geboren am 5. Januar 1948
erschossen am 25. Dezember 1970
am Bahndamm Köllnische Heide in Johannisthal
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln
Christian Peter Friese sitzt am Abend des 24. Dezember 1970 im Zug nach Ost-Berlin. In einer grenznahen Treptower Kleingartenkolonie versteckt er sich und beobachtet die Grenze. Gegen Mitternacht übersteigt er unbemerkt den Hinterlandzaun. Als er den Signalzaun durchkriecht und die dahinter ausgelegten Stolperdrähte überspringt, löst er Alarm aus.
Christian Peter Friese, geboren am 5. Januar 1948 in München, wächst als einziges Kind seiner Mutter in Naumburg auf. Der Ehemann seiner Mutter wird seit 1944 vermisst und später für tot erklärt; sein leiblicher Vater ist nicht aktenkundig. Auf die Schule folgt eine Schlosserlehre im Kfz-Handwerk. Nach erfolgreich bestandener Ausbildung zieht er mit seiner Verlobten nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, kehrt aber bald wieder allein nach Naumburg zurück. [1] Dort arbeitet er als Kfz-Schlosser bei der Deutschen Reichsbahn und engagiert sich ehrenamtlich im „Naumburger Siedlungs-Club", einem Jugend-Club seiner Stadt. Die Leiterin des Clubhauses bestätigt ihm sein Engagement für ein „positives und niveauvolles Clubleben", er sei den Jugendlichen „stets ein gutes Vorbild gewesen". „Wegen seiner Abendschule" habe er den Leitungsposten an jüngere Clubmitglieder abgeben müssen. [2]
Die Staatssicherheit sieht das anders. Er sei im Wohngebiet angeblich wegen seines „Hanges zur westlichen Beatmusik schlecht beleumundet", heißt es, er habe „dekadente Kunstauffassungen" verbreitet und eine „labile Einstellung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR" [3] vertreten. Deshalb habe er als Clubleiter abgelöst werden müssen.
Im vereinigten Deutschland wird seine Mutter Ende 1992 gegenüber der Naumburger Polizei aussagen, ihr Sohn habe damals mehrfach geäußert, dass er bei passender Gelegenheit „abhauen" wolle. Der 22-Jährige sei mit den Verhältnissen in der DDR nicht einverstanden gewesen und habe insbesondere keinen Militärdienst in der Nationalen Volksarmee leisten wollen. [4] Dass 1968 ein Freund von ihm erfolglos versucht hat, nach West-Berlin zu fliehen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden ist, schreckt Christian Peter Friese nicht von seinem Fluchtvorhaben ab. Ihn werde man schon nicht schnappen, sagt er seiner Mutter. [5]
Der 22-Jährige wohnt Ende 1970 im selben Mietshaus wie die Mutter. Am Heiligen Abend will sie ihn zum Essen holen, findet ihn aber nicht in seinem Zimmer. Er hat sich nicht verabschiedet, auch keinen Brief hinterlassen. Aber, so stellt seine Mutter fest, es fehlen ein paar Dinge, die ihm wichtig sind: Ein Fotoalbum, ein Tonbandgerät, Kleidungsstücke. „Ich dachte sofort, daß er jetzt tatsächlich nach Berlin gefahren wäre, um zu flüchten", gibt die Mutter zu Beginn der 1990er Jahre zu Protokoll. [6] Christian Peter Friese sitzt am Abend dieses 24. Dezember 1970 im Zug nach Ost-Berlin. In einer grenznahen Treptower Kleingartenkolonie versteckt er sich und beobachtet die Grenze. [7] Gegen Mitternacht übersteigt er unbemerkt den Hinterlandzaun. Als er den Signalzaun durchkriecht und die dahinter ausgelegten Stolperdrähte überspringt, löst er Alarm aus. Von zwei Postentürmen rechts und links ist das Areal hier gut übersehbar. Zudem hat sich in der Heiligen Nacht eine „Alarmgruppe" auf dem vier Meter hohen Bahndamm „Kölnische Heide" postiert. Es herrscht klare Sicht, die Sperranlagen sind gut ausgeleuchtet. Fünf Grenzposten feuern insgesamt 98 Schuss auf den jungen Mann ab. Der sucht sich noch im Kfz-Sperrgraben zu verbergen, worauf der Beschuss kurz eingestellt wird, rennt dann weiter, wird wieder unter Feuer genommen und bricht gleich darauf, nur wenige Meter vor dem letzten Grenzzaun, schwer verletzt zusammen. [8] Mehrere Kugeln treffen ihn in Unter- und Oberschenkel. „Meine Beine, meine Beine!", soll er nach Aussage eines Grenzpostens noch gerufen haben. [9] An einem Bauch- und Brustdurchschuss stirbt er noch im Todesstreifen.
28 Jahre später werden die beteiligten Grenzer vom Berliner Landgericht freigesprochen, weil ihnen keine Tötungsabsicht nachgewiesen und der eigentliche Todesschütze nicht festgestellt werden kann. [10]
Beiderseits der Grenze werden Anwohner durch die Schüsse aus dem Schlaf gerissen. Zahlreiche Kugeln schlagen auf West-Berliner Seite in Bäume und Hauswände ein. „Mörder – Schweine!", rufen West-Berliner den Grenzposten zu. [11] Der Vorfall führt zu scharfen Protesten. So erklärt ein Sprecher des West-Berliner Senats, dieser Vorfall „lasse erneut die ‚Machtbesessenheit eines Systems’ deutlich werden, dem Humanität fremd sei." [12] Der amerikanische Stadtkommandant bezeichnet den Zwischenfall „als neue Demonstration der leichtfertigen Missachtung von Menschenleben durch Zonenorgane". [13] Die West-Berliner Polizei leitet einen Ermittlungsvorgang ein.
Die Mutter von Christian Peter Friese ahnt bereits, es könnte ihr Sohn sein, als sie am ersten Weihnachtstag im West-Fernsehen vom Tod eines jungen Mannes an der Berliner Mauer hört. Tage voller Ungewissheit vergehen, bis die Staatssicherheit sie am 7. Januar 1971 über den Tod ihres Sohnes unterrichtet. Über die Todesumstände wird sie belogen: Ihr Sohn sei in Ost-Berlin bei „der Begehung strafbarer Handlungen tödlich verunglückt", erfährt sie von Stasi-Mitarbeitern; mit einem Auto sei er gegen einen Baum gefahren und bei diesem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sein Leichnam sei bereits eingeäschert. [14] Die Stasi nötigt der Mutter die Unterschrift unter eine Erklärung ab, in der sie verspricht, ihren Bekannten zu sagen, dass ihr Sohn „mit einem Kraftfahrzeug tödlich verunglückt ist" und „die Staatsorgane" zugleich bittet, „im Interesse meines Ansehens in gleicher Weise zu argumentieren". [15]
Einen Monat nach Christian Peter Frieses Tod wird die Urne nach Naumburg überstellt. Die Beisetzung findet unter Beobachtung der Staatssicherheit auf dem Städtischen Friedhof in Naumburg statt. [16] Kurz darauf wird der Mutter die Lebensversicherung ihres Sohnes ausgezahlt, da er offiziell als Verkehrstoter geführt wird. [17]
Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
Die Staatssicherheit sieht das anders. Er sei im Wohngebiet angeblich wegen seines „Hanges zur westlichen Beatmusik schlecht beleumundet", heißt es, er habe „dekadente Kunstauffassungen" verbreitet und eine „labile Einstellung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR" [3] vertreten. Deshalb habe er als Clubleiter abgelöst werden müssen.
Im vereinigten Deutschland wird seine Mutter Ende 1992 gegenüber der Naumburger Polizei aussagen, ihr Sohn habe damals mehrfach geäußert, dass er bei passender Gelegenheit „abhauen" wolle. Der 22-Jährige sei mit den Verhältnissen in der DDR nicht einverstanden gewesen und habe insbesondere keinen Militärdienst in der Nationalen Volksarmee leisten wollen. [4] Dass 1968 ein Freund von ihm erfolglos versucht hat, nach West-Berlin zu fliehen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden ist, schreckt Christian Peter Friese nicht von seinem Fluchtvorhaben ab. Ihn werde man schon nicht schnappen, sagt er seiner Mutter. [5]
Der 22-Jährige wohnt Ende 1970 im selben Mietshaus wie die Mutter. Am Heiligen Abend will sie ihn zum Essen holen, findet ihn aber nicht in seinem Zimmer. Er hat sich nicht verabschiedet, auch keinen Brief hinterlassen. Aber, so stellt seine Mutter fest, es fehlen ein paar Dinge, die ihm wichtig sind: Ein Fotoalbum, ein Tonbandgerät, Kleidungsstücke. „Ich dachte sofort, daß er jetzt tatsächlich nach Berlin gefahren wäre, um zu flüchten", gibt die Mutter zu Beginn der 1990er Jahre zu Protokoll. [6] Christian Peter Friese sitzt am Abend dieses 24. Dezember 1970 im Zug nach Ost-Berlin. In einer grenznahen Treptower Kleingartenkolonie versteckt er sich und beobachtet die Grenze. [7] Gegen Mitternacht übersteigt er unbemerkt den Hinterlandzaun. Als er den Signalzaun durchkriecht und die dahinter ausgelegten Stolperdrähte überspringt, löst er Alarm aus. Von zwei Postentürmen rechts und links ist das Areal hier gut übersehbar. Zudem hat sich in der Heiligen Nacht eine „Alarmgruppe" auf dem vier Meter hohen Bahndamm „Kölnische Heide" postiert. Es herrscht klare Sicht, die Sperranlagen sind gut ausgeleuchtet. Fünf Grenzposten feuern insgesamt 98 Schuss auf den jungen Mann ab. Der sucht sich noch im Kfz-Sperrgraben zu verbergen, worauf der Beschuss kurz eingestellt wird, rennt dann weiter, wird wieder unter Feuer genommen und bricht gleich darauf, nur wenige Meter vor dem letzten Grenzzaun, schwer verletzt zusammen. [8] Mehrere Kugeln treffen ihn in Unter- und Oberschenkel. „Meine Beine, meine Beine!", soll er nach Aussage eines Grenzpostens noch gerufen haben. [9] An einem Bauch- und Brustdurchschuss stirbt er noch im Todesstreifen.
28 Jahre später werden die beteiligten Grenzer vom Berliner Landgericht freigesprochen, weil ihnen keine Tötungsabsicht nachgewiesen und der eigentliche Todesschütze nicht festgestellt werden kann. [10]
Beiderseits der Grenze werden Anwohner durch die Schüsse aus dem Schlaf gerissen. Zahlreiche Kugeln schlagen auf West-Berliner Seite in Bäume und Hauswände ein. „Mörder – Schweine!", rufen West-Berliner den Grenzposten zu. [11] Der Vorfall führt zu scharfen Protesten. So erklärt ein Sprecher des West-Berliner Senats, dieser Vorfall „lasse erneut die ‚Machtbesessenheit eines Systems’ deutlich werden, dem Humanität fremd sei." [12] Der amerikanische Stadtkommandant bezeichnet den Zwischenfall „als neue Demonstration der leichtfertigen Missachtung von Menschenleben durch Zonenorgane". [13] Die West-Berliner Polizei leitet einen Ermittlungsvorgang ein.
Die Mutter von Christian Peter Friese ahnt bereits, es könnte ihr Sohn sein, als sie am ersten Weihnachtstag im West-Fernsehen vom Tod eines jungen Mannes an der Berliner Mauer hört. Tage voller Ungewissheit vergehen, bis die Staatssicherheit sie am 7. Januar 1971 über den Tod ihres Sohnes unterrichtet. Über die Todesumstände wird sie belogen: Ihr Sohn sei in Ost-Berlin bei „der Begehung strafbarer Handlungen tödlich verunglückt", erfährt sie von Stasi-Mitarbeitern; mit einem Auto sei er gegen einen Baum gefahren und bei diesem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sein Leichnam sei bereits eingeäschert. [14] Die Stasi nötigt der Mutter die Unterschrift unter eine Erklärung ab, in der sie verspricht, ihren Bekannten zu sagen, dass ihr Sohn „mit einem Kraftfahrzeug tödlich verunglückt ist" und „die Staatsorgane" zugleich bittet, „im Interesse meines Ansehens in gleicher Weise zu argumentieren". [15]
Einen Monat nach Christian Peter Frieses Tod wird die Urne nach Naumburg überstellt. Die Beisetzung findet unter Beobachtung der Staatssicherheit auf dem Städtischen Friedhof in Naumburg statt. [16] Kurz darauf wird der Mutter die Lebensversicherung ihres Sohnes ausgezahlt, da er offiziell als Verkehrstoter geführt wird. [17]
Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
[1]
Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung der Mutter von Christian Peter Friese durch die Naumburger Polizei, 6.10.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 68/90, Bd. 2, Bl. 242-243.
[2]
Schreiben der Leiterin des Clubhauses der Jugend des Kreiskulturhauses Naumburg (Saale) an den Rat des Stadtbezirkes Süd der Stadt Karl-Marx-Stadt/Abt. Volksbildung/Referat Jugendhilfe, 2.4.1970, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 3, Bl. 7.
[3]
Vgl. Zwischenbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation am 25.12.1970 in Berlin-Treptow, 29.12.1970, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr.1, Bl. 27.
[4]
Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung der Mutter von Christian Peter Friese durch die Naumburger Polizei, 6.10.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 68/90, Bd. 2, Bl. 243.
[5]
Vgl. ebd.
[6]
Ebd., Bl. 244.
[7]
Vgl. zum Geschehensablauf die Sachverhaltsfeststellungen in: Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Wolfgang S., Klaus Walter S. und Klaus D. vom 21.1.1998, in: StA Berlin, Az. 27 Js 68/90, Bd. 5, Bl. 12-16.
[8]
Vgl. Bericht der [MfS]/HA I/Grenzkommando Mitte/Abwehr UA 1. Grenzbrigade/Grenzregiment 37 über die Verhinderung eines Grenzdurchbruches DDR-Westberlin mit Anwendung der Schusswaffe und tödlichen Verletzungen, 25.12.1970, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr.1, Bl. 94-95; Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Wolfgang S., Klaus Walter S. und Klaus D. vom 21.1.1998, in: StA Berlin, Az. 27 Js 68/90, Bd. 5, Bl. 12-14.
[9]
Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Wolfgang S., Klaus Walter S. und Klaus D. vom 21.1.1998, in: StA Berlin, Az. 27 Js 68/90, Bd. 5, Bl. 16.
[10]
Vgl. ebd., Bl. 5, 21.
[11]
Bericht des GMS "Heide" (Abschrift), o.D., in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 1, Bl. 86.
[12]
Der Tagesspiegel, 29.12.1970.
[13]
Berliner Morgenpost, 29.12.1970.
[14]
Abschlussbericht [der VfS Groß-Berlin/Abt. IX], 27. 1.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 1, Bl. 23.
[15]
Vgl. BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 1, Bl. 29.
[16]
Vgl. ebd., Bl. 22-23.
[17]
Vgl. ebd.