausschließen soll: Auf einer Gesamtlänge von gut sechs Kilometern Wassergrenze werden in West-Berlin Rettungssäulen installiert, deren Rundumlicht auch von den Grenzwachtürmen aus sichtbar ist.
Text: Martin Ahrends
[1]
Vgl. Ereignismeldung der West-Berliner Polizei, 14.9.1966, S. 4/5, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse; siehe auch: BZ, 19.9.1966.
[2]
Operative Tagesmeldung der NVA/Stadtkommandantur Berlin Nr: T 256/66, 14.9.1966, in: BArch, VA-07/6037, Bl. 129.
[3]
BZ, 14.9.1966.
[4]
„Feuerwehr: Wir sind nicht behindert worden", Der Tagesspiegel, 15.9.1966.
[5]
Ebd.
[6]
Günter Matthes, „Ein Grenzfall", Der Tagesspiegel, 15.9.1966.