geboren am 23. April 1944
verunglückt und schwer verletzt am
1. März 1973
in der Nähe des S-Bahnhofs Pankow
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Pankow und Berlin-Wedding
gestorben am 5. März 1973 an den Folgen der Verletzungen
Am 1. März 1973 springt Volker Frommann in Ost-Berlin gegen 00.45 Uhr zwischen den S-Bahnhöfen Pankow und Schönhauser Allee, etwa 50 Meter vom Grenzgebiet entfernt, aus der fahrenden S-Bahn. Vermutlich will er an dieser grenznahen Passage versuchen, nach West-Berlin durchzukommen. Schwer verletzt bleibt er neben den Gleisen liegen.Volker Frommann wird am 24. April 1944 im thüringischen Unterpörlitz, unweit von Ilmenau, geboren. [1] Er ist das einzige Kind von Marie und Heinrich Frommann. Der Vater ist von Beruf Schlosser und als Produktionsleiter im VEB Maschinen- und Gerätebau in Langewiesen tätig; die Mutter verrichtet Heimarbeit für eine Puppenfabrik. In seinem Elternhaus, dass sich die Familie mit der seines Onkels teilt, wächst er zusammen mit seinem Cousin auf. Volker Frommann besucht von 1950 bis 1958 die Zentralschule in Unterpörlitz. Auf Grund seiner guten schulischen Leistungen wechselt er anschließend auf die Mittelschule in Ilmenau, deren Abschluss er im Sommer 1960 erwirbt. Am 1. September 1960 soll für ihn die Lehrzeit beim VEB Kühlanlagenbau Scharfenstein/Erzgebirge beginnen.
Sein bester Schulfreund, mit dem er die meiste Zeit verbringt, ist in all den Jahren Rainer Michelidse. Dessen Vater fiel 1945 einer Denunziation zum Opfer, wurde vom sowjetischen Geheimdienst abgeholt und ohne Urteil im Speziallager Buchenwald interniert, wo sich seine Spur verliert. Die beiden Freunde engagieren sich in der evangelischen Jungen Gemeinde ihres Heimatortes. Der FDJ und der Entwicklung in der DDR stehen sie kritisch gegenüber. Beide vertrauen den DDR-Medien nicht, sondern hören westliche Rundfunksendungen: um sich zu informieren, aber auch wegen der Musik. Und beide nehmen als Schüler 1959 die Fahrtstrecke von mehr als 300 Kilometern nach Ost-Berlin in Kauf, um heimlich West-Berlin zu besuchen, wo es ihnen besser gefällt als in der politischen Enge ihrer Heimat.
In den ersten April-Tagen des Jahres 1960 wird die Gemeinde Unterpörlitz zum „vollgenossenschaftlichen Dorf" erklärt. Zwar zählt das Dorf kaum mehr als drei Bauern, die allein von der Landwirtschaft leben; für die meisten Ortsansässigen ist die Landwirtschaft ein Nebenerwerb. Aber für die örtliche SED ist die gelungene Kolchosiwierung Grund genug, Feierlichkeiten anzuberaumen, die in den Sälen der Gasthäuser „Zur Sonne" und „Henne" stattfinden. Volker Frommann und Rainer Michelidse sind davon überzeugt, dass die Bauern nur durch Druck der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beigetreten sind, durch die sie faktisch enteignet werden. Dagegen wollen sie ein Zeichen setzen. Als das abendliche Fest seinen Höhepunkt erreicht, verlassen sie unbemerkt die Gastwirtschaft, werfen eine eiserne Kuhkette auf die Unterpörlitzer Hochspannungsleitung und verursachen so einen Kurzschluss, der die Festveranstaltung der LPG ins Dunkle setzt. Anschließend eilen sie zurück und schimpfen mit allen anderen zusammen im Kerzenlicht über den Stromausfall.
Trotz eines massiven Kräfteaufgebotes und intensiver Untersuchungen der Stasi bleibt ihre Urheberschaft monatelang unentdeckt, bis sie Anfang August 1960 in das Visier der Stasi geraten und schließlich am 11. August 1960 verhaftet werden. Schutzlos den Stasi-Vernehmungsmethoden ausgesetzt, werden die beiden 16-Jährigen gegeneinander ausgespielt und zu „Geständnissen" genötigt. Am 17. November 1960 verurteilt sie das Bezirksgericht Suhl wegen „staatsgefährdender Gewaltakte" nach dem Erwachsenenstrafrecht zu drei Jahren Zuchthaus und zusätzlich wegen „Diebstahls von gesellschaftlichem Eigentum" – der Entwendung von vier Dosen Ananas aus dem Vorratsraum des örtlichen Kulturhauses – zu sechs Monaten Freiheitsentzug. [2] Dass es sich um einen Jugendstreich gehandelt habe, wie der Vater von Volker Frommann zu Bedenken gibt, lässt das Gericht nicht gelten; auch nicht, dass der entstandene Gesamtschaden nicht mehr als 320 Mark der DDR beträgt. ,Die von den Angeklagten begangenen „Gewaltakte", heißt es im Urteil, stellten „eine aktive Unterstützung der reaktionären Kräfte des deutschen Volkes dar". Eine solche Handlung sei geeignet, „nicht nur unsere Entwicklung zu stören, sondern auch die Vorbereitungen des Atomkrieges gegen die friedliebende Menschheit zu unterstützen, weil jede Stärkung des Kriegslagers der Förderung dieser verbrecherischen Ziele dient." [3]
Nach knapp viermonatiger Inhaftierung im Stasi-Untersuchungsgefängnis in Suhl werden Volker Frommann und Rainer Michelidse nach kurzen Aufenthalten in den Zuchthäusern Untermaßfeld und Halle am 16. Dezember 1960 zur Strafverbüßung in das „Jugendhaus Torgau" überstellt, ein Zuchthaus ausschließlich für Jugendliche. [4] „Ich wurde belehrt", muss Volker Frommann bei seiner dortigen Aufnahme schriftlich bestätigen, „daß ich nicht zum Fenster hinaussehen, winken oder rufen darf und bei Verstoß gegen diese Weisung zur Verantwortung gezogen werde". [5]
Was es heißt, in diesem Gefängnis „zur Verantwortung gezogen" zu werden, erfährt der 16-Jährige ziemlich schnell: Für seinen Wunsch nach einer Bibel wird er mit tagelangem Karzer in einer Kellerzelle bestraft. [6] Ein „Führungsbericht" des Gefängnis-Chefs über den inhaftierten Jugendlichen hält fest, Volker Frommann habe gemeint, „daß eine Reihe von Gepflogenheiten im Jugendhaus oder Weisungen seiner hiesigen Vorgesetzten nicht mit seinem Glauben vereinbar wären" und deshalb „sehr viel Diskussionen" geführt; die gegen ihn verhängte Karzer-Strafe verschweigt der Bericht. [7] Wie zahlreiche seiner Mithäftlinge – darunter auch Michael Gartenschläger [8] – wird Volker Frommann nach dreimonatiger Haft für eine Gefängnis-„Lehrausbildung" als Schlosser eingeteilt. Aus der Gefängnisbücherei bevorzugt er die klassische Literatur; er ist künstlerisch veranlagt, malt und zeichnet und schließt sich einem entsprechenden Zirkel an. Seinen anfänglich offenen Widerstand nimmt er scheinbar zurück: „Negative Einstellungen gegenüber unserem Staat äußern sich in seinen Diskussionen nicht, wie man am Anfang seines hiesigen Aufenthaltes annehmen konnte", hält der Gefängnisdirektor im Juli 1962 fest – und stuft ihn deshalb in die Gruppe der „positiven Jugendlichen" des Gefängnisses ein, die für eine „bedingte Strafaussetzung" in Frage kämen. [9] Nach insgesamt zweijähriger Haft werden Volker Frommann und Rainer Michelidse amnestiert und am 10. August 1962 mit einer dreijährigen Bewährungsfrist aus dem Jugendgefängnis Torgau entlassen. [10]
Zurück in Unterpörlitz setzt Volker Frommann die begonnene Schlosserlehre im VEB Glasmaschinenbau Ilmenau fort. Glücklich ist er damit nicht. Im Jahr nach seiner Freilassung unternimmt er einen Fluchtversuch aus der DDR, wird jedoch in der CSSR verhaftet, an die DDR ausgeliefert und zu einer neuerlichen Gefängnisstrafe verurteilt, die er offenbar bis 1964 im Zuchthaus Untermaßfeld verbüßt.
Die weiteren Stationen der Entwicklung von Volker Frommann lassen sich nur bruchstückhaft beschreiben. Er arbeitet als Schlosser; später findet er eine Anstellung in einer Glasmalerei – beides Tätigkeiten, die ihn nicht befriedigen. „In meinem Betrieb ist doch eine Macke nach zwei Jahren wirklich eine normale Erscheinung. Meinst Du nicht auch?", schreibt er seinem Freund Rainer Michelidse, der mittlerweile aus Unterpörlitz weggezogen ist. „Das normal alltägliche Leben, das Stumpfsinnige – das war nicht seine Welt", erinnert sich sein Cousin. [11] In seinen Briefen an Rainer Michelidse berichtet Volker Frommann von seiner philosophischen Lektüre nach Feierabend: von Schopenhauer und Nietzsche, die er offenbar verehrt, und deren Querverbindungen zu Strindberg, Freud und Kierkegaard er jetzt untersuche. Auch über Lessing, Kant und Platon als neuentdeckte Erkenntnisquellen hält er Rainer Micheldidse auf dem Laufenden. [12] Sein Versuch, ein Theologie-Studium aufzunehmen, scheitert; auch die Kunsthochschule Dresden weist ihn ab. [13] Wer in der Kaderakte und im polizeilichen Führungszeugnis "staatsgefährdender Gewaltakte" und versuchter "Republikflucht" bezichtigt wird, hat es in der DDR beruflich häufig schwer.
Mehr und mehr machen Volker Frommann neben seiner Arbeitssituation offenbar auch die psychischen Folgen seiner Haft zu schaffen. Er begibt sich in psychotherapeutische Behandlung und lernt autogenes Training. An Rainer Michelidse schreibt er: „Wieder habe ich einen großen Fortschritt gemacht: ich kann noch besser abschalten als zuvor, noch besser schweigen." [14]
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre heiratet Volker Frommann, zieht mit seiner Frau, einer Ärztin, für einige Jahre von Unterpörlitz weg, bevor beide zu Beginn der 1970er Jahre zurückkehren. Das Ehepaar lebt zurückgezogen; der Kontakt von Volker Frommann zu Rainer Michelidse ist mittlerweile abgerissen, der zu seinem Cousin eher selten geworden. Welche Gründe Volker Frommann Anfang 1973 letztlich zu einem neuerlichen Fluchtversuch veranlassen, wissen weder Freund noch Cousin.
Am 1. März 1973 springt Volker Frommann in Ost-Berlin gegen 00.45 Uhr zwischen den S-Bahnhöfen Pankow und Schönhauser Allee, etwa 50 Meter vom Grenzgebiet entfernt, aus der fahrenden S-Bahn. Vermutlich will er an dieser grenznahen Passage versuchen, nach West-Berlin durchzukommen. Schwer verletzt bleibt er neben den Gleisen liegen. Nicht mehr ansprechbar, wird er kurz darauf von einer Streife der Volkspolizei aufgefunden und mit einem Sanitätswagen ins Krankenhaus Berlin-Friedrichshain gebracht. [15] Erste Untersuchungen ergeben, dass er sich eine Verletzung der Wirbelsäule zugezogen hat und in akuter Lebensgefahr schwebt. Am 5. März 1973 erliegt Volker Frommann seinen schweren Verletzungen. [16]
Über eine Krankenschwester des Friedrichshainer Krankenhauses, die mit seiner Frau und der seines Cousins die Schwesternschule besucht hatte, erfahren die Angehörigen in Unterpörlitz verschwommen, man habe Volker Frommann in der Nähe der Mauer schwerverletzt aufgefunden. [17] Zur Trauerfeier im Krematorium Baumschulenweg reisen die Eltern nach Ost-Berlin. Sein Vater besticht einen Friedhofsbeamten, der daraufhin den Sarg vor der Einäscherung noch einmal für die Eltern öffnet, damit sie Abschied nehmen können. [18]
Auf dem Friedhof in Unterpörlitz liegt Volker Frommann begraben – in einer Grabstätte, die er mittlerweile mit seinen Eltern teilt.
Vergebens bemühten sie sich Anfang der 1990er Jahre um Aufschluss über die genauen Todesumstände ihres Sohnes.
Text: Hans-Hermann Hertle
Sein bester Schulfreund, mit dem er die meiste Zeit verbringt, ist in all den Jahren Rainer Michelidse. Dessen Vater fiel 1945 einer Denunziation zum Opfer, wurde vom sowjetischen Geheimdienst abgeholt und ohne Urteil im Speziallager Buchenwald interniert, wo sich seine Spur verliert. Die beiden Freunde engagieren sich in der evangelischen Jungen Gemeinde ihres Heimatortes. Der FDJ und der Entwicklung in der DDR stehen sie kritisch gegenüber. Beide vertrauen den DDR-Medien nicht, sondern hören westliche Rundfunksendungen: um sich zu informieren, aber auch wegen der Musik. Und beide nehmen als Schüler 1959 die Fahrtstrecke von mehr als 300 Kilometern nach Ost-Berlin in Kauf, um heimlich West-Berlin zu besuchen, wo es ihnen besser gefällt als in der politischen Enge ihrer Heimat.
In den ersten April-Tagen des Jahres 1960 wird die Gemeinde Unterpörlitz zum „vollgenossenschaftlichen Dorf" erklärt. Zwar zählt das Dorf kaum mehr als drei Bauern, die allein von der Landwirtschaft leben; für die meisten Ortsansässigen ist die Landwirtschaft ein Nebenerwerb. Aber für die örtliche SED ist die gelungene Kolchosiwierung Grund genug, Feierlichkeiten anzuberaumen, die in den Sälen der Gasthäuser „Zur Sonne" und „Henne" stattfinden. Volker Frommann und Rainer Michelidse sind davon überzeugt, dass die Bauern nur durch Druck der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beigetreten sind, durch die sie faktisch enteignet werden. Dagegen wollen sie ein Zeichen setzen. Als das abendliche Fest seinen Höhepunkt erreicht, verlassen sie unbemerkt die Gastwirtschaft, werfen eine eiserne Kuhkette auf die Unterpörlitzer Hochspannungsleitung und verursachen so einen Kurzschluss, der die Festveranstaltung der LPG ins Dunkle setzt. Anschließend eilen sie zurück und schimpfen mit allen anderen zusammen im Kerzenlicht über den Stromausfall.
Trotz eines massiven Kräfteaufgebotes und intensiver Untersuchungen der Stasi bleibt ihre Urheberschaft monatelang unentdeckt, bis sie Anfang August 1960 in das Visier der Stasi geraten und schließlich am 11. August 1960 verhaftet werden. Schutzlos den Stasi-Vernehmungsmethoden ausgesetzt, werden die beiden 16-Jährigen gegeneinander ausgespielt und zu „Geständnissen" genötigt. Am 17. November 1960 verurteilt sie das Bezirksgericht Suhl wegen „staatsgefährdender Gewaltakte" nach dem Erwachsenenstrafrecht zu drei Jahren Zuchthaus und zusätzlich wegen „Diebstahls von gesellschaftlichem Eigentum" – der Entwendung von vier Dosen Ananas aus dem Vorratsraum des örtlichen Kulturhauses – zu sechs Monaten Freiheitsentzug. [2] Dass es sich um einen Jugendstreich gehandelt habe, wie der Vater von Volker Frommann zu Bedenken gibt, lässt das Gericht nicht gelten; auch nicht, dass der entstandene Gesamtschaden nicht mehr als 320 Mark der DDR beträgt. ,Die von den Angeklagten begangenen „Gewaltakte", heißt es im Urteil, stellten „eine aktive Unterstützung der reaktionären Kräfte des deutschen Volkes dar". Eine solche Handlung sei geeignet, „nicht nur unsere Entwicklung zu stören, sondern auch die Vorbereitungen des Atomkrieges gegen die friedliebende Menschheit zu unterstützen, weil jede Stärkung des Kriegslagers der Förderung dieser verbrecherischen Ziele dient." [3]
Nach knapp viermonatiger Inhaftierung im Stasi-Untersuchungsgefängnis in Suhl werden Volker Frommann und Rainer Michelidse nach kurzen Aufenthalten in den Zuchthäusern Untermaßfeld und Halle am 16. Dezember 1960 zur Strafverbüßung in das „Jugendhaus Torgau" überstellt, ein Zuchthaus ausschließlich für Jugendliche. [4] „Ich wurde belehrt", muss Volker Frommann bei seiner dortigen Aufnahme schriftlich bestätigen, „daß ich nicht zum Fenster hinaussehen, winken oder rufen darf und bei Verstoß gegen diese Weisung zur Verantwortung gezogen werde". [5]
Was es heißt, in diesem Gefängnis „zur Verantwortung gezogen" zu werden, erfährt der 16-Jährige ziemlich schnell: Für seinen Wunsch nach einer Bibel wird er mit tagelangem Karzer in einer Kellerzelle bestraft. [6] Ein „Führungsbericht" des Gefängnis-Chefs über den inhaftierten Jugendlichen hält fest, Volker Frommann habe gemeint, „daß eine Reihe von Gepflogenheiten im Jugendhaus oder Weisungen seiner hiesigen Vorgesetzten nicht mit seinem Glauben vereinbar wären" und deshalb „sehr viel Diskussionen" geführt; die gegen ihn verhängte Karzer-Strafe verschweigt der Bericht. [7] Wie zahlreiche seiner Mithäftlinge – darunter auch Michael Gartenschläger [8] – wird Volker Frommann nach dreimonatiger Haft für eine Gefängnis-„Lehrausbildung" als Schlosser eingeteilt. Aus der Gefängnisbücherei bevorzugt er die klassische Literatur; er ist künstlerisch veranlagt, malt und zeichnet und schließt sich einem entsprechenden Zirkel an. Seinen anfänglich offenen Widerstand nimmt er scheinbar zurück: „Negative Einstellungen gegenüber unserem Staat äußern sich in seinen Diskussionen nicht, wie man am Anfang seines hiesigen Aufenthaltes annehmen konnte", hält der Gefängnisdirektor im Juli 1962 fest – und stuft ihn deshalb in die Gruppe der „positiven Jugendlichen" des Gefängnisses ein, die für eine „bedingte Strafaussetzung" in Frage kämen. [9] Nach insgesamt zweijähriger Haft werden Volker Frommann und Rainer Michelidse amnestiert und am 10. August 1962 mit einer dreijährigen Bewährungsfrist aus dem Jugendgefängnis Torgau entlassen. [10]
Zurück in Unterpörlitz setzt Volker Frommann die begonnene Schlosserlehre im VEB Glasmaschinenbau Ilmenau fort. Glücklich ist er damit nicht. Im Jahr nach seiner Freilassung unternimmt er einen Fluchtversuch aus der DDR, wird jedoch in der CSSR verhaftet, an die DDR ausgeliefert und zu einer neuerlichen Gefängnisstrafe verurteilt, die er offenbar bis 1964 im Zuchthaus Untermaßfeld verbüßt.
Die weiteren Stationen der Entwicklung von Volker Frommann lassen sich nur bruchstückhaft beschreiben. Er arbeitet als Schlosser; später findet er eine Anstellung in einer Glasmalerei – beides Tätigkeiten, die ihn nicht befriedigen. „In meinem Betrieb ist doch eine Macke nach zwei Jahren wirklich eine normale Erscheinung. Meinst Du nicht auch?", schreibt er seinem Freund Rainer Michelidse, der mittlerweile aus Unterpörlitz weggezogen ist. „Das normal alltägliche Leben, das Stumpfsinnige – das war nicht seine Welt", erinnert sich sein Cousin. [11] In seinen Briefen an Rainer Michelidse berichtet Volker Frommann von seiner philosophischen Lektüre nach Feierabend: von Schopenhauer und Nietzsche, die er offenbar verehrt, und deren Querverbindungen zu Strindberg, Freud und Kierkegaard er jetzt untersuche. Auch über Lessing, Kant und Platon als neuentdeckte Erkenntnisquellen hält er Rainer Micheldidse auf dem Laufenden. [12] Sein Versuch, ein Theologie-Studium aufzunehmen, scheitert; auch die Kunsthochschule Dresden weist ihn ab. [13] Wer in der Kaderakte und im polizeilichen Führungszeugnis "staatsgefährdender Gewaltakte" und versuchter "Republikflucht" bezichtigt wird, hat es in der DDR beruflich häufig schwer.
Mehr und mehr machen Volker Frommann neben seiner Arbeitssituation offenbar auch die psychischen Folgen seiner Haft zu schaffen. Er begibt sich in psychotherapeutische Behandlung und lernt autogenes Training. An Rainer Michelidse schreibt er: „Wieder habe ich einen großen Fortschritt gemacht: ich kann noch besser abschalten als zuvor, noch besser schweigen." [14]
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre heiratet Volker Frommann, zieht mit seiner Frau, einer Ärztin, für einige Jahre von Unterpörlitz weg, bevor beide zu Beginn der 1970er Jahre zurückkehren. Das Ehepaar lebt zurückgezogen; der Kontakt von Volker Frommann zu Rainer Michelidse ist mittlerweile abgerissen, der zu seinem Cousin eher selten geworden. Welche Gründe Volker Frommann Anfang 1973 letztlich zu einem neuerlichen Fluchtversuch veranlassen, wissen weder Freund noch Cousin.
Am 1. März 1973 springt Volker Frommann in Ost-Berlin gegen 00.45 Uhr zwischen den S-Bahnhöfen Pankow und Schönhauser Allee, etwa 50 Meter vom Grenzgebiet entfernt, aus der fahrenden S-Bahn. Vermutlich will er an dieser grenznahen Passage versuchen, nach West-Berlin durchzukommen. Schwer verletzt bleibt er neben den Gleisen liegen. Nicht mehr ansprechbar, wird er kurz darauf von einer Streife der Volkspolizei aufgefunden und mit einem Sanitätswagen ins Krankenhaus Berlin-Friedrichshain gebracht. [15] Erste Untersuchungen ergeben, dass er sich eine Verletzung der Wirbelsäule zugezogen hat und in akuter Lebensgefahr schwebt. Am 5. März 1973 erliegt Volker Frommann seinen schweren Verletzungen. [16]
Über eine Krankenschwester des Friedrichshainer Krankenhauses, die mit seiner Frau und der seines Cousins die Schwesternschule besucht hatte, erfahren die Angehörigen in Unterpörlitz verschwommen, man habe Volker Frommann in der Nähe der Mauer schwerverletzt aufgefunden. [17] Zur Trauerfeier im Krematorium Baumschulenweg reisen die Eltern nach Ost-Berlin. Sein Vater besticht einen Friedhofsbeamten, der daraufhin den Sarg vor der Einäscherung noch einmal für die Eltern öffnet, damit sie Abschied nehmen können. [18]
Auf dem Friedhof in Unterpörlitz liegt Volker Frommann begraben – in einer Grabstätte, die er mittlerweile mit seinen Eltern teilt.
Vergebens bemühten sie sich Anfang der 1990er Jahre um Aufschluss über die genauen Todesumstände ihres Sohnes.
Text: Hans-Hermann Hertle
[1]
Zum Folgenden, insbesondere den lebensgeschichtlichen Daten von Volker Frommann, vgl. das Gespräch von Hans-Hermann Hertle und Gabriele Schnell mit Rainer Michelidse und Manfred Göllnitz, 29.10.2008.
[2]
Urteil des Bezirksgerichts Suhl vom 17.11.1960 – 1 BS 120/60, in: BStU, Ast. Suhl, AU 66/60, Bd. 6, Bl. 60-71, Zitat Bl. 68.
[3]
Ebd., Bl. 68.
[4]
Das „Jugendhaus Torgau" war das vermutlich härteste Jugendgefängnis der DDR mit menschenrechtswidrigen Haftbedingungen. Seine Geschichte ist im Unterschied zum späteren geschlossenen „Jugendwerkhof Torgau" (1964 -1989) bislang weitgehend unerforscht.
[5]
BStU, Ast. Suhl, AU 66/60, Bd. 10 (Gefangenenakten Frommann, Volker), Bl. 109.
[6]
Gespräch von Hans-Hermann Hertle und Gabriele Schnell mit Rainer Michelidse, 29.10.2008.
[7]
Jugendhaus Torgau, Führungsbericht zur Vorlage für die Kommission gem. § 24 Abs. 2 JGG, Torgau, 5.7.1962, in: BStU, Ast. Suhl, AU 66/60, Bd. 10 (Gefangenenakten Frommann, Volker), Bl. 147.
[8]
Michael Gartenschläger wurde 1961 wegen seiner Proteste gegen den Mauerbau zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Nach seinem Freikauf durch die Bundesrepublik im Jahr 1971 wurde er am 30. April 1976 bei dem Versuch, eine Selbstschussanlage an der innerdeutschen Grenze zu demontieren, von einem Stasi-Spezialkommando erschossen. Vgl. dazu Lothar Lienicke/Franz Bludem, Todesautomatik. Die Stasi und der Tod des Michael Gartenschläger, Frankfurt a. M. 2003.
[9]
Ebd., Bl. 148.
[10]
Beschluss der Kommission zur Überprüfung der Urteile gegen Jugendliche gemäß § 24 JGG, Torgau, 9.7.1962, in: BStU, Ast. Suhl, AU 66/60, Bd. 10 (Gefangenenakten Frommann, Volker), Bl. 159/160; Jugendhaus Torgau, Mitteilung über Entlassung von Frommann, Volker, 10.8.1962, in: BStU, Ast. Suhl, AU 66/60, Bd. 7, Bl. 75.
[11]
Gespräch von Hans-Hermann Hertle und Gabriele Schnell mit Manfred Göllnitz, 29.10.2008.
[12]
Briefe von Volker Frommann an Rainer Michelidse, o.D. [1965/1966] (Privatarchiv Rainer Michelidse).
[13]
Gespräch von Hans-Hermann Hertle und Gabriele Schnell mit Rainer Michelidse und Manfred Göllnitz, 29.10.2008.
[14]
Brief von Volker Frommann an Rainer Michelidse, o.D. [1965/1966] (Privatarchiv Rainer Michelidse).
[15]
Vgl. PdVP-Rapport Nr. 60/73, 1.3.1973, S. 2, in: PHS, Bestand PdVP-Rapporte. – Stasi-Unterlagen über den Vorgang wurden bislang nicht aufgefunden.
[16]
Vgl. Kerblochkartei der BVfS Suhl über Volker Frommann, in: BStU, Ast. Suhl, Kerblochkarte VII.
[17]
Gespräch von Hans-Hermann Hertle und Gabriele Schnell mit Manfred Göllnitz, 29.10.2008. – Von wem die Familien-Angehörigen offiziell über den Tod von Volker Frommann unterrichtet wurden und welche Todesursache ihnen übermittelt wurde, ließ sich nicht ermitteln. Volker Frommanns Mutter verstarb 1997, sein Vater im Jahr 2004.
[18]
Ebd.