geboren am 30. November 1941
erschossen am 15. November 1968
im Schlosspark Babelsberg
am Außenring zwischen Klein Glienicke (Kreis Potsdam-Stadt) und Berlin-Zehlendorf
Hinter dem Baum hat sich Horst Körner versteckt, ein 21-jähriger Wachtmeister der Volkspolizei, der mit seiner geladenen Maschinenpistole auf der Flucht nach West-Berlin ist. Als er sich entdeckt sieht, eröffnet Horst Körner das Feuer auf das Armeefahrzeug. Durch die Frontscheibe nimmt er den Fahrer aus kurzer Entfernung mit Dauerfeuer unter Beschuss.Rolf Henniger, geboren am 30. November 1941 im ostthüringischen Saalfeld, erlernt nach der Schulzeit bei der Deutschen Reichsbahn den Beruf eines Lokomotivführers. Er ist frisch verheiratet, als er im November 1967 die Einberufung zum Wehrdienst bei den Grenztruppen erhält. Nach seiner Ausbildung wird er als Militärkraftfahrer und Grenzposten in einem Grenzregiment in Potsdam-Babelsberg eingesetzt. Wegen „vorbildlicher Leistungen" wird Rolf Henniger zum 19. Jahrestag der DDR im Oktober 1968 vorfristig zum Gefreiten befördert, wie dies aus solchen Anlässen nicht unüblich ist. [1]
Zwei Wochen vor seinem 27. Geburtstag, am Abend des 15. November 1968, chauffiert Rolf Henniger seinen Zugführer in einem Trabant Kübel auf Kontrollstreife durch das Grenzgebiet am Schlosspark Babelsberg. Sein Vorgesetzter bleibt der einzige überlebende Zeuge des nun folgenden Geschehens. Kurz vor dem Kontrollpunkt an der Brücke, die über den Teltowkanal in die Enklave Klein Glienicke führt, entdeckt der Zugführer hinter einem Baum einen Uniformierten, von dem er zunächst annimmt, es handele sich um den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei von Klein Glienicke. Da der ganze Ort Grenzgebiet ist, erhält Rolf Henniger den Befehl, den Rückwärtsgang einzulegen und 15 Meter zurückzufahren. Schon während des Zurücksetzens ruft der Zugführer den unbekannten Uniformierten an und fragt, wer er ist. [2]
Hinter dem Baum hat sich Horst Körner versteckt, ein 21-jähriger Wachtmeister der Volkspolizei, der mit seiner geladenen Maschinenpistole auf der Flucht nach West-Berlin ist. Als er sich entdeckt sieht, eröffnet Horst Körner das Feuer auf das Armeefahrzeug. [3] Durch die Frontscheibe nimmt er den Fahrer aus kurzer Entfernung mit Dauerfeuer unter Beschuss. Von mehreren Schüssen in Kopf und Brust getroffen, bricht Rolf Henniger hinter dem Lenkrad tot zusammen. Währenddessen gelingt es dem Beifahrer, sich aus dem Fahrzeug fallen zu lassen. Er bringt seine Maschinenpistole in Anschlag und streckt Horst Körner mit mehreren Feuerstößen nieder.
So jedenfalls hält der Untersuchungsbericht der Staatssicherheit den Geschehensablauf fest, der später auch von der Staatsanwaltschaft Berlin nicht angezweifelt wird. [4] Der Öffentlichkeit allerdings werden die Details damals vorenthalten. „Ein bewaffneter Provokateur", meldet die Ost-Berliner Presseagentur ADN lediglich am folgenden Tag, habe versucht, gewaltsam die Staatsgrenze der DDR zu durchbrechen, dabei einen Grenzsoldaten tödlich verletzt und sei selbst tödlich getroffen worden. [5]
Rolf Henniger wird mit großem propagandistischem Aufwand am 21. November 1968 in seiner Heimatstadt Saalfeld beigesetzt; alles wird der Familie aus der Hand genommen. [6] Sein Sarg wird auf einem offenen LKW, eingehüllt in die Flagge der DDR und begleitet von Ehrenformationen der NVA, der örtlichen Kampfgruppen und der Sowjetarmee durch die Stadt gefahren. [7] Rolf Henniger habe mit seinem Heldenmut einen verbrecherischen Anschlag auf den Sozialismus und den Frieden vereitelt, sagt der Berliner Stadtkommandant Helmut Poppe über den Verstorbenen. „Die feige Mordtat", erklärt er weiter, erfülle "die Herzen und Hirne der Armeeangehörigen und der Werktätigen der DDR mit unbändigem Haß gegen die imperialistischen Handlanger und ihre Hintermänner." Die „Aktuelle Kamera" und andere DDR-Medien berichten. [8] Posthum wird Rolf Henniger zum Unteroffizier befördert und mit der Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Gold ausgezeichnet. Später werden das Stadion der BSG Lokomotive Saalfeld und zahlreiche Jugendkollektive in Betrieben und Schulen nach ihm benannt. [9]
Auf Anweisung des Berliner Stadtkommandanten stattet jener Zugführer, der Rolf Henniger sterben sah und Horst Körner erschoss, Hennigers Hinterbliebenen an dessen Geburtstag einen Besuch ab. Feldwebel Wolfgang B. dient nicht nur den Grenztruppen, sondern zugleich als inoffizieller Mitarbeiter unter dem Decknamen „Helmut Anton" auch der Stasi. Diese vereinbart mit ihm eine „Verhaltenslinie", wonach er die Stimmung in der Familie erkunden soll und den Angehörigen des Toten zu verschweigen hat, dass dieser von einem Volkspolizei-Wachtmeister erschossen wurde. [10] Das ist nicht ganz einfach, denn weil der Täter offiziell nicht benannt wird und auch die Frage unbeantwortet bleibt, woher er eine Waffe hatte, sind inzwischen zahllose Gerüchte und Mutmaßungen zum Tod Rolf Hennigers in Umlauf. Die Staatssicherheit sammelt und dokumentiert in den verschiedenen Saalfelder Betrieben alle ihr zugänglichen Meinungen zu dem Fall. Das Meinungsbild zeigt: Ganz allgemein fühlt man sich in Saalfeld mit Halbwahrheiten abgespeist; angesichts der abstrusen offiziellen Informationen wird spekuliert, ob nicht möglicherweise ein Kamerad von Henniger oder er selbst in den Westen fliehen wollte. [11]
Auch die Familienangehörigen hegen Zweifel an der offiziellen Version. So hat die Stasi in Erfahrung gebracht, der Stiefvater von Rolf Henniger vermute, dass sein Sohn "republikflüchtig werden wollte, was dazu geführt hätte, dass er von Angehörigen der NVA-Grenze niedergeschossen worden wäre." [12] Offenbar hat Rolf Henniger im engsten Familienkreis Fluchtabsichten offenbart, denn diese sind auch aus Saalfeld geflohenen Verwandten in Süddeutschland bekannt, die Ende 1968 die West-Berliner Polizei um Auskunft ersuchen, was am Abend des 15. November wirklich geschah. [13] Geholfen werden kann ihnen nicht, denn West-Berliner Polizeibeamte haben in dieser Nacht zwar Feuerstöße gehört, konnten ihren Anlass jedoch nicht erkennen.
Jahr für Jahr wird des Unteroffiziers Rolf Henniger zu DDR-Zeiten offiziell gedacht, sein Grab geschmückt und der Heldenmythos wachgehalten – von Militär, Partei und Staat. Doch während all der Jahre lässt engsten Familienangehörigen das Gefühl keine Ruhe, nicht zu wissen, warum und wie Rolf Henniger wirklich ums Leben kam. Erst mit der Öffnung der DDR-Archive und im Zuge der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu Beginn der 1990er Jahre treten die Hintergründe zu Tage. Ein verzweifelter DDR-Volkspolizist, der auf der Flucht einen DDR-Grenzsoldaten tötet – diese Wahrheit eignete sich weder als „Mahnung, noch wachsamer allen Anschlägen des imperialistischen Klassengegners auf die DDR und ihre Grenzen zu wehren und sie zu vereiteln" [14] noch für eine Heldengeschichte – und wurde deshalb als Staatsgeheimnis selbst vor der Familie verborgen.
Doch jener Grenzsoldat Rolf Henniger, der zum Helden erhoben wurde, existierte nur in der Propaganda. Denn seine nächsten Angehörigen verbargen als Familiengeheimnis vor dem Staat, dass am 15. November 1968 einem jungen Menschen das Leben genommen wurde, der wahrscheinlich auf seine eigene Fluchtchance hoffte.
Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
Rolf Henniger wird mit großem propagandistischem Aufwand am 21. November 1968 in seiner Heimatstadt Saalfeld beigesetzt; alles wird der Familie aus der Hand genommen. [6] Sein Sarg wird auf einem offenen LKW, eingehüllt in die Flagge der DDR und begleitet von Ehrenformationen der NVA, der örtlichen Kampfgruppen und der Sowjetarmee durch die Stadt gefahren. [7] Rolf Henniger habe mit seinem Heldenmut einen verbrecherischen Anschlag auf den Sozialismus und den Frieden vereitelt, sagt der Berliner Stadtkommandant Helmut Poppe über den Verstorbenen. „Die feige Mordtat", erklärt er weiter, erfülle "die Herzen und Hirne der Armeeangehörigen und der Werktätigen der DDR mit unbändigem Haß gegen die imperialistischen Handlanger und ihre Hintermänner." Die „Aktuelle Kamera" und andere DDR-Medien berichten. [8] Posthum wird Rolf Henniger zum Unteroffizier befördert und mit der Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Gold ausgezeichnet. Später werden das Stadion der BSG Lokomotive Saalfeld und zahlreiche Jugendkollektive in Betrieben und Schulen nach ihm benannt. [9]
Auf Anweisung des Berliner Stadtkommandanten stattet jener Zugführer, der Rolf Henniger sterben sah und Horst Körner erschoss, Hennigers Hinterbliebenen an dessen Geburtstag einen Besuch ab. Feldwebel Wolfgang B. dient nicht nur den Grenztruppen, sondern zugleich als inoffizieller Mitarbeiter unter dem Decknamen „Helmut Anton" auch der Stasi. Diese vereinbart mit ihm eine „Verhaltenslinie", wonach er die Stimmung in der Familie erkunden soll und den Angehörigen des Toten zu verschweigen hat, dass dieser von einem Volkspolizei-Wachtmeister erschossen wurde. [10] Das ist nicht ganz einfach, denn weil der Täter offiziell nicht benannt wird und auch die Frage unbeantwortet bleibt, woher er eine Waffe hatte, sind inzwischen zahllose Gerüchte und Mutmaßungen zum Tod Rolf Hennigers in Umlauf. Die Staatssicherheit sammelt und dokumentiert in den verschiedenen Saalfelder Betrieben alle ihr zugänglichen Meinungen zu dem Fall. Das Meinungsbild zeigt: Ganz allgemein fühlt man sich in Saalfeld mit Halbwahrheiten abgespeist; angesichts der abstrusen offiziellen Informationen wird spekuliert, ob nicht möglicherweise ein Kamerad von Henniger oder er selbst in den Westen fliehen wollte. [11]
Auch die Familienangehörigen hegen Zweifel an der offiziellen Version. So hat die Stasi in Erfahrung gebracht, der Stiefvater von Rolf Henniger vermute, dass sein Sohn "republikflüchtig werden wollte, was dazu geführt hätte, dass er von Angehörigen der NVA-Grenze niedergeschossen worden wäre." [12] Offenbar hat Rolf Henniger im engsten Familienkreis Fluchtabsichten offenbart, denn diese sind auch aus Saalfeld geflohenen Verwandten in Süddeutschland bekannt, die Ende 1968 die West-Berliner Polizei um Auskunft ersuchen, was am Abend des 15. November wirklich geschah. [13] Geholfen werden kann ihnen nicht, denn West-Berliner Polizeibeamte haben in dieser Nacht zwar Feuerstöße gehört, konnten ihren Anlass jedoch nicht erkennen.
Jahr für Jahr wird des Unteroffiziers Rolf Henniger zu DDR-Zeiten offiziell gedacht, sein Grab geschmückt und der Heldenmythos wachgehalten – von Militär, Partei und Staat. Doch während all der Jahre lässt engsten Familienangehörigen das Gefühl keine Ruhe, nicht zu wissen, warum und wie Rolf Henniger wirklich ums Leben kam. Erst mit der Öffnung der DDR-Archive und im Zuge der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu Beginn der 1990er Jahre treten die Hintergründe zu Tage. Ein verzweifelter DDR-Volkspolizist, der auf der Flucht einen DDR-Grenzsoldaten tötet – diese Wahrheit eignete sich weder als „Mahnung, noch wachsamer allen Anschlägen des imperialistischen Klassengegners auf die DDR und ihre Grenzen zu wehren und sie zu vereiteln" [14] noch für eine Heldengeschichte – und wurde deshalb als Staatsgeheimnis selbst vor der Familie verborgen.
Doch jener Grenzsoldat Rolf Henniger, der zum Helden erhoben wurde, existierte nur in der Propaganda. Denn seine nächsten Angehörigen verbargen als Familiengeheimnis vor dem Staat, dass am 15. November 1968 einem jungen Menschen das Leben genommen wurde, der wahrscheinlich auf seine eigene Fluchtchance hoffte.
Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
[1]
Vgl. "Kurzbiografien ermordeter Grenzsoldaten" o. D. , in: StA Berlin, Az. 27 Js 131/91, Bd. 3, Bl. 192; „Unvergessen sind, die ermordet wurden an dieser Grenze", in: StA Berlin, Az. 27 Js 131/91, Bd. 3, Bl. 193-196.
[2]
Information des MfS/HA IX/9, 17.11.1968, in: BStU, MfS, AS 34/70, Bl. 30/31.
[3]
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Ebd., sowie MfS/KD Potsdam/Abt. VII, Versuchter Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schusswaffe mit Todesfolge, in: BStU, MfS, AS 34/70, Bl. 34-38.
[4]
Vgl. Vermerk der Staatsanwaltschaft Berlin, 25.1.1994, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 131/91, Bd. 3, Bl. 114-117, hier Bl. 114.
[5]
„NVA-Grenzsoldat von Provokateur ermordet", Neues Deutschland, 17.11.1968.
[6]
Siehe die Unterlagen zur Beisetzung von Rolf Henniger, in: BArch, VA-07/18353, Bl. 453 ff.
[7]
Vgl. Bericht des MfS/HA I/Abwehr B über die Beisetzung des ermordeten Unteroffiziers Rolf Henniger, 22.11.1968, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 10713, Bl. 186-187.
[8]
Vgl. Neues Deutschland, 22.11.1968; Berliner Zeitung, 22.11.1968; Volksarmee Nr. 48/1968. – Die Traueransprachen der Grenztruppen-Offiziere sind überliefert in: BArch, VA-07/18353, Bl. 490 ff.
[9]
Vgl. Neues Deutschland, 16.11.1978.
[10]
Vgl. Bericht des MfS/HA I/Abwehr B über die Beisetzung des ermordeten Unteroffiziers Rolf Henniger, 22.11.1968, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 10713, Bl. 187; siehe auch Abschrift eines Berichtes über den Besuch der nächsten Angehörigen des Uffz. Rolf Henniger, 2.12.1968, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 10713, Bl. 160-161.
[11]
Informationsbericht des MfS/KD Saalfeld, 21.11.1968, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 10713, Bl. 180-182.
[12]
Ebd., Bl. 181.
[13]
Vgl. die Schreiben und Befragungen der Verwandten von Rolf Henniger, 20.12.1968, 16.1.1969 und 28.8.1969, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 131/91, Bd. 1, Bl. 23/24, 26 und 44.
[14]
Vgl. Märkische Volksstimme, 21.11.1968.