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Todesopfer

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Cengaver Katrancı: geboren 1964, ertrunken am 30. Oktober 1972 im Berliner Grenzgewässer (Aufnahmedatum unbekannt)
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Cengaver Katrancı

geboren 1964
ertrunken am 30. Oktober 1972


in der Spree nahe der Oberbaumbrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Kreuzberg und Berlin-Friedrichshain
Der achtjährige türkische Schüler spielt mit einem Freund etwa 100 Meter vom Grenzübergang Oberbaumbrücke entfernt auf der Böschung der Spree am Kreuzberger Gröbenufer. Die Jungen gehen hinunter ans Ufer, sie stehen auf der schmalen Kaimauer und füttern Schwäne. Plötzlich verliert Cengaver Katrancı das Gleichgewicht und stürzt ins kalte Wasser.Cengaver Katrancı, geboren 1964, lebt mit seiner aus der Türkei stammenden Mutter und drei Geschwistern im West-Berliner Bezirk Kreuzberg. [1]

Es ist der 30. Oktober 1972, kurz nach 13.00 Uhr. Der achtjährige türkische Schüler spielt mit einem Freund etwa 100 Meter vom Grenzübergang Oberbaumbrücke entfernt auf der Böschung der Spree am Kreuzberger Gröbenufer. Die Jungen gehen hinunter ans Ufer, sie stehen auf der schmalen Kaimauer und füttern Schwäne. Plötzlich verliert Cengaver Katrancı das Gleichgewicht und stürzt ins kalte Wasser. [2] Schreiend rennt sein Freund davon, um Hilfe zu holen; einem Angler in der Nähe versucht er begreiflich zu machen, was geschehen ist. Als der ihn verstanden hat, schickt er den Jungen zum nahen Zollstützpunkt und läuft selbst zur Unglücksstelle. Als er schon begonnen hat, sich zu entkleiden, wird ihm bewusst, dass die Spree hier in ganzer Breite zu Ost-Berlin gehört, und dass er riskiert, bei einem Rettungsversuch von den DDR-Grenzposten erschossen zu werden. Er springt dem ertrinkenden Kind nicht hinterher.

Inzwischen haben West-Berliner Zollbeamte Polizei und Feuerwehr alarmiert und sind am Spreeufer angelangt. Auf dem Fluss fährt ein Tankschiff, begleitet von einem DDR-Feuerlöschboot. Die Zöllner rufen und gestikulieren, um die Besatzung des Löschbootes zum Beidrehen und zur Rettung des Kindes zu bewegen. Das Feuerwehrboot stoppt nur kurz und setzt dann seinen Weg fort.

Gegen 13.30 Uhr trifft ein Funkwagen der West-Berliner Polizei ein. Die Besatzung verhandelt mit einem Offizier der Grenztruppen auf der Oberbaumbrücke über die Bergung des Ertrunkenen. Wenig später trifft die Feuerwehr am Gröbenufer ein, und zwei Taucher machen sich bereit. Sie stehen auf der Kaimauer und warten auf die Erlaubnis, in das Grenzgewässer zu springen. Vergeblich.

Ein Boot der Ost-Berliner Wasserschutzpolizei hält auf Höhe des Unfallortes in der Flussmitte. Um sich dem Westufer weiter zu nähern brauchen die Wasserschutzpolizisten eine Sondergenehmigung der Grenzwache. Vom westlichen Ufer her werden sie angerufen, herangewinkt, nähern sich auch zögernd ein Stück, drehen wieder ab und werden sofort von einem Schnellboot der Grenztruppen eingeholt. Sie haben sich in die für sie verbotene Sperrzone über die Flussmitte hinaus begeben.

Am Gröbenufer sammeln sich Menschen, einige hundert sind es nach Schätzung der Polizei. Sie werden Zeugen einer beschämenden Hilflosigkeit. Fast eineinhalb Stunden hat die West-Berliner Polizei inzwischen am Grenzübergang Oberbaumbrücke mit Angehörigen der Grenztruppen verhandelt. Bis zuletzt darf die West-Berliner Feuerwehr, die mit Tauchern und Hilfsgeräten zur Stelle ist, nicht eingreifen. [3]

Gegen 14.30 Uhr trifft ein Ost-Berliner Rettungsboot ein, die Suche beginnt. Nach einer halben Stunde hebt sich ein Taucher mit dem toten Kind in unmittelbarer Ufernähe aus dem Wasser. Die Trage steht bereit, der tote Junge könnte übergeben werden, doch der Taucher schwimmt nicht die zwei Meter zum West-Berliner Ufer, sondern zurück zum Boot der Grenztruppen. Was den Schaulustigen am Gröbenufer schwer vorstellbar gewesen sein dürfte: Jede Bewegung des Tauchers mit dem Jungen zum Westufer hin hätte von den Grenzern als Fluchtversuch gewertet werden können.

Am Abend erhält die Mutter von Cengaver Katrancı mit zwei Verwandten die Erlaubnis, nach Ost-Berlin einzureisen. Dort muss sie ihren Sohn im Gerichtsmedizinischen Institut der Charité identifizieren. Die Leiche wird nach West-Berlin überführt und soll auf den Wunsch der Mutter hin in Ankara bestattet werden. [4]

Der Tod des Achtjährigen führt zur Ankündigung des Berliner Senats, mit der DDR ein Abkommen über Hilfeleistungen bei ähnlichen Unglücksfällen in Grenzgewässern zu treffen. [5] Erst 1975, nach zahllosen Verhandlungsrunden und nachdem drei weitere Kinder in der Spree ertrunken sind, wird eine entsprechende Regelung gefunden.

Text: Udo Baron

[1] Die West-Berliner Polizei gab den Namen des ertrunkenen Kindes zunächst irrtümlich mit „Cengiz Koc" an, dem Nachnamen des Onkels. Die Korrektur erfolgte zuerst in der Berliner Morgenpost und wurde dann polizeilich bestätigt. Vgl. Berliner Morgenpost, 2.11.1972, sowie: Vermerk der West-Berliner Polizei, 2.11.1972 (Landesarchiv Berlin). [2] Vgl. Berliner Morgenpost, 31.10.1972; BZ, 31.10.1972. [3] Vgl. Die Welt , 31.10.1972. [4] Vgl. Berliner Morgenpost, 2.11.1972. – Zum Tod von Cengaver Katranci siehe auch die einfühlsame Recherche von Christoph Cadenbach, Annabel Dillig und Christian Schramm, die mit seinem Bruder gesprochen haben (»Untergegangen«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 20.9.2019, S. 16–23). [5] Vgl. Plenarprotokolle des Abgeordnetenhauses von Berlin, 6. Wahlperiode, 37. Sitzung vom 9.11.1972, S. 1294-1295.
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