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Johannes Sprenger: geboren am 3. Dezember 1905, erschossen am 10. Mai 1974 an der Berliner Mauer (Aufnahme 1970)
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Johannes Sprenger

geboren am 3. Dezember 1905
erschossen am 10. Mai 1974


in der Nähe des Hornkleepfades in Altglienicke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln
Nach Mitternacht, gegen 00.40 Uhr, bemerken die auf dem Wachturm "Entenfarm" diensthabenden Grenzsoldaten einen Mann, der sich zwischen Hinterlandzaun und Grenzsignalzaun auf sie zu bewegt, "ohne den Versuch zu unternehmen, weitere Grenzsicherungsanlagen zu überwinden". Als er weniger als einhundert Meter von ihnen entfernt durch den Lichtkegel einer Grenzbeleuchtung gegangen sei, so die Grenzsoldaten, hätten sie ihn vom Wachturm herunter angerufen, er aber sei weiter auf sie zugelaufen. 60 bis 80 Meter ist Johannes Sprenger vom Turm entfernt, als der Postenführer befiehlt: "Schieß!"Johannes Sprenger, geboren am 3. Dezember 1905 im pommerschen Greifenhagen, dem heutigen polnischen Gryfino, ist 68 Jahre alt, als er in der Nacht auf den 10. Mai 1974 von einem Grenzsoldaten erschossen wird. Der in zweiter Ehe verheiratete Vater von neun Kindern lebt bis dahin in Lüttenhagen/Weitendorf im Kreis Neustrelitz. [1] Obwohl er bereits Rente erhält, arbeitet der gelernte Straßenbauer in Weitendorf als Genossenschaftsbauer in der Abteilung Feldwirtschaft der Kooperation Dolgen. Der KPD schon vor 1945 beigetreten, ist er politisch auch in der SED engagiert; seit seiner Verrentung im Jahr 1970 gehört er der Gemeindevertretung seines Heimatortes an. 1974 tritt er als Kandidat der Nationalen Front erneut zu den Kommunalwahlen an und wird am 19. Mai auch gewählt – neun Tage nach seinem Tod, von dem bis dahin niemand etwas weiß, außer der Staatssicherheit.

Auch dass Johannes Sprenger Lungenkrebs hat, weiß niemand in seinem Dorf. Er selbst erfährt von den Ärzten keine klare Diagnose, scheint aber im April 1974 zu spüren, dass es ernst um ihn steht. Der 68-Jährige wird in eine Spezialklinik nach Berlin-Buch überwiesen, doch die dortigen Ärzte lehnen angesichts seines Alters eine Operation ab, behandeln ihn stattdessen medikamentös und durch Bestrahlung. [2] Bei seinem letzten Besuch im Heimatdorf drei Tage vor seinem Tod spricht er zu seiner Frau davon, dass er im Sarg heimkehren werde, ohne ihr jedoch mehr über seinen Zustand zu sagen. [3]

In den Nachmittagsstunden des 9. Mai 1974 sucht Johannes Sprenger mit zwei weiteren Patienten des Klinikums Buch die nahegelegene HO-Gaststätte „Schloßkrug" auf. Mit der Bemerkung, er müsse auf die Toilette und wolle sich an der Theke Zigaretten holen, verlässt er gegen 19.30 Uhr das Lokal. Seine Bekannten warten noch eine Zeitlang auf seine Rückkehr, doch weil er nicht wiederkommt, gehen sie ohne ihn in die Klinik zurück. Johannes Sprenger ist verschwunden. Erst etwa fünf Stunden später taucht er am anderen Ende der Stadt, im Grenzgebiet zwischen Altglienicke und West-Berlin wieder auf.

Was in diesen fünf Stunden mit Johannes Sprenger passiert, ist bis heute ein Rätsel. Zeugen, denen er begegnet sein könnte, werden 1974 und danach nicht gesucht. Wie kommt der Ortsunkundige vom nördlich gelegenen Berlin-Buch in das mehr als 30 Kilometer entfernte Grenzgebiet an den südöstlichen Stadtrand? S-Bahn-Fahrausweise werden bei ihm den Akten zufolge nicht gefunden. Und warum begibt er sich an die Grenze? Um in den Westen zu gelangen, muss er nicht fliehen. Als Rentner darf er in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin reisen. Zweimal, 1970 und 1972, hat er von dieser Erlaubnis Gebrauch gemacht und einen seiner Söhne besucht, der in Westdeutschland lebt. Vermutlich habe Johannes Sprenger nicht fliehen wollen, sucht das Berliner Landgericht im Jahr 2000 nach einer Erklärung, sondern habe sich möglicherweise ins Grenzgebiet begeben, um „durch den von ihm erwarteten Einsatz der Schusswaffen durch die Grenzsoldaten seinem Leben ein Ende zu setzen". [4] Das Gericht macht sich damit eine Spekulation der Stasi zu eigen, die mutmaßte, dass Johannes Sprenger „in einem Zustand der Depression" gehandelt und „mit der Anwendung der Schußwaffe" gerechnet haben könnte. [5] Beweise für diese Spekulation gibt es allerdings nicht; gewichtige Einwände sprechen dagegen. Warum sollte ein depressiver, schwerkranker Mensch, wenn er seinem Leben ein Ende setzen wollte, noch so viele Strapazen auf sich nehmen, wie es Johannes Sprenger tat? Wie auch immer er ins Grenzgebiet nach Altglienicke gelangt und was ihn treibt, vor allem aber auch, wie es der körperlich Geschwächte schafft, über einen Hinterlandzaun in den Todesstreifen zu klettern, bleibt ein Geheimnis.

Nach Mitternacht, gegen 00.40 Uhr, bemerken die auf dem Wachturm „Entenfarm" diensthabenden Grenzsoldaten einen Mann, der sich zwischen Hinterlandzaun und Grenzsignalzaun auf sie zu bewegt, „ohne den Versuch zu unternehmen, weitere Grenzsicherungsanlagen zu überwinden". [6] Als er weniger als einhundert Meter von ihnen entfernt durch den Lichtkegel einer Grenzbeleuchtung gegangen sei, so die Grenzsoldaten, hätten sie ihn vom Wachturm herunter angerufen, er aber sei weiter auf sie zu gelaufen. [7] 60 bis 80 Meter ist Johannes Sprenger vom Turm entfernt, als der Postenführer befiehlt: „Schieß!" Ohne Warnschuss gibt sein Posten einen Feuerstoß von fünf Schüssen ab. Tödlich in Kopf und Hals getroffen, stürzt Johannes Sprenger zu Boden. [8]

Obwohl die Grenzsoldaten den 68-Jährigen problemlos ohne Gewalt hätten festnehmen können, werden Posten und Postenführer für ihr „zweckmäßiges" und „zielstrebiges" Handeln mit dem Leistungsabzeichen der Grenztruppen ausgezeichnet. [9] Ein Vierteljahrhundert später verurteilt sie das Berliner Landgericht wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von jeweils neun Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Dem Postenführer und dem Schützen wird im Urteil zugebilligt, dass sie Johannes Sprenger nicht töten wollten. [10]

Außer den beteiligten Grenzposten scheint auf West- und Ost-Berliner Seite niemand das Geschehen in jener Nacht bemerkt zu haben. Die Staatssicherheit versteht dies als Chance, um die Umstände des Todes von Johannes Sprenger zu „legendieren". Damit soll verhindert werden, wie es in einem Bericht an Stasi-Minister Mielke heißt, dass „über seine in der BRD lebenden Familienangehörigen oder auch im Wohngebiet Gerüchte in Umlauf gesetzt werden bzw. dadurch unkontrolliert Mitteilungen an westliche Massenmedien gelangen, die zur Hetze gegen die Deutsche Demokratische Republik ausgenutzt werden können." [11] Aus völlig anderen Gründen erreicht die politische Stimmung gegen die DDR nicht nur in der Bundesrepublik im Mai 1974 einen Höhepunkt: Die Stasi hatte mit Günter Guillaume einen Spion ins Bonner Kanzleramt eingeschleust. Dessen Entdeckung und Verhaftung Ende April führen am 6. Mai 1974 maßgeblich zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt. Nachrichten über Todesschüsse an der Mauer, so offenbar die Befürchtung, könnten die DDR in dieser Situation zusätzlich diskreditieren.

Johannes Sprenger wird zunächst unter Begleitung des diensthabenden Grenztruppen-Arztes, der seinen Tod bereits festgestellt hat, ins Volkspolizei-Krankenhaus überführt. Dort wird der Leichnam von der Stasi übernommen und – obwohl er seine Personaldokumente bei sich trägt – als „unbekannt" im Gerichtsmedizinischen Institut der Humboldt-Universität „untergebracht", wie es heißt. [12] Auf die obligatorische Obduktion wird verzichtet, um den Mitwisserkreis möglichst klein zu halten. Dann werden der Tote und seine Familie überprüft, die Post seiner Frau und der Familien seiner Kinder kontrolliert.

Als „Volkspolizisten" verkleidet, teilen Stasi-Mitarbeiter der Ehefrau und einem Sohn schließlich neun Tage nach der Tötung von Johannes Sprenger mit – am 19. Mai 1974, dem Tag der Kommunalwahl –, dass er aus dem Klinikum verschwunden sei, befragen die Angehörigen scheinheilig nach seinem Verbleib und versprechen, „Suchmaßnahmen" einzuleiten. [13] Der 68-Jährige wird an diesem Tag erneut in den Rat der Gemeinde Lüttenhagen/Weitendorf gewählt – und die DDR-Behörden tun so, als wäre er noch am Leben.

Als einer seiner Söhne gegenüber den angeblichen „Volkspolizisten" erwähnt, der Vater hätte aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes schon häufiger Selbstmordabsichten geäußert, ändert die Staatssicherheit ihre Strategie. War bis dahin vorgesehen, Johannes Sprenger ohne Benachrichtigung der Angehörigen einfach verschwinden zu lassen und anonym zu bestatten, plant man nun zunächst, ihn in den Rieselfeldern ertrunken aufgefunden zu haben, danach als von eigener Hand erschossen. Schließlich entscheiden sich die „Legendierer" des MfS für eine dritte Todesart. Getarnt als Kriminalpolizisten unterrichten Stasi-Mitarbeiter die Familienangehörigen darüber, dass Johannes Sprenger am 20. Mai 1974 stranguliert in einem Waldstück nahe des Klinikums Buch aufgefunden worden sei: „einwandfreier Selbstmord", wie sie sagen. [14] Die Familie ist schockiert. Mit der Behauptung, sein Leichnam sei wegen der Witterungsbedingungen und der langen Liegezeit schon stark verwest, was die Überführung in den Heimatort nicht angebracht erscheinen lasse, erreicht die Stasi, dass die Angehörigen der angeratenen Einäscherung zustimmen und darauf verzichten, den Toten noch einmal zu sehen. [15] Der von einem Arzt des Gerichtsmedizinischen Instituts der Humboldt-Universität unterschriebene Totenschein, der zwar nicht auf den tatsächlichen Todestag, sondern auf den 20. Mai datiert ist, enthält als Todesursache gleichwohl den Eintrag „offenbar Schussverletzung". [16] Er wird den Angehörigen nicht ausgehändigt.

Einige Tage später trifft die Urne auf dem Postweg in Weitendorf ein; der LPG-Vorsitzende bringt sie der Familie ins Haus. [17] Unter großer Anteilnahme wird Johannes Sprenger am 1. Juni 1974 in seinem Heimatort beigesetzt. Die Trauergemeinde glaubt an einen tragischen Suizid.

Zeitlebens hegt seine Frau Zweifel an der Selbstmordversion. Doch erst zwei Jahre nach ihrem Tod kommt 1997 im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Mauerschützen die Wahrheit über die Todesumstände von Johannes Sprenger ans Licht.

Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle

[1] Vgl. hierzu und zum Folgenden: Gespräch von Hans-Hermann Hertle mit Gerhard Sprenger, 14.11.2008.
[2] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zum Vorgang Sprenger, Johannes, 19.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 66-71. – In den Stasi-Akten findet sich auch die entgegengesetzte Version, dass Johannes Sprenger eine Operation abgelehnt habe. Vgl. [BVfS Neubrandenburg/]KD Neustrelitz, Bericht: Rücksprache mit Frau [Name geschwärzt] zur Aufenthaltsermittlung ihres Ehemannes, Neustrelitz, den 10.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 103.
[3] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zum Vorgang Sprenger, Johannes, 19.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 69. [4] Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Eberhard B., Klaus D. und Peter W., 27 Js 17/95, vom 12.10.2000, in: StA Berlin, Az. 27 Js 17/95, Bl. 108i.
[5] Vgl. Vorschlag der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 15.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 89.
[6] Ebd.
[7] Vgl. zum Geschehensablauf: Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Eberhard B., Klaus D. und Peter W., 27 Js 17/95, vom 12.10.2000, in: StA Berlin, Az. 27 Js 17/95, Bl. 108h ff.
[8] Während der Kopf- und der Halsschuss auf den Leichenfotos eindeutig zu erkennen sind, ist ein Brustschuss, von dem in den Stasi-Akten und im Urteil des Landgerichts Berlin die Rede ist, nicht festzustellen. [9] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Eberhard B., Klaus D. und Peter W., 27 Js 17/95, vom 12.10.2000, in: StA Berlin, Az. 27 Js 17/95, Bl. 108k. [10] Vgl. ebd., Bl. 108j, Bl. 108p. [11] Vgl. Vorschlag der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 15.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 92.
[12] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 10.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 72-74.
[13] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zum Vorgang Sprenger, Johannes, 19.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 66-71.
[14] Vgl. Abschlussbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX vom 24.5.1974, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 155.
[15] Vgl. ebd. [16] Totenschein von Johannes Sprenger, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 19, Nr. 1, Bl. 108. Totenschein und Sterbeurkunde (vgl. ebd, Bl. 149) enthalten mit dem 9. Mai 1974 ein falsches Sterbedatum. [17] Vgl. hierzu und zum Folgenden: Gespräch von Hans-Hermann Hertle mit Gerhard Sprenger, 14.11.2008.
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