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Todesopfer

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Peter Grohganz: Aufnahmedatum unbekannt
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Peter Grohganz

geboren am 25. September 1948
ertrunken zwischen dem 10. Dezember 1980 und dem 9. Februar 1981


in der Spree östlich der Oberbaumbrücke
zwischen Berlin-Friedrichshain und Berlin-Kreuzberg
Am Morgen des 9. Februar 1981 entdeckt die Besatzung eines DDR-Grenzsicherungsbootes in der Spree einen leblosen Körper. In der Gesäßtasche der Hose befinden sich Personaldokumente, die seine Identität offenbaren: Peter Grohganz, 32 Jahre alt, aus einer brandenburgischen Kleinstadt westlich von Berlin gelegen.Am Morgen des 9. Februar 1981 entdeckt die Besatzung eines DDR-Grenzsicherungsbootes in der Spree einen leblosen Körper. Er hat sich östlich der Oberbaumbrücke, in der Nähe des Flutgrabens, in einer Wassersperre verfangen. Der teilweise schon verweste Leichnam wird mit Seilen gesichert, abgeschleppt und an der Elsenbrücke geborgen. Der Tote trägt eine braune Jacke, ein gelb-kariertes Hemd sowie eine blaue lange Hose. In deren Gesäßtasche befinden sich Personaldokumente, die seine Identität offenbaren: Peter Grohganz, 32 Jahre alt, aus einer brandenburgischen Kleinstadt, westlich von Berlin gelegen. [1] Was hat den 32-Jährigen getrieben, mitten im Winter in die eiskalte Spree zu steigen und eine Flucht nach West-Berlin zu wagen?

Peter Grohganz wird am 25. September 1948 in Premnitz geboren. Seine Eltern sind im Chemiefaserwerk beschäftigt, das als größter ortsansässiger Betrieb nur „das Werk“ genannt wird. Die Mutter arbeitet in der Viskoseabteilung, der Vater ist als ehemaliger Angehöriger der Volkspolizei beim Betriebsschutz tätig. Beide sind Mitglied der SED. Die Familie ist geteilt, eine Schwester der Mutter lebt in Hamburg und es gibt weitere Verwandte im Westen. Die Parteimitgliedschaft der Eltern hat offenbar nicht wie in vielen anderen Fällen dazu geführt, die Verbindungen zu unterbrechen.

Peter Grohganz beginnt nach Abschluss der Schule eine Ausbildung zum Schlosser, die er Mitte 1966 erfolgreich abschließt. [2] Von der Mutter ist er sozialistisch erzogen worden, wie er später selbst schreibt. Als Siebenjähriger wird er Junger Pionier, als 14-Jähriger Mitglied der FDJ. Seit 1963 gehört er der Gesellschaft für Sport und Technik an, die auch die vormilitärische Ausbildung von Jugendlichen organisiert. Durch seine Aktivitäten im Klubrat eines Jugendklubhauses fällt noch zu seiner Lehrzeit im März 1966 das Interesse des Staatssicherheitsdienstes auf ihn. Und Peter Grohganz zeigt sich nicht abgeneigt, der Stasi über unangepasste Verhaltensweisen der sich dort treffenden Jugend zu berichten. Ist es seine Erziehung, ist es die Suche nach Anerkennung, ist es die Wichtigtuerei und Abenteuerlust eines Jugendlichen oder die Hoffnung auf Vergünstigungen, die den 17-Jährigen in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes treibt? Die berichtet über ihn, dass er „sehr leicht dem Einfluss negativer Jugendlicher“ unterliege, offen West-Zigaretten rauche und „unausgeglichen in seinem Charakter“ sei. [3]Dennoch: Die Stasi will ihn und am 22. Juni 1966 erklärt sich Peter Grohganz bereit, als Geheimer Informator „die Feinde unter der Jugend zu entlarven“. [4] In seiner handschriftlichen Verpflichtungserklärung entscheidet er sich für den Decknamen „Runge“. [5] Im Herbst 1966 wird er zur Nationalen Volksarmee eingezogen. Grohganz, gerade 18 Jahre alt geworden, verpflichtet sich für drei Jahre als Zeitsoldat. Im ersten Jahr seines Wehrdienstes ist er einem Motorisierten Schützenregiment der 7. Panzerdivision in Eggesin zugeordnet. Danach wird er an die Offiziersschule der Landstreitkräfte „Ernst Thälmann“ versetzt, wo er die Fachrichtung „Mot.-Schützen-Panzer-Kommandeur“ studiert. Die Stasi-Kreisdienststelle seines Heimatortes hat ihren Geheimen Informator der Hauptabteilung I des MfS empfohlen, die unter anderem für die Ausspionierung der Soldaten zuständig ist. Sie setzt Peter Grohganz an der Offiziersschule als „Inoffiziellen Mitarbeiter für Sicherheit“ (IMS) zur Bespitzelung seiner Kameraden ein. Grohganz berichtet seinem Führungsoffizier mancherlei, etwa über eventuelle Fluchtabsichten von Soldaten, wankelmütige Einstellungen, negative Reden – und auch über einen Diebstahl. [6] Doch dann wird er selbst 1969 eines „Diebstahls am Volkseigentum“ bezichtigt, den er mit einem Kameraden während eines Wachdienstes begangen haben soll. Grohganz wird Ende Juni 1969 als Offiziersschüler entlassen. Eine Woche später verurteilt ihn das Militärgericht Dresden zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe, die auf ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt wird. Deshalb und wegen „Unehrlichkeit“ gegenüber der Stasi beendet sie am 30. Oktober 1969 die Zusammenarbeit mit ihm und bricht die Verbindung ab. [7]

Die folgenden zehn Jahre im Leben von Peter Grohganz liegen weitgehend im Dunklen. Noch 1969 hat er geheiratet, das Ehepaar bekommt zwei Kinder. Der ausgebildete Schlosser arbeitet auf einer Baustelle des „Spezialbaukombinats Wasser Weimar“ in Niedergörne. Er ist zwar Mitglied der SED, übt aber keine gesellschaftlichen Funktionen aus, wie es in einem Bericht heißt. [8] Aus Verärgerung über eine Ordnungsstrafe tritt er im Januar 1975 dem stellvertretenden Bürgermeister seines Wohnortes in dessen Sprechstunde zu nahe: Er packt ihn am Jackett. „Man müsste dir eine knallen“, soll er dem Amtsträger angedroht haben. Getan hat er es nicht, sondern sich stattdessen entschuldigt. Dennoch sind eine Anzeige wegen „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“ (§ 214, Abs. 1 des DDR-Strafgesetzbuches) und 400 Mark Geldstrafe die Folge. [9] Die Stasi-Akten weisen ohne nähere Angaben auf weitere Diebstähle in den folgenden Jahren hin, die sich vor allem gegen „sozialistisches“ Eigentum wenden. Peter Grohganz ist damit vorbestraft.

Im März 1980 wird seine Ehe geschieden. Fühlte sich Peter Grohganz in dieser Situation wie jemand, der vor dem Scherbenhaufen seines bisherigen Lebens steht? Oder war er ein Spieler? Jedenfalls hat er ein neues, akutes Problem: Die bisherige Wohnung ist Frau und Kindern zugesprochen, er muss eine neue finden, worum er sich mit einem Antrag bei der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft bemüht. Doch Wohnraum ist in der DDR knapp, es gibt lange Wartelisten – und wenig Hoffnung auf schnelle Zuteilung.

Es folgt ein Paukenschlag: Am 5. April 1980 wendet sich Peter Grohganz an den Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, und stellt handschriftlich einen Antrag auf Ausreise aus der DDR. [10] „Ich möchte einem Staat, der für mich nichts mehr überhat, auch nicht mehr meine Arbeitskraft zur Verfügung stellen“, schreibt Grohganz dem SED-Generalsekretär. „Denn als mehrfach (3x) vorbestrafter Krimineller wurde mir ein Neuanfang bei anderer Arbeit und auch räumlicherseits in einer anderen Stadt (Berlin) unmöglich gemacht.“ Er sei nicht gewillt, zwei Jahre oder mehr auf eine Wohnmöglichkeit zu warten – und schon gar nicht mehr dazu bereit, an „die leeren Phrasen einer Staatsdoktrin zu glauben“. Noch sei er jung genug, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Er bitte darum, ausreisen zu dürfen „und woanders weiterzuleben und besser zu leben als bisher“. Ein Recht auf Ausreise gibt es nicht in der DDR, das weiß Peter Grohganz. Was er wahrscheinlich nicht weiß: Schreiben dieser Art beantworten der Staatsratsvorsitzende und seine Mitarbeiter nicht, sondern leiten sie direkt an den Staatssicherheitsdienst weiter – „zur weiteren Veranlassung“, wie es heißt. Was wiederum zur Folge hat, dass die Stasi die geschilderten Sachverhalte untersucht und prüft, ob eventuelle Mängel kurzfristig zu beseitigen sind, um den Bittsteller zur Rücknahme seines „rechtswidrigen Ersuchens“ zu veranlassen. Ist dies nicht möglich, bearbeitet die Stasi in aller Regel nicht das Gesuch, sondern den Bürger.

Weil Peter Grohganz vom Staatsrat die Mitteilung erhält, dass sein „Ersuchen“ an die zuständigen staatlichen Organe zur weiteren Bearbeitung übersandt worden sei, glaubt er, die Abteilung Innere Angelegenheit beim Rat des Kreises sei sein Ansprechpartner. Ende April 1980 sucht er sie auf. Sein Anschreiben ist dort jedoch nicht bekannt, er wird vertröstet. Vielleicht um den Druck auf die DDR-Behörden zu erhöhen, begibt er sich am 2. Mai 1980 in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Auf deren Anraten bittet er seine in West-Berlin lebende Halbschwester in einem Brief, den die Stasi abfängt, sein Vorhaben zu unterstützen und einen Antrag auf Familienzusammenführung an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke, zu richten. [11]

Am 6. Juni spricht er erneut in der Abteilung Innere Angelegenheit vor, dann am 19. August und schließlich am 16. September zum vierten Mal – ergebnislos: sein Schreiben an den Staatsratsvorsitzenden liegt dort auch nach fünf Monaten nicht vor. Ende September verfügt der Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres des Rates des Kreises aus einem Gespräch mit dem Bürgermeister dann immerhin über Hintergrund-Erkenntnisse zum Wohnantrag von Peter Grohganz: 14 Antragsteller auf Zuweisung von Einraumwohnungen gebe es bei der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft seines Heimatortes, allesamt geschiedene Ehepartner. Bei Grohganz sei sein Versuch allgemein bekannt, unter dem Druck seines Ausreiseantrages Wohnraum zu erhalten. Gebe man dem nach, sei mit weiteren „rechtswidrigen Ersuchen“ dieser Art zu rechnen. Deshalb sei dies nicht möglich – ein Verbleib in der Wohnung der geschiedenen Ehefrau dagegen zumutbar.

Schließlich findet der Leiter der Abteilung Inneres durch eigene Nachforschungen heraus, dass der Brief von Grohganz dem Staatssicherheitsdienst bereit seit April vorliegt, ohne dass seine Abteilung informiert wurde. Grohganz wird zu einem fünften Gespräch einbestellt, möglicherweise über diesen Sachverhalt und die Aussichtslosigkeit seines Wohnantrages informiert – und erklärt kurz und bündig: „Hiermit beantrage ich die Rücknahme meines Ausreiseantrages, der auf Grund von Verärgerung zustande gekommen ist.“ [12]

Am 23. September besucht Peter Grohganz die ihm aus seiner früheren Tätigkeit bekannte Dienststelle des MfS und gibt dort zu Protokoll: „Er habe jetzt die Möglichkeit, noch mal von vorne anzufangen. Er möchte beim Zentralzirkus als Kraftfahrer eine Tätigkeit aufnehmen und dazu müsste er disponibel sein.“ [13] Eine Wohnung sei ihm zugesichert - und schon immer sei es sein Wunsch gewesen, Tierpfleger zu werden. Er bittet um Unterstützung des MfS für die Ausstellung eines Personalausweises. Als Vorbestrafter verfügt er lediglich über einen sogenannten PM 12 – einen Behelfsausweis, der seinen Bewegungsraum einschränkt und mit Meldeauflagen bei der Volkspolizei verbunden ist. Der ihm erteilte Ratschlag des Stasi-Mitarbeiters, sich an die zuständigen Dienststellen der Volkspolizei zu wenden, wird ihm wenig hilfreich erschienen sein. Von dort hatte er schon die Auskunft erhalten, dass frühestens in sechs Wochen eine Entscheidung getroffen werden könne – seine Hoffnung, dass die Einschaltung des MfS den Vorgang zu seinen Gunsten beschleunigen könne, erfüllt sich nicht. Sein Stasi-Gesprächspartner sichert ihm lediglich zu, dass er jegliche Unterstützung von den staatlichen Organe erhalten werde, sobald er bewiesen habe, dass er mit seiner Vergangenheit Schluss gemacht habe und ein tadelloses Leben führe. Zerplatzt in diesem Gespräch tatsächlich ein Lebenstraum – oder nur eine fixe Idee?

Nach dem Fund der Leiche in der Spree am 9. Februar 1981 klärt die Stasi auf: Peter Grohganz, Anfang 1980 noch als Fahrer im Bau- und Montagekombinat Brandenburg Ost tätig, seit Ende Mai als Kraftfahrer in einem Möbelbetrieb, wechselte Anfang Oktober 1980 als Schlosser zum VEB Stahl- und Walzwerk Brandenburg, wo er auch eine Nebenwohnung bezog. Dort arbeitete er bis zum 10. Dezember, nahm dann drei Tage Urlaub und kehrte nicht zurück. Am 5. Januar 1981 wurde seine Personalakte vom VEB Verkehrsbetriebe Berlin angefordert und am 23. Januar 1981 kommentarlos zurückgeschickt. Beim Antritt seines Kurzurlaubs am 10. Dezember 1980 hatte Peter Grohganz bei einer Kollegin im Stahlwerk einen Brief hinterlassen, den ein Stasi-Bericht folgendermaßen wiedergibt: [14]: „Sie werden sich wundern, wenn ich nicht zurückkehre. Die Kaffeemaschine schicken Sie bitte zu Frau X. [15], Brandenburg. Die anderen Sachen verschenken Sie bitte. Den Restlohn überweisen Sie den Kindern.“

Text: Hans-Hermann Hertle

[1] Telegramm des PdVP Berlin, 9.2.1981, in: BStU, Ast. Potsdam, Allg. P 615/81, Bl. 43. [2] Handschriftlicher Lebenslauf, 1.10.1964, in: BStU, MfS, P 13873/69, Bd. I, Bl. 14. [3] KD Rathenow/Operativgruppe Premnitz, Betr.: Vorschlag zur Anwerbung, Premnitz, 14.6.1966, in: BStU, MfS, P 13873/69, Bd. I, Bl. 27. [4] KD Rathenow/Operativgruppe Premnitz, Betr.: Bericht über durchgeführte Werbung, Premnitz, 22.6.1966, in: BStU, MfS, P 13873/69, Bd. I, Bl. 34. [5] Handschriftliche Verpflichtung von Peter Grohganz, 21.6.1966, in: BStU, MfS, P 13873/69, Bd. I, Bl. 37. [6] Vgl. dazu die Aufträge und Treffberichte in: BStU, MfS, AIM 13873/69, Teil A, Bl. 22ff. [7] Vgl. HA I/MB III/7. PD, Beschluss für das Einstellen eines IMS-Vorganges, Löbau, den 30. Oktober 1969, in: BStU, MfS, P 13873/69, Bd. I, Bl. 50/51. [8] Vgl. Volkspolizei-Kreisamt Rathenow/Kriminalpolizei, Sofortmeldung. Betreff: Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit, Rathenow, den 10.1.1975, in: BStU, Ast. Potsdam, Allg. P. 615/81, Bl. 5. [9] Vgl. ebd., Bl. 5. [10] Vgl. hierzu und zum Folgenden: Peter Grohganz, Betr.: Antrag auf Ausreise aus der DDR, in: BStU, Ast. Potsdam, Allg. P. 615/81, Bl. 6/7. [11] BVfS Potsdam/KD Rathenow, Schreiben an die BVfS Potsdam, Abt. II, Rathenow, 18.8.1980, in: BStU, Ast. Potsdam, Allg. P. 615/81, Bl. 24. [12] Abschrift eines Schreibens von Peter Grohganz, 23.9.1980, in: BStU, Ast. Potsdam, Allg. P. 615/81, Bl. 31. [13] (MfS-)KD Rathenow, Aktenvermerk, Rathenow, 23.9.1980, in: BStU, Ast. Potsdam, Allg. P. 615/81, Bl. 33. [14] Zit. nach: BV Potsdam/Stellvertreter Operativ, Telegramm an Genossen Oberst Seidak und AKG, 10.2.1981, in: BStU, Ast. Potsdam, Allg. P. 615/81, Bl. 37. [15] Name geschwärzt.
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