geboren am 27. Oktober 1955
erschossen am 14. März 1966
in der Kiefholzstraße nahe der Kleingartenkolonie "Sorgenfrei"
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln
In der DDR wird das wahre Geschehen verschleiert, weil die militärisch und politisch Verantwortlichen nicht zugeben wollen, dass an der Mauer auf Kinder geschossen worden ist. Den Angehörigen wird vorgegaukelt, Jörg Hartmann und Lothar Schleusener seien tödlich verunglückt.Am 14. März 1966 erschießen Grenzposten im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow zwei Kinder im Alter von 10 und 13 Jahren, die nach Einbruch der Dunkelheit unbemerkt ins Grenzgebiet gelangt sind. Als er von seinem Wachturm herab einen Schatten wahrnahm, habe er das Feuer eröffnet, weil er dies für seine Pflicht gehalten habe, wird einer der Schützen 30 Jahre später sagen. [1]
Der zehnjährige Jörg Hartmann stirbt an Ort und Stelle. Sein 13 Jahre alter Freund Lothar Schleusener wird ins Volkspolizei-Krankenhaus in Berlin-Mitte gebracht, wo er seinen Verletzungen noch am selben Abend erliegt. Beide sind in Ost-Berlin geboren und im Stadtbezirk Friedrichshain aufgewachsen.
In der DDR wird das wahre Geschehen verschleiert, weil die militärisch und politisch Verantwortlichen nicht zugeben wollen, dass an der Mauer auf Kinder geschossen worden ist. Den Angehörigen wird vorgegaukelt, Jörg Hartmann und Lothar Schleusener seien tödlich verunglückt. Spuren werden beseitigt und nur wenige Dokumente, die das Gewaltverbrechen bezeugen, sind überliefert. Doch im Laufe der 1990er Jahre gelingt es den Mitarbeitern der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, die Tatsachen ans Licht zu bringen. [2] Denn die Schüsse, denen die Jungen zum Opfer gefallen sind, werden seinerzeit auch im angrenzenden West-Berliner Bezirk Neukölln registriert. [3]
Auch schon damals gibt es Hinweise, wonach sie zwei Kindern gegolten haben, eine Information, die westlichen Ermittlungsunterlagen zufolge aus einer »zuverlässigen Quelle« im Ost-Berliner Volkspolizei-Krankenhaus stammt. [4] Rundfunk und Presse machen die Nachricht bereits im März 1966 publik. In der Nähe des S-Bahnhofs Plänterwald, so wird vermeldet, hätten Kinder versucht, nach West-Berlin zu gelangen. Dabei seien sie entdeckt und sofort unter gezieltes Maschinenpistolenfeuer genommen worden. [5] Auf unbekannten Wegen wird sogar der Name eines Opfers im Westen aktenkundig: Jörg Hartmann. [6] Jörg Hartmann lebt mit zwei jüngeren Geschwistern im Haushalt seiner Großmutter in der Schreinerstraße in Berlin-Friedrichshain. Am Morgen des 14. März 1966 verlässt er die kleine Hinterhauswohnung, um Brötchen zu holen, danach bleibt der Zehnjährige spurlos verschwunden. Als im Rundfunksender RIAS die Meldung kam, zwei Kinder seien an der Mauer erschossen worden, habe sie sofort Verdacht geschöpft, erinnert sich Ursula Mörs, die ehemalige Klassenlehrerin von Jörg Hartmann, der in der Grundschule an der Rigaer Straße die dritte Klasse besucht. [7] Durch die Radiomeldung alarmiert, hört sie sich in ihrer Klasse um. Jörg habe erzählt, dass er zu seinem Vater nach West-Berlin wolle, berichten seine Klassenkameraden. Um der Sache nachzugehen, sucht sie die Großmutter des Jungen auf. Von ihr erfährt sie, dass Jörg seinen Vater nie kennen gelernt, sich aber kurz vor seinem Verschwinden unter einem Vorwand nach dessen Adresse im Westteil der Stadt erkundigt habe.
Jörg Hartmanns Mutter ist psychisch krank und kann sich nicht selbst um ihre Kinder kümmern. Deshalb wachsen die Geschwister bei der Großmutter auf. [8] Als Jörg nicht mehr nach Hause kommt, macht sich die Großmutter große Sorgen. Noch am selben Abend geht sie zur Volkspolizei und meldet ihren Enkel als vermisst, erhält aber keinerlei Auskünfte darüber, was ihm zugestoßen ist. Die Nachricht, dass an der Mauer auf zwei Kinder geschossen worden sei, versetzt die Großmutter in Angst. Dass Jörg an diesem Tag mit Lothar Schleusener unterwegs war, weiß sie allerdings nicht. Die beiden Jungen kennen sich von klein auf, weil sie in der gleichen Gegend gewohnt haben, bevor Jörg und seine Geschwister zur Großmutter gezogen sind.
Es ist ungefähr 19.15 Uhr, als die beiden Jungen an diesem Abend in der Nähe der Kleingartenkolonie »Sorgenfrei« von Grenzsoldaten entdeckt werden. So geht es zumindest aus dem Bericht hervor, den der Ost-Berliner Stadtkommandant SEDPolitbüromitglied Erich Honecker erstattet, der als Leiter der SED-Sicherheitsabteilung und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR für die »Staatsgrenze« zuständig ist. [9] Die Grenzposten, so besagt der Bericht, hätten »zwei Personen, die die Hinterlandsperre überwunden hatten, als Silhouette erkannt«. Nachdem sie auf einen Warnschuss nicht reagiert hätten, sei das Feuer eröffnet worden.
Zwei Wochen später erhält die Großmutter von Jörg Hartmann die Todesnachricht. Ihr Enkel sei ertrunken, teilt ihr die Ost-Berliner Generalstaatsanwaltschaft mit, seine Leiche sei mit Schiffsschraubenverletzungen am 17. März in Köpenick aus einem See geborgen worden. Doch die Familie glaubt diese Version nicht. »Unserer Meinung nach müssen unsere hier gleich auf sie geschossen haben«, informiert eine Tante die Verwandtschaft in Australien. »Sie haben Mutti (seine Großmutter, d. Hg.) und Uschi (seine Mutter, d. Hg.) zur Polizei bestellt und ihnen gedroht, dass sie gar nichts verlauten lassen sollen und haben ihr da allerhand Märchen erzählt. Sie konnten doch unmöglich zugeben, dass sie jetzt schon auf Kinder schießen.« [10]
Auch Ursula Mörs mag die offizielle Version nicht glauben. Als die Lehrerin versucht, mehr herauszufinden, wird sie vom Schuldirektor zur Rede gestellt und angewiesen, ihre Nachforschungen zu unterlassen. Diese Erfahrung bewegt sie dazu, ihre Flucht in den Westen voranzutreiben, die ihr noch im selben Jahr gelingt.
Der Leichnam von Jörg Hartmann wird schon vor der Benachrichtigung der Angehörigen eingeäschert und auf dem Friedhof Baumschulenweg in Berlin-Treptow anonym bestattet. Später kann seine Großmutter erwirken, dass die Urne umgebettet wird und einen Grabstein bekommt.
Jörg Hartmann war, wie sich Ursula Mörs erinnert, ein stilles und schüchternes Kind, klein und schmal, mit blondem Haar und hellblauen Augen. Den schulischen Anforderungen gerecht zu werden, sei ihm nicht leichtgefallen. Umso mehr habe er sich gefreut, wenn er gelobt worden sei. Um die Erinnerung an das Schicksal ihres Schülers wachzuhalten, setzt sie sich für den Bau eines Denkmals ein, das 1999 an der Kiefholzstraße eingeweiht wird.
Im November 1997 spricht das Landgericht Berlin einen ehemaligen Grenzsoldaten des Totschlags an Jörg Hartmann und Lothar Schleusener schuldig und verurteilt ihn zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten. [11] Der Angeklagte hat gestanden, dass er am 14. März 1966 zusammen mit einem Grenzer, der inzwischen verstorben ist, auf die beiden Kinder geschossen hat. [12]
Text: Christine Brecht
In der DDR wird das wahre Geschehen verschleiert, weil die militärisch und politisch Verantwortlichen nicht zugeben wollen, dass an der Mauer auf Kinder geschossen worden ist. Den Angehörigen wird vorgegaukelt, Jörg Hartmann und Lothar Schleusener seien tödlich verunglückt. Spuren werden beseitigt und nur wenige Dokumente, die das Gewaltverbrechen bezeugen, sind überliefert. Doch im Laufe der 1990er Jahre gelingt es den Mitarbeitern der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, die Tatsachen ans Licht zu bringen. [2] Denn die Schüsse, denen die Jungen zum Opfer gefallen sind, werden seinerzeit auch im angrenzenden West-Berliner Bezirk Neukölln registriert. [3]
Auch schon damals gibt es Hinweise, wonach sie zwei Kindern gegolten haben, eine Information, die westlichen Ermittlungsunterlagen zufolge aus einer »zuverlässigen Quelle« im Ost-Berliner Volkspolizei-Krankenhaus stammt. [4] Rundfunk und Presse machen die Nachricht bereits im März 1966 publik. In der Nähe des S-Bahnhofs Plänterwald, so wird vermeldet, hätten Kinder versucht, nach West-Berlin zu gelangen. Dabei seien sie entdeckt und sofort unter gezieltes Maschinenpistolenfeuer genommen worden. [5] Auf unbekannten Wegen wird sogar der Name eines Opfers im Westen aktenkundig: Jörg Hartmann. [6] Jörg Hartmann lebt mit zwei jüngeren Geschwistern im Haushalt seiner Großmutter in der Schreinerstraße in Berlin-Friedrichshain. Am Morgen des 14. März 1966 verlässt er die kleine Hinterhauswohnung, um Brötchen zu holen, danach bleibt der Zehnjährige spurlos verschwunden. Als im Rundfunksender RIAS die Meldung kam, zwei Kinder seien an der Mauer erschossen worden, habe sie sofort Verdacht geschöpft, erinnert sich Ursula Mörs, die ehemalige Klassenlehrerin von Jörg Hartmann, der in der Grundschule an der Rigaer Straße die dritte Klasse besucht. [7] Durch die Radiomeldung alarmiert, hört sie sich in ihrer Klasse um. Jörg habe erzählt, dass er zu seinem Vater nach West-Berlin wolle, berichten seine Klassenkameraden. Um der Sache nachzugehen, sucht sie die Großmutter des Jungen auf. Von ihr erfährt sie, dass Jörg seinen Vater nie kennen gelernt, sich aber kurz vor seinem Verschwinden unter einem Vorwand nach dessen Adresse im Westteil der Stadt erkundigt habe.
Jörg Hartmanns Mutter ist psychisch krank und kann sich nicht selbst um ihre Kinder kümmern. Deshalb wachsen die Geschwister bei der Großmutter auf. [8] Als Jörg nicht mehr nach Hause kommt, macht sich die Großmutter große Sorgen. Noch am selben Abend geht sie zur Volkspolizei und meldet ihren Enkel als vermisst, erhält aber keinerlei Auskünfte darüber, was ihm zugestoßen ist. Die Nachricht, dass an der Mauer auf zwei Kinder geschossen worden sei, versetzt die Großmutter in Angst. Dass Jörg an diesem Tag mit Lothar Schleusener unterwegs war, weiß sie allerdings nicht. Die beiden Jungen kennen sich von klein auf, weil sie in der gleichen Gegend gewohnt haben, bevor Jörg und seine Geschwister zur Großmutter gezogen sind.
Es ist ungefähr 19.15 Uhr, als die beiden Jungen an diesem Abend in der Nähe der Kleingartenkolonie »Sorgenfrei« von Grenzsoldaten entdeckt werden. So geht es zumindest aus dem Bericht hervor, den der Ost-Berliner Stadtkommandant SEDPolitbüromitglied Erich Honecker erstattet, der als Leiter der SED-Sicherheitsabteilung und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR für die »Staatsgrenze« zuständig ist. [9] Die Grenzposten, so besagt der Bericht, hätten »zwei Personen, die die Hinterlandsperre überwunden hatten, als Silhouette erkannt«. Nachdem sie auf einen Warnschuss nicht reagiert hätten, sei das Feuer eröffnet worden.
Zwei Wochen später erhält die Großmutter von Jörg Hartmann die Todesnachricht. Ihr Enkel sei ertrunken, teilt ihr die Ost-Berliner Generalstaatsanwaltschaft mit, seine Leiche sei mit Schiffsschraubenverletzungen am 17. März in Köpenick aus einem See geborgen worden. Doch die Familie glaubt diese Version nicht. »Unserer Meinung nach müssen unsere hier gleich auf sie geschossen haben«, informiert eine Tante die Verwandtschaft in Australien. »Sie haben Mutti (seine Großmutter, d. Hg.) und Uschi (seine Mutter, d. Hg.) zur Polizei bestellt und ihnen gedroht, dass sie gar nichts verlauten lassen sollen und haben ihr da allerhand Märchen erzählt. Sie konnten doch unmöglich zugeben, dass sie jetzt schon auf Kinder schießen.« [10]
Auch Ursula Mörs mag die offizielle Version nicht glauben. Als die Lehrerin versucht, mehr herauszufinden, wird sie vom Schuldirektor zur Rede gestellt und angewiesen, ihre Nachforschungen zu unterlassen. Diese Erfahrung bewegt sie dazu, ihre Flucht in den Westen voranzutreiben, die ihr noch im selben Jahr gelingt.
Der Leichnam von Jörg Hartmann wird schon vor der Benachrichtigung der Angehörigen eingeäschert und auf dem Friedhof Baumschulenweg in Berlin-Treptow anonym bestattet. Später kann seine Großmutter erwirken, dass die Urne umgebettet wird und einen Grabstein bekommt.
Jörg Hartmann war, wie sich Ursula Mörs erinnert, ein stilles und schüchternes Kind, klein und schmal, mit blondem Haar und hellblauen Augen. Den schulischen Anforderungen gerecht zu werden, sei ihm nicht leichtgefallen. Umso mehr habe er sich gefreut, wenn er gelobt worden sei. Um die Erinnerung an das Schicksal ihres Schülers wachzuhalten, setzt sie sich für den Bau eines Denkmals ein, das 1999 an der Kiefholzstraße eingeweiht wird.
Im November 1997 spricht das Landgericht Berlin einen ehemaligen Grenzsoldaten des Totschlags an Jörg Hartmann und Lothar Schleusener schuldig und verurteilt ihn zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten. [11] Der Angeklagte hat gestanden, dass er am 14. März 1966 zusammen mit einem Grenzer, der inzwischen verstorben ist, auf die beiden Kinder geschossen hat. [12]
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. Karl-Heinz Baum, »›Pflichtgefühl‹ kostet zwei Kindern das Leben«, in: Frankfurter Rundschau, 20.11.1997.
[2]
Vgl. Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (Hg.), Jahresbericht 1997, Berlin 1998. Vgl. auch Barbara Zibler, Kinder als Opfer der Mauer, in: Falk Blask (Hg.), Geteilte Nachbarschaft. Erkundungen im ehemaligen Grenzgebiet Treptow und Neukölln, Berlin 1999, S. 75–81, sowie den Dokumentarfilm »Geboren 1955 – Erschossen 1966. Der Tod eines Zehnjährigen an der Berliner Mauer«, Autoren: Simone Warias / Friedrich Herkt, Vidicon / MDR 2001.
[3]
Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei / R 217 betr. Schüsse im SBS, 15.3.1966, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o. Pag., sowie Schlußbericht der West-Berliner Polizei, 1.4.1966, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 568 / 92, Bd. 1, Bl. 21–22.
[4]
Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei betr. Grenzzwischenfall vom 14.3.1966 gegen 19.00 Uhr in Berlin-Neukölln, Höhe Sackführerdamm, 16.3.1966, in: Ebd., Bl. 17.
[5]
»Schüsse auf Kinder«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.3.1966.
[6]
Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei, 21.6.1966, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 568 / 92, Bd. 1, Bl. 38–39.
[7]
Vgl. Gespräch von Christine Brecht mit Ursula Mörs, der Klassenlehrerin von Jörg Hartmann, 7.9.2006.
[8]
Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung des Bruders von Jörg Hartmann durch die Berliner Polizei, 19.10.1992, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 568 / 92, Bd. 1, Bl. 105– 111.
[9]
Vgl. Meldung der NVA / Stadtkommandant Poppe an SED-Politbüromitglied Erich Honecker betr. Verhinderung eines Grenzdurchbruches durch Anwendung der Schußwaffe, 14.3.1966, in: BArch, VA-07 / 8373, Bl. 101– 102.
[10]
Brief von Ingrid, einer Tante von Jörg Hartmann aus Ost-Berlin, an seine nach Adelaide/Australien ausgewanderte Großtante Clara, 8.10.1966, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer.
[11]
Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 19.11.1997, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 568 / 92, Bd. 5, Bl. 197–219, hier Bl. 198.
[12]
Vgl. Niederschrift der Vernehmung von Siegfried B. durch die Polizei in Aschersleben, 1.2.1996, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 568 / 92, Bd. 3, Bl. 556–557.