geboren am 10. April 1949
erschossen am 16. Dezember 1966
in der Nähe des Teltower Hafens
am Außenring zwischen Kleinmachnow (Kreis Potsdam-Land) und Berlin-Zehlendorf
„Ihr Sohn hat sich provokatorisch an einem Grenzdurchbruch beteiligt, wurde dabei verletzt und ist seinen Verletzungen erlegen." Wie ein Schlag treffen Helmut und Martha Kube diese Worte kurz vor dem Weihnachtsfest 1966. Sie fallen auf dem Volkspolizei- revier in Kleinmachnow.„Diesen Satz vergesse ich nie", schreibt der Vater gut 23 Jahre später, im Januar 1990, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen. [1] Näheres über die Todesumstände ihres Sohnes Karl-Heinz Kube hätten sie weder damals noch zu einem späteren Zeitpunkt erfahren. Ob denn auf West-Berliner Seite möglicherweise ein Gedenkkreuz, eventuell mit der Aufschrift „Unbekannt", an seinen Sohn erinnere, ersucht der Vater den Regierenden Bürgermeister um Auskunft. Nach gut einem Jahr, Helmut Kube hat zwischenzeitlich sein Schreiben erneuert, wird er an die Arbeitsgemeinschaft 13. August verwiesen. [2] Da der Todesfall im Westen nicht registriert worden sei, rät diese, beim Polizeipräsidenten in Berlin Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. [3] Nach seinen mehr als einjährigen Bemühungen, den Tod seines Sohnes aufzuklären, „auf dem Nullpunkt" angekommen, wie er schreibt, folgt Helmut Kube gleichwohl diesem Vorschlag. [4] Die umfangreichen polizeilichen Ermittlungen, die nun einsetzen, führen im März 1993 zu einer Anklage gegen die mutmaßlichen Todesschützen seines Sohnes.
Karl-Heinz Kube, geboren am 10. April 1949, wächst mit seinen vier Geschwistern im südlich von Berlin gelegenen Ruhlsdorf bei Teltow auf. Nach dem Besuch der Schule in Stahnsdorf arbeitet er ab November 1964 im VEB Industriewerk Ludwigsfelde. Seit April 1966 ist er dort als Elektrokarrenfahrer beschäftigt. [5]
Karl-Heinz Kube ist 17 Jahre alt, als er im Herbst 1966 zusammen mit seinem 18-jährigen Freund Detlev S. beginnt, Pläne für eine Flucht nach West-Berlin zu schmieden. [6] Erst überlegen sie, den Teltowkanal zu durchschwimmen, dann, mit einem gestohlenen Auto die Grenze zu durchbrechen, selbst eine Flucht mit einem Segelflugzeug wird erwogen. Schließlich einigen sie sich, die Flucht im Raum Kleinmachnow zu versuchen. „Kalle", wie ihn seine Freunde nennen, stößt sich politisch an mancherlei in seinem Umfeld. Er halte Jugendliche vom Eintritt in die Jugendorganisation der Partei, die FDJ, ab und spreche sich gegen Spenden für den kommunistischen Vietcong im Vietnamkrieg aus, erfahren wir über ihn aus Stasi-Unterlagen. [7] Was ihm und seinen Freunden jedoch gefällt, mag wiederum der Staat, in dem er lebt, überhaupt nicht: westliche Rockmusik, insbesondere von den Beatles, die zu dieser Zeit bei der DDR-Obrigkeit als „Gammlergruppe" verpönt sind und deren Musik deshalb verboten ist. In seinem Betrieb eckt er mit seiner unbotmäßigen Haltung bei der SED-Parteileitung an; aus politischen Gründen droht ihm sogar die Einweisung in einen „Jugendwerkhof", eine Art Gefängnis für Jugendliche. [8]
Sein Freund wiederum sieht in der DDR seine berufliche Laufbahn verbaut: Er möchte Schiffskoch werden, doch seine Bewerbungen werden abgelehnt – vermutlich weil Vater und Bruder im Westen leben. Statt die Meere bereisen zu können, muss er eine Ausbildungsstelle als Koch in der HO-Gaststätte „Stahnsdorfer Hof" annehmen.
In den Abendstunden des 16. Dezember 1966 fahren die beiden Jugendlichen mit einem Motorroller Marke „Berlin" von Ruhlsdorf in das Grenzgebiet am Erlenweg in Kleinmachnow, in der Nähe des Teltower Hafens. [9] So kurz vor den Feiertagen, glauben sie, sei ein großer Teil der Grenzsoldaten bereits im Weihnachtsurlaub und die Grenze nicht besonders stark bewacht – was sich als verhängnisvoller Irrtum erweist.
Karl-Heinz Kube hat im Potsdamer Konsum-Kaufhaus zwei Seitenschneider für die Flucht besorgt, um Drahthindernisse beseitigen zu können. Es gelingt den beiden jungen Männern, eine erste Mauer, Stolperdrähte und eine Stacheldrahtsperre zu überwinden und in den 12 bis 15 Meter breiten Todesstreifen vorzudringen. Gegen 21.45 Uhr, als sie einen Sperrgraben erreicht haben, – und sie nur noch ein letztes Sperrelement, ein etwa zwei- bis zweieinhalb Meter hoher Eisengeflechtszaun, von West-Berlin trennt –, werden sie von Grenzsoldaten bemerkt und unter Beschuss genommen. Die Beiden geben das Fluchtvorhaben auf und retten sich in einen Graben, der ihnen zugleich Deckung und die Möglichkeit des Rückzuges verspricht. Doch ihre Flucht vor dem einen treibt sie in das Schussfeld eines zweiten Postenpaares, das Dauerfeuer eröffnet. Beide Flüchtlinge laufen in dem Graben mehrfach hin und her, um den Schüssen zu entgehen. Doch Karl-Heinz Kube wird von zwei Kugeln in den Kopf und in die Brust tödlich getroffen. Detlev S. wird unverletzt festgenommen und in das Stasi-Untersuchungsgefängnis in Potsdam eingeliefert.
In seiner Vernehmung durch die Stasi gibt Detlev S. im Gefängnis seine und Karl-Heinz Kubes Überzeugung zu Protokoll, „daß es gegen die Prinzipien der Menschlichkeit verstößt, daß es den Bürgern der DDR durch die ‚Mauer’ untersagt wird, ihre Angehörigen im anderen Teil Deutschlands zu besuchen. Ich finde eine solche Maßnahme unmenschlich. Ich lehne sie deshalb ab, weil ich mich dadurch in meiner persönlichen Freiheit eingeschränkt fühle." [10] Karl-Heinz Kube, schreibt er während der Haft in einem handschriftlichen Bericht über ihre „Festnahme" nieder, sei „von zwei Grenzsoldaten bis an die ‚Mauer’, die etwa 1,50 Meter hoch war, getragen und von dort hinunter geworfen [worden, d. Vf.], wobei er noch mit den Sachen im Stacheldraht hängen blieb und dadurch unglücklich gefallen ist. Wobei noch zu bemerken ist, daß er sehr viel Blut verloren hatte und ohnmächtig war. (...) Mein Freund wurde nach einiger Zeit auf einen LKW geworfen und ich wurde dann mit einem PKW zur Grenzwache gebracht. Wobei ich immer noch von den Worten begleitet wurde: ‚Ihr Schweine, Euch müßte man eins in die Fresse hauen.’" [11]
Dass Karl-Heinz Kube getötet wurde, weiß Detlev S. nicht, als er diesen Bericht verfasst; noch wochenlang verschweigt es ihm die Stasi im Gefängnis. Am 2. März 1967 verurteilt ihn das Kreisgericht Potsdam-Stadt unter seinem berüchtigten „Volksrichter" Hermann Wohlgethan wegen „gemeinschaftlich versuchtem Grenzdurchbruch in Tateinheit mit vollendetem gemeinschaftlich begangenem Vergehen gegen die Verordnung zum Schutze der Staatsgrenze" zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis. [12] Der Motorroller von Karl-Heinz Kube wird als „Tatwaffe" eingezogen. Nach seiner Freilassung ist Detlev S. durch seinen Fluchtversuch abgestempelt und wird bis zum Ende der DDR beruflich diskriminiert.
Gegenüber den Eltern von Karl-Heinz Kube verschweigt die Staatssicherheit die Umstände seines Todes. Vater Helmut Kube wird am 21. Dezember 1966 auf dem Volkspolizei-Revier in Kleinmachnow genötigt, folgende Erklärung zu unterschreiben: „Mir wurde am heutigen Tage durch Beauftragte der Staatsanwaltschaft Potsdam mitgeteilt, daß mein Sohn Kube, Karl-Heinz, bei einem von ihm verschuldeten Grenzdurchbruchsversuch tödlich verunglückt ist. Ich erkläre mich bereit, meinen Sohn feuerbestatten zu lassen. Dazu wurde mir mitgeteilt, daß dies im Krematorium Berlin-Baumschulenweg erfolgen wird." [13] Den Eltern wird es verwehrt, ihren Sohn noch einmal zu sehen. Auf dem Postweg erhalten sie die Urne mit seiner Asche. Die Ungewissheit, was mit ihrem Sohn wirklich geschah, ob er leiden musste, wie er gestorben ist, lässt der Mutter zeitlebens keine Ruhe. Sie stirbt im Dezember 1983 mit nur 54 Jahren, kurz vor dem Todestag ihres Sohnes. [14]
Die vier Grenzsoldaten, die zusammen 40 Schüsse auf Karl-Heinz Kube und Detlev S. abgegeben haben, werden am 31. Dezember 1966 mit der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst" bzw. mit dem „Leistungsabzeichen der Grenztruppen" dekoriert und an ein kaltes Büfett gebeten. [15] Im März 1993 werden sie des gemeinschaftlich vollendeten und versuchten Totschlags angeklagt, am 1. September 1993 von einem Jugendsenat des Bezirksgerichts Potsdam von diesem Vorwurf freigesprochen. [16] Es habe in der Hauptverhandlung nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden können, welcher der Angeklagten die tödlichen Schüsse abgab, heißt es im Urteil. [17]
Schließlich fehle für die Annahme jeder Ansatzpunkt, dass die Angeklagten hinsichtlich der Tötung von Karl-Heinz Kube „bewußt und gewollt zusammengewirkt" hätten. Das Gericht billigt den ehemaligen Grenzsoldaten vielmehr zu, entsprechend ihrer Behauptungen gehandelt zu haben, nämlich im Ernstfall der Befehlslage nur zum Schein zu entsprechen und Flüchtlinge nicht töten zu wollen, weshalb sie alle keinen gezielten, sondern nur „Warnschüsse" abgegeben hätten. Diese Einlassungen der Angeklagten seien „nachvollziehbar" und könnten „nicht als bloße Schutzbehauptung qualifiziert werden". [18] Für das Urteil fällt nicht ins Gewicht, dass Karl-Heinz Kube und Detlev S. zum Zeitpunkt der tödlichen Schüsse ihr Fluchtvorhaben aufgegeben hatten und es einer Überzahl von vier Grenzsoldaten hätte möglich sein müssen, zwei unbewaffnete, wehrlose Flüchtlinge auch ohne Anwendung der Schusswaffe festzunehmen.
Die Schuld der Angeklagten habe sich mit dem Freispruch nicht erledigt, kommentiert die jüngere Schwester von Karl-Heinz Kube das Urteil: „Sie sagen, sie hätten es nicht gewollt und sie hätten es nicht gewußt. Aber sie haben geschossen! Sie sagen, sie hätten nicht gezielt. Aber sie haben getroffen! Und jeder von ihnen wußte, wenn er trifft, kann er töten. Und sie haben getötet!" [19]
Karl-Heinz Kube, so wollen es die Ruhlsdorfer Jugendlichen im Winter 1966, soll nicht in Vergessenheit geraten. Doch als die Staatssicherheit in Erfahrung bringt, dass seine Freunde im Ruhlsdorfer Jugend-Klubhaus zu seinem Andenken ein Bild von Karl-Heinz Kube aufhängen und geschlossen an seiner Beisetzung teilnehmen wollen, nimmt die Stasi massiv Einfluss, um dies zu verhindern. [20]
Nicht verhindern kann sie jedoch, dass eine Lehrerin auf einer Schulkonferenz die Frage stellt, wie sie sich zum Tod von Karl-Heinz Kube verhalten soll – wodurch allen Lehrern im Raum Teltow-Stahnsdorf bekannt wird, dass er bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. [21]
Ein unscheinbares Holzkreuz am Rande der Berlepschstraße in Berlin-Zehlendorf erinnert heute an Karl-Heinz Kube, der im Alter von 17 Jahren getötet wurde, nur weil er von Deutschland-Ost nach Deutschland-West gelangen wollte.
Text: Hans-Hermann Hertle
Karl-Heinz Kube ist 17 Jahre alt, als er im Herbst 1966 zusammen mit seinem 18-jährigen Freund Detlev S. beginnt, Pläne für eine Flucht nach West-Berlin zu schmieden. [6] Erst überlegen sie, den Teltowkanal zu durchschwimmen, dann, mit einem gestohlenen Auto die Grenze zu durchbrechen, selbst eine Flucht mit einem Segelflugzeug wird erwogen. Schließlich einigen sie sich, die Flucht im Raum Kleinmachnow zu versuchen. „Kalle", wie ihn seine Freunde nennen, stößt sich politisch an mancherlei in seinem Umfeld. Er halte Jugendliche vom Eintritt in die Jugendorganisation der Partei, die FDJ, ab und spreche sich gegen Spenden für den kommunistischen Vietcong im Vietnamkrieg aus, erfahren wir über ihn aus Stasi-Unterlagen. [7] Was ihm und seinen Freunden jedoch gefällt, mag wiederum der Staat, in dem er lebt, überhaupt nicht: westliche Rockmusik, insbesondere von den Beatles, die zu dieser Zeit bei der DDR-Obrigkeit als „Gammlergruppe" verpönt sind und deren Musik deshalb verboten ist. In seinem Betrieb eckt er mit seiner unbotmäßigen Haltung bei der SED-Parteileitung an; aus politischen Gründen droht ihm sogar die Einweisung in einen „Jugendwerkhof", eine Art Gefängnis für Jugendliche. [8]
Sein Freund wiederum sieht in der DDR seine berufliche Laufbahn verbaut: Er möchte Schiffskoch werden, doch seine Bewerbungen werden abgelehnt – vermutlich weil Vater und Bruder im Westen leben. Statt die Meere bereisen zu können, muss er eine Ausbildungsstelle als Koch in der HO-Gaststätte „Stahnsdorfer Hof" annehmen.
In den Abendstunden des 16. Dezember 1966 fahren die beiden Jugendlichen mit einem Motorroller Marke „Berlin" von Ruhlsdorf in das Grenzgebiet am Erlenweg in Kleinmachnow, in der Nähe des Teltower Hafens. [9] So kurz vor den Feiertagen, glauben sie, sei ein großer Teil der Grenzsoldaten bereits im Weihnachtsurlaub und die Grenze nicht besonders stark bewacht – was sich als verhängnisvoller Irrtum erweist.
Karl-Heinz Kube hat im Potsdamer Konsum-Kaufhaus zwei Seitenschneider für die Flucht besorgt, um Drahthindernisse beseitigen zu können. Es gelingt den beiden jungen Männern, eine erste Mauer, Stolperdrähte und eine Stacheldrahtsperre zu überwinden und in den 12 bis 15 Meter breiten Todesstreifen vorzudringen. Gegen 21.45 Uhr, als sie einen Sperrgraben erreicht haben, – und sie nur noch ein letztes Sperrelement, ein etwa zwei- bis zweieinhalb Meter hoher Eisengeflechtszaun, von West-Berlin trennt –, werden sie von Grenzsoldaten bemerkt und unter Beschuss genommen. Die Beiden geben das Fluchtvorhaben auf und retten sich in einen Graben, der ihnen zugleich Deckung und die Möglichkeit des Rückzuges verspricht. Doch ihre Flucht vor dem einen treibt sie in das Schussfeld eines zweiten Postenpaares, das Dauerfeuer eröffnet. Beide Flüchtlinge laufen in dem Graben mehrfach hin und her, um den Schüssen zu entgehen. Doch Karl-Heinz Kube wird von zwei Kugeln in den Kopf und in die Brust tödlich getroffen. Detlev S. wird unverletzt festgenommen und in das Stasi-Untersuchungsgefängnis in Potsdam eingeliefert.
In seiner Vernehmung durch die Stasi gibt Detlev S. im Gefängnis seine und Karl-Heinz Kubes Überzeugung zu Protokoll, „daß es gegen die Prinzipien der Menschlichkeit verstößt, daß es den Bürgern der DDR durch die ‚Mauer’ untersagt wird, ihre Angehörigen im anderen Teil Deutschlands zu besuchen. Ich finde eine solche Maßnahme unmenschlich. Ich lehne sie deshalb ab, weil ich mich dadurch in meiner persönlichen Freiheit eingeschränkt fühle." [10] Karl-Heinz Kube, schreibt er während der Haft in einem handschriftlichen Bericht über ihre „Festnahme" nieder, sei „von zwei Grenzsoldaten bis an die ‚Mauer’, die etwa 1,50 Meter hoch war, getragen und von dort hinunter geworfen [worden, d. Vf.], wobei er noch mit den Sachen im Stacheldraht hängen blieb und dadurch unglücklich gefallen ist. Wobei noch zu bemerken ist, daß er sehr viel Blut verloren hatte und ohnmächtig war. (...) Mein Freund wurde nach einiger Zeit auf einen LKW geworfen und ich wurde dann mit einem PKW zur Grenzwache gebracht. Wobei ich immer noch von den Worten begleitet wurde: ‚Ihr Schweine, Euch müßte man eins in die Fresse hauen.’" [11]
Dass Karl-Heinz Kube getötet wurde, weiß Detlev S. nicht, als er diesen Bericht verfasst; noch wochenlang verschweigt es ihm die Stasi im Gefängnis. Am 2. März 1967 verurteilt ihn das Kreisgericht Potsdam-Stadt unter seinem berüchtigten „Volksrichter" Hermann Wohlgethan wegen „gemeinschaftlich versuchtem Grenzdurchbruch in Tateinheit mit vollendetem gemeinschaftlich begangenem Vergehen gegen die Verordnung zum Schutze der Staatsgrenze" zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis. [12] Der Motorroller von Karl-Heinz Kube wird als „Tatwaffe" eingezogen. Nach seiner Freilassung ist Detlev S. durch seinen Fluchtversuch abgestempelt und wird bis zum Ende der DDR beruflich diskriminiert.
Gegenüber den Eltern von Karl-Heinz Kube verschweigt die Staatssicherheit die Umstände seines Todes. Vater Helmut Kube wird am 21. Dezember 1966 auf dem Volkspolizei-Revier in Kleinmachnow genötigt, folgende Erklärung zu unterschreiben: „Mir wurde am heutigen Tage durch Beauftragte der Staatsanwaltschaft Potsdam mitgeteilt, daß mein Sohn Kube, Karl-Heinz, bei einem von ihm verschuldeten Grenzdurchbruchsversuch tödlich verunglückt ist. Ich erkläre mich bereit, meinen Sohn feuerbestatten zu lassen. Dazu wurde mir mitgeteilt, daß dies im Krematorium Berlin-Baumschulenweg erfolgen wird." [13] Den Eltern wird es verwehrt, ihren Sohn noch einmal zu sehen. Auf dem Postweg erhalten sie die Urne mit seiner Asche. Die Ungewissheit, was mit ihrem Sohn wirklich geschah, ob er leiden musste, wie er gestorben ist, lässt der Mutter zeitlebens keine Ruhe. Sie stirbt im Dezember 1983 mit nur 54 Jahren, kurz vor dem Todestag ihres Sohnes. [14]
Die vier Grenzsoldaten, die zusammen 40 Schüsse auf Karl-Heinz Kube und Detlev S. abgegeben haben, werden am 31. Dezember 1966 mit der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst" bzw. mit dem „Leistungsabzeichen der Grenztruppen" dekoriert und an ein kaltes Büfett gebeten. [15] Im März 1993 werden sie des gemeinschaftlich vollendeten und versuchten Totschlags angeklagt, am 1. September 1993 von einem Jugendsenat des Bezirksgerichts Potsdam von diesem Vorwurf freigesprochen. [16] Es habe in der Hauptverhandlung nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden können, welcher der Angeklagten die tödlichen Schüsse abgab, heißt es im Urteil. [17]
Schließlich fehle für die Annahme jeder Ansatzpunkt, dass die Angeklagten hinsichtlich der Tötung von Karl-Heinz Kube „bewußt und gewollt zusammengewirkt" hätten. Das Gericht billigt den ehemaligen Grenzsoldaten vielmehr zu, entsprechend ihrer Behauptungen gehandelt zu haben, nämlich im Ernstfall der Befehlslage nur zum Schein zu entsprechen und Flüchtlinge nicht töten zu wollen, weshalb sie alle keinen gezielten, sondern nur „Warnschüsse" abgegeben hätten. Diese Einlassungen der Angeklagten seien „nachvollziehbar" und könnten „nicht als bloße Schutzbehauptung qualifiziert werden". [18] Für das Urteil fällt nicht ins Gewicht, dass Karl-Heinz Kube und Detlev S. zum Zeitpunkt der tödlichen Schüsse ihr Fluchtvorhaben aufgegeben hatten und es einer Überzahl von vier Grenzsoldaten hätte möglich sein müssen, zwei unbewaffnete, wehrlose Flüchtlinge auch ohne Anwendung der Schusswaffe festzunehmen.
Die Schuld der Angeklagten habe sich mit dem Freispruch nicht erledigt, kommentiert die jüngere Schwester von Karl-Heinz Kube das Urteil: „Sie sagen, sie hätten es nicht gewollt und sie hätten es nicht gewußt. Aber sie haben geschossen! Sie sagen, sie hätten nicht gezielt. Aber sie haben getroffen! Und jeder von ihnen wußte, wenn er trifft, kann er töten. Und sie haben getötet!" [19]
Karl-Heinz Kube, so wollen es die Ruhlsdorfer Jugendlichen im Winter 1966, soll nicht in Vergessenheit geraten. Doch als die Staatssicherheit in Erfahrung bringt, dass seine Freunde im Ruhlsdorfer Jugend-Klubhaus zu seinem Andenken ein Bild von Karl-Heinz Kube aufhängen und geschlossen an seiner Beisetzung teilnehmen wollen, nimmt die Stasi massiv Einfluss, um dies zu verhindern. [20]
Nicht verhindern kann sie jedoch, dass eine Lehrerin auf einer Schulkonferenz die Frage stellt, wie sie sich zum Tod von Karl-Heinz Kube verhalten soll – wodurch allen Lehrern im Raum Teltow-Stahnsdorf bekannt wird, dass er bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. [21]
Ein unscheinbares Holzkreuz am Rande der Berlepschstraße in Berlin-Zehlendorf erinnert heute an Karl-Heinz Kube, der im Alter von 17 Jahren getötet wurde, nur weil er von Deutschland-Ost nach Deutschland-West gelangen wollte.
Text: Hans-Hermann Hertle
[1]
Schreiben von Helmut Kube an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, 28.1.1990, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 146/92, Bd. 1, Bl. 3-6, Zitat Bl. 4.
[2]
Schreiben der CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin an Helmut Kube, 2.1.1991, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 146/92, Bd. 1, Bl. 7.
[3]
Schreiben von Helmut Kube an die Arbeitsgemeinschaft 13. August, 6.2.1991, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 146/92, Bd. 1, Bl. 8; Schreiben der Arbeitsgemeinschaft 13. August an Helmut Kube, 13.2.1991, in: Ebd., Bl. 9.
[4]
Schreiben von Helmut Kube an den Polizeipräsidenten von Berlin, 24.2.1991, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 146/92, Bd. 1, Bl. 10-11.
[5]
Vgl. Information des MfS/HA IX/9, 18.12.1966, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 12464, Bl. 11 f.
[6]
Vgl. Urteil des Kreisgerichts Potsdam-Stadt in der Strafsache gegen Detlev S., Az. S 48/67 St., 2.3.1967, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 477/67, StA 3063, Bd. 2, Bl. 29-34.
[7]
Vgl. Einzel-Information Nr. 977/88 des MfS/ZAIG über einen verhinderten schweren Grenzdurchbruch im Raum Kleinmachnow/Hafen Teltow/Potsdam am 16.12.1966, 19.12.1966, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 1307, Bl. 33-36, hier Bl. 35.
[8]
Ebd.
[9]
Zum Geschehensablauf vgl. Urteil des Bezirksgerichts Potsdam in der Strafsache gegen Werner H., Helmut K., Horst M. und Helmut L., Az. 60/1 Js 146/92, vom 1.9.1993, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 146/92, Bd. 2, Bl. 452-455; Abschlussbericht des Kommandeurs der 2. Grenzbrigade über die Verhinderung eines schweren Grenzdurchbruchs mit Anwendung der Schusswaffe, 17.12.1966, in: BArch, VA-07/6016, Bl. 9-14.
[10]
Protokoll der Vernehmung von Detlev S. [durch die BVfS Potsdam/Abt. IX], 21.12.1966, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 474/67, Bd. 1, Bl. 26-28, Zitat Bl. 28.
[11]
Handschriftlicher Bericht von Detlev S. über die Behandlung bei seiner Festnahme, Potsdam, den 21.12.1966, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 474/67, Bd. 1, Bl. 60.
[12]
Urteil des Kreisgerichts Potsdam-Stadt in der Strafsache gegen Detlev S., Az. S 48/67 St., 2.3.1967, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 477/67, StA 3063, Bd. 2, Bl. 29-34.
[13]
Dem Vater von Karl-Heinz Kube von der Stasi abgenötigte Erklärung, 21.12.1966, in: BStU, Ast. Potsdam, AP 1111/76, Bl. 40-41.
[14]
Karola Linow, „Soll ihr Schuldbewußtsein die einzige Strafe sein?" Märkische Allgemeine Zeitung, 8.9.1993.
[15]
Vgl. „Medaille, kaltes Buffett – und kein Wort drüber!" Märkische Allgemeine Zeitung, 20.8.1993.
[16]
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Potsdam gegen Werner H., Helmut K., Horst M. und Helmut L., Az. 60/1 Js 146/92, vom 2.3.1993, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 146/92, Bd. 2, Bl. 280-324; Urteil des Bezirksgerichts Potsdam in der Strafsache gegen Werner H., Helmut K., Horst M. und Helmut L., Az. 60/1 Js 146/92, vom 1.9.1993, in: Ebd., Bl. 447-459.
[17]
Urteil des Bezirksgerichts Potsdam in der Strafsache gegen Werner H., Helmut K., Horst M. und Helmut L., Az. 60/1 Js 146/92, vom 1.9.1993, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 146/92, Bd. 2, Bl. 455.
[18]
Ebd., Bl. 458.
[19]
Karola L., „Soll ihr Schuldbewußtsein die einzige Strafe sein?" Märkische Allgemeine Zeitung, 8.9.1993.
[20]
Bericht des MfS/KD Potsdam über Diskussionen in Ruhlsdorf zum Ableben des Grenzverletzers Kube, Karl-Heinz, Potsdam, 6.1.1967, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 474/67, Bd. 1, Bl. 67-69.
[21]
Ebd., Bl. 69.