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Todesopfer

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Horst Einsiedel: geboren am 8. Februar 1940, erschossen am 15. März 1973 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer; Aufnahmedatum unbekannt
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Horst Einsiedel

geboren am 8. Februar 1940
erschossen am 15. März 1973


auf dem Städtischen Friedhof Pankow
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Pankow und Berlin-Reinickendorf
Mit einer Anstellleiter überwindet er den Hinterlandzaun, mit einer Klappleiter den Signalzaun, wobei er jedoch Alarm auslöst. Nur noch wenige Meter und Sekunden trennen ihn von seinem Ziel, als er die Klappleiter an die Betonmauer gestellt hat und zur Mauerkrone emporsteigt. Inzwischen ist er jedoch vom 200 Meter entfernten Postenturm aus bemerkt worden; beide Grenzposten eröffnen sofort das Feuer auf den Flüchtenden.Horst Einsiedel, am 8. Februar 1940 in Berlin-Pankow geboren, holt nach seiner Schlosserlehre an der „Arbeiter- und Bauernfakultät" das Abitur nach und studiert an der Technischen Universität in Dresden Maschinenbau. [1] Als Diplom-Ingenieur zieht er 1967 mit seiner Frau und seiner Tochter nach Berlin-Weißensee. Er arbeitet in verschiedenen Ost-Berliner Betrieben, zuletzt im VEB Rationalisierungswerk Heinersdorf. [2]

Die speziellen Konditionen des DDR-Ingenieurwesens konnten einen Mann, der etwas leisten wollte, durchaus zermürben. Horst Einsiedel lehnt es ab, Mitglied der SED zu werden, und hat deshalb kaum Aufstiegschancen. Andererseits sorgt das Karriere-Prinzip der „Parteilichkeit" dafür, dass ihm seine vorgesetzten Genossen oft fachlich nicht das Wasser reichen können. Mit seiner Frau spricht er darüber; auch über Möglichkeiten der Flucht nach West-Berlin, wohin seine Schwester schon 1951 verzog und seine Mutter 1969 übersiedelte. Seiner Frau ist eine Flucht mit der kleinen, 1966 geborenen Tochter jedoch zu riskant. Dass er die Flucht letztlich allein versuchte, führt die Ehefrau darauf zurück, dass er seine Familie nicht unnötigerweise in Gefahr bringen wollte. Vermutlich habe er gehofft, sie später in den Westteil nachholen zu können, gibt sie 1992 als Zeugin bei der Berliner Polizei zu Protokoll. [3]
Horst Einsiedel, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto von Fluchtspuren auf dem Städtischen Friedhof Pankow, 15. März 1973
In den frühen Morgenstunden des 15. März 1973 verabschiedet sich Horst Einsiedel von seiner Frau, angeblich, um wegen starker Zahnschmerzen einen Notarzt aufzusuchen. Mit dem eigenen Trabant begibt er sich zu jenem Pankower Friedhof, wo er oft das Grab seines Vaters besucht hat. Vom letzten Zaun dieses Friedhofs aus sind es nur dreißig Meter bis zum ersten Haus auf West-Berliner Gebiet. Dieses Haus steht direkt hinter der Mauer und überragt sie. Die Grenzanlagen sind hier durch den Hinterlandsicherungszaun hindurch gut einsehbar. Horst Einsiedel hat seine Flucht lange geplant und weiß sehr genau, was er im Dunkel dieses frühen Märzmorgens tut. [4] Mit Eisensäge und Bolzenschneider durchtrennt er die Kette, mit der zwei Leitern an einem Geräteschuppen angeschlossen sind. Mit einer Anstellleiter überwindet er den Hinterlandzaun, mit einer Klappleiter den Signalzaun, wobei er jedoch Alarm auslöst. Nur noch wenige Meter und Sekunden trennen ihn von seinem Ziel, als er die Klappleiter an die Betonmauer gestellt hat und zur Mauerkrone emporsteigt. Inzwischen ist er jedoch vom 200 Meter entfernten Postenturm aus bemerkt worden; beide Grenzposten eröffnen sofort das Feuer auf den Flüchtenden. In Hals und Brust getroffen stürzt Horst Einsiedel von der Leiter und stirbt kurz darauf an den Folgen der Schussverletzungen.
Horst Einsiedel, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto von Spuren und dem Fluchtweg nahe der Grenzmauer zwischen Berlin-Niederschönhausen und Berlin-Reinickendorf, 15. März 1973
Horst Einsiedel, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto vom Fluchtweg nahe der Grenzmauer auf dem Städtischen Friedhof Pankow, 15. März 1973
Während die Bundesregierung und der West-Berliner Senat noch am selben Tag gegen die Schüsse an der Berliner Sektorengrenze protestieren [5], werden die beteiligten Grenzposten am Nachmittag mit der „Medaille für den vorbildlichen Grenzdienst" und einer Geldprämie ausgezeichnet. [6] Anfang 1999 spricht sie das Berliner Landgericht des Totschlags an Horst Einsiedel für schuldig und verurteilt sie zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung. [7]

Das Verfahren wegen Beihilfe zum Totschlag gegen ihren Kommandeur, der den Schützen bei ihrem Dienstantritt befahl, „Grenzverletzungen" unter allen Umständen, notfalls mit der Schusswaffe, zu verhindern und „Grenzverletzer vorläufig festzunehmen bzw. zu vernichten" [8], wird im Jahr 2002 vom Landgericht Berlin wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt. [9]

Als ihr Mann gegen 8.00 Uhr noch immer nicht zurückgekehrt ist, wird Frau Einsiedel unruhig. Schließlich ruft sie beim zahnärztlichen Notdienst an und erfährt, dass er dort nicht erschienen sei. Am folgenden Tag bemerkt sie dann, dass sämtliche persönlichen Unterlagen ihres Mannes fehlen. Schlagartig wird ihr klar, was passiert sein muss. [10]

Inzwischen hat die Staatssicherheit einen „Vorschlag zur Legendierung des Todes des Grenzprovokateurs vom 15.3.1973" erarbeitet, um „weitere Hetzkampagnen westlicher Publikationsorgane" [11] zu verhindern. In mehreren „streng geheimen" Varianten, die Stasi-Minister Mielke vorgelegt werden, üben sich MfS-Mitarbeiter im kreativen Schreiben und erfinden Geschichten vom mysteriösen Verschwinden des Diplom-Ingenieurs Horst Einsiedel. [12] Die Mitwisser des wahren Geschehens – insgesamt 42 Personen: Grenzer, Ärzte, Sekretärinnen, Gerichtsmediziner, Volkspolizisten – werden aufgelistet und nach dem Grad ihrer Zuverlässigkeit kategorisiert. Sie alle werden schweigen – auf Weisung des MfS. [13]

Wiederholt wird Einsiedels Ehefrau, ohne zu wissen, dass sie inzwischen seine Witwe ist, im Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz von Stasi-Mitarbeitern nach dem Verbleib ihres Mannes befragt, man bittet sie sogar, Fotos von ihrem Mann vorzulegen, um die Suche nach ihm zu erleichtern. Dieser Zynismus ist in der Sprache des MfS eine durch die Volkspolizei „abgedeckte Maßnahme". [14] Endlich kommt man zu dem Schluss, dass sie offenbar vom Fluchtvorhaben ihres Mannes nichts gewusst habe. Ende März 1973 teilt ihr dann die Staatssicherheit mit, dass das unverschlossene Auto in einem Wald aufgefunden und ihr Mann vermutlich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sei. Dazu zeigt man ihr außer einer gefälschten „Beweismittelakte" ein Foto des unbeschädigten Trabants, umgeben von kleinwüchsigen Kiefern. Nun erhält sie das Auto zurück, das keinerlei Spuren eines Gewaltverbrechens aufweist. [15]

Vor dem Besuch der in West-Berlin lebenden Mutter von Horst Einsiedel wird bei dessen Frau in Ost-Berlin eine Abhörwanze installiert. [16] Es soll herausgefunden werden, wie die beiden Frauen auf die „Legendierungsmaßnahmen" reagieren. Erst Ende Mai 1973, mehr als drei Monate nach der Tötung von Horst Einsiedel, erfährt seine Frau von der Staatssicherheit, dass ihr Mann ertrunken und seine Leiche bei Potsdam vor einem Sperrgitter in der Havel aufgefunden worden sei. [17] Als Todesursache wird auf dem Totenschein „Tod durch Ertrinken" [18] eintragen. Zugleich rät ihr die Stasi von einer Identifizierung des angeblich stark verwesten Leichnams ab. Von der bereits erfolgten „operativ abgesicherten" Einäscherung im Krematorium Baumschulenweg erfährt die Witwe nichts. [19] Lediglich eine gefälschte Sterbeurkunde mit dem 17. März als Sterbedatum wird ihr ausgehändigt. [20]

Am Ende eines 1996 eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter der Staatssicherheit und einen Arzt sieht die Berliner Staatsanwaltschaft in der Verschleierung der Todesumstände von Horst Einsiedel den Tatbestand der Anstiftung zur Falschbeurkundung und täterschaftlich begangenen Falschbeurkundung zwar als erfüllt. Da die Täter jedoch aufgrund der Anwendung des milderen bundesrepublikanischen Rechts lediglich mit Freiheitsstrafen unter Strafaussetzung zur Bewährung zu rechnen haben, muss das Verfahren im August 1997 eingestellt werden; das Delikt ist unter diesen Umständen mittlerweile verjährt. [21]

Unter der Kontrolle des MfS wird die Urne mit der Asche von Horst Einsiedel am 5. Juli 1973 in Berlin-Pankow im Grab seines Vaters beigesetzt [22] - an jenem Platz, von dem aus Horst Einsiedel seinen Fluchtversuch unternahm.

Text: Martin Ahrends/Udo Baron

[1] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung der Witwe von Horst Einsiedel durch die Berliner Polizei, 1.7.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 1, Bl. 32/33; siehe auch: Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 15.3.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 33. [2] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung der Witwe von Horst Einsiedel durch die Berliner Polizei, 1.7.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 1, Bl. 32. [3] Ebd., Bl. 33. [4] Vgl. zum Geschehensablauf die Sachverhaltsfeststellungen in: Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.2.1999, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 4, Bl. 58-61. [5] Vgl. Der Tagesspiegel, 16.3.1973. [6] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.2.1999, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 4, Bl. 62. [7] Vgl. ebd., Bl. 48-49. [8] Schwurgerichtsanklage der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht vom 27.7.1999, in: StA Berlin, Az. 27 Js 7/99, Bd. 3, Bl. 224-236, Zitat Bl. 225. [9] Vgl. Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27.6.2002, in: StA Berlin, Az. 27 Js 7/99, Bd. 4, Bl. 79a/79b. [10] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung der Witwe von Horst Einsiedel durch die Berliner Polizei, 1.7.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 1, Bl. 34-35. [11] Vorschlag der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Legendierung des Todes des Grenzverletzers vom 15.3.1973, 16.3.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 42. [12] Vgl. Bericht des MfS/HA IX/9 über Maßnahmen zur Legendierung des Todes des Grenzprovokateurs vom 15.3.1973, 20.3.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 56-58, sowie die vorhergehenden „Vorschläge" und „Maßnahmepläne" zur Legendierung, in: ebd., Bl. 41-43 und 47-49. [13] Vgl. Aufstellung der Mitwisser [durch die VfS Groß-Berlin/Abt. IX], 17.3.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 27-30. [14] Vgl. Maßnahmeplan der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zum Vorschlag über die Legendierung des Todes des Grenzverletzers vom 15.3.1973, 17.3.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 47. [15] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung der Witwe von Horst Einsiedel durch die Berliner Polizei, 21.9.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 1, Bl. 70-71. [16] Bericht des MfS/HA IX/9 über Maßnahmen zur Legendierung des Todes des Grenzprovokateurs vom 15.3.1973, 20.3.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 57. [17] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung der Witwe von Horst Einsiedel durch die Berliner Polizei, 1.7.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 1, Bl. 36. [18] Totenschein für Einsiedel, Horst, 31.5.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 140. [19] Vgl. Bericht des MfS/HA IX/9 über Maßnahmen zur Legendierung des Todes des Grenzprovokateurs vom 15.3.1973, 20.3.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 58; Protokoll der Zeugenvernehmung der Witwe von Horst Einsiedel durch die Berliner Polizei, 1.7.1992, in: StA Berlin, Az. 27 Js 170/91, Bd. 1, Bl. 36-37. [20] Vgl. Sterbeurkunde für Horst Einsiedel vom 1.6.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 143. [21] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin, 13.8.1997, in: StA Berlin, Az. 29 Js 223/96, Bl. 209-210. [22] Vgl. Vermerk [der VfS Groß-Berlin/Abt. IX], 5.7.1973, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 17, Nr. 1, Bl. 151.
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