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Todesopfer

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Thomas Taubmann: geboren am 22. Juli 1955, tödlich verunglückt am 12. Dezember 1981 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Thomas Taubmann

geboren am 22. Juli 1955
tödlich verunglückt am 12. Dezember 1981


unterhalb der Bösebrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Prenzlauer Berg und Berlin-Wedding
Als am Abend des 12. Dezember 1981 ein Güterzug an der Ausfahrt des Bahnhofes Berlin-Pankow in Richtung Stadtmitte einen kurzen Zwischenstopp einlegt, nutzt Thomas Taubmann die Gelegenheit, um unbemerkt auf den Zug zu klettern. Unter der "Böse Brücke", in unmittelbarer Nähe des Grenzübergangs Bornholmer Straße, springt der 26-jährige ab.In jenen denkwürdigen Tagen, als im Winter 1981 die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten vom 11. bis 13. Dezember an einem Tisch saßen, starb mitten in Berlin – und dennoch von der Öffentlichkeit unbemerkt – ein junger Mann bei dem Versuch, in den Westteil der Stadt zu fliehen. Unweit von Berlin, im Schloss Hubertusstock am Werbellinsee, verhandelte Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker unter anderem über menschliche Erleichterungen im innerdeutschen Reiseverkehr, – und Thomas Taubmann führte seine Verzweiflung an die Mauer, von deren Überwindung er sich die Lösung seiner Probleme erhoffte.
Thomas Taubmann, tödlich verunglückt an der Berliner Mauer: Personalausweis
Thomas Taubmann wird am 22. Juli 1955 in Berlin geboren. [1] Als einziges Kind seiner Eltern wächst er in Weißensee im Ostteil der Stadt auf. Da seine Mutter aus West-Berlin stammt, hat die Familie reichlich West-Verwandtschaft, zu der sie auch nach der Trennung durch die Mauer Kontakt hält. Die Eltern wahren Distanz zum politischen Regime – und erziehen ihren Sohn in diesem Geist.

In Weißensee wird Thomas Taubmann eingeschult. Als guter Schwimmer besucht er zwischenzeitlich eine Sportschule, bis ihm die Belastung zu groß wird. Nach Abschluss der zehnten Klasse absolviert er im Wohnungsbaukombinat eine Lehre als Maschinenschlosser. Danach entwickelt er sich zum Spezialisten für Kranreparaturen weiter. Aufgrund seiner fachlichen Fähigkeiten delegiert ihn sein Betrieb an die Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik in Lichtenberg, an der er 1977 ein Studium aufnimmt. Zuvor hat er geheiratet; 1976 bekommt das junge Paar Nachwuchs: ein Sohn kommt auf die Welt. Die Zukunft scheint es gut mit der jungen Familie zu meinen.

Doch im Jahr 1979 wendet sich das Leben des nun 24-Jährigen abrupt. Seine Ehe gerät in die Krise und wird geschieden; kurz vor dem Abschluss bricht Thomas Taubmann sein Studium ab. In der Folgezeit ist er in gastronomischen Einrichtungen als Kellner tätig, bevor ihm eine Tätigkeit als Havarieschlosser im Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober" zugewiesen wird.

Nach der Ehescheidung zieht er für kurze Zeit zurück zu den Eltern. Anschließend bezieht er eine „Ausbauwohnung" in Weißensee, deren desolater Zustand ihn immer wieder zu seiner Großmutter flüchten lässt. Irgendetwas hat ihn aus der Bahn geworfen; er hat ein Alkoholproblem und findet den Weg nicht zurück. Im Herbst 1981 hat er bei einem Einkauf kein Geld dabei. Als er versucht, die Kaufhalle mit seinen Waren, aber ohne Bezahlung zu verlassen, wird er ertappt. Das Angebot der Eltern, den Schaden zu begleichen, wird aus „erzieherischen Gründen" abgelehnt. Am 14. Dezember 1981 soll er vor Gericht für sein Verhalten gerade stehen – ausgerechnet in Weißensee, wo seine Mutter als Schöffin tätig ist. Sein Sohn, so meint der Vater, habe diese Situation wahrscheinlich als demütigend und peinlich empfunden – für sich und vor allem für seine Mutter. Ob es nach längeren Überlegungen der letzte Auslöser war oder ein Spontanentschluss: Thomas Taubmann beschließt zu fliehen.

Am Samstag, dem 12. Dezember 1981, herrschen leichter Frost und klare Sicht. Eine dünne Schneedecke überzieht die geteilte Stadt. [2] Thomas Taubmann trinkt sich Mut an, zuviel – Mut. Als am Abend ein Güterzug an der Ausfahrt des Bahnhofes Berlin-Pankow in Richtung Stadtmitte einen kurzen Zwischenstopp einlegt, nutzt er die Gelegenheit, um unbemerkt auf den Zug zu klettern. Unter der „Bösebrücke", direkt am Grenzübergang Bornholmer Straße, springt der 26-Jährige ab. Was dann geschieht, lässt sich nur vermuten. Die Mauer ist hier höher als sonst überall in der Stadt, fast fünf Meter. Vermutlich prallt er von ihr ab. Die Stasi folgert aus der Spurenlage, dass er nach dem Absprung unter den Güterzug gerät und dabei überrollt wird. Wenig später entdeckt der Lokführer eines entgegenkommenden Zuges einen dunklen Gegenstand auf den Gleisen; er unterrichtet die Transportpolizei, die den Toten bergen wird. [3]

Noch in der gleichen Nacht finden Kriminalpolizisten des Transportpolizeiamtes bei einer Durchsuchung der Wohnung von Thomas Taubmann einen versiegelten, an die Eltern adressierten Umschlag. Er enthält einen Abschiedsbrief, der nicht auf den Abend des Fluchtversuchs, sondern den Tag davor, den 11. Dezember, datiert ist. Von all seinen Sorgen, die ihn erdrückten, müsse er soweit wie möglich weg, teilt Thomas Taubmann darin seinen Eltern mit. Deshalb sei er in die CSSR gefahren, um einen Fluchtversuch über die tschechoslowakisch-österreichische Grenze zu unternehmen. [4] Demnach änderte der 26-Jährige entweder seinen Plan – oder er legte für den Fall seines Scheiterns an der Berliner Mauer bewusst eine falsche Fährte, um seine Eltern vor Repressalien wegen Mitwisserschaft zu schützen.

Am Morgen des 13. Dezember 1981, einem Sonntag, ziehen Trapo-Kriminalisten bei den Eltern Erkundigungen über ihren Sohn ein, ohne zunächst einen Grund dafür anzugeben. Erst auf drängende Nachfragen des Vaters berichten sie vage von einem tödlichen Unfall ihres Sohnes unter starkem Alkoholeinfluss, der noch nicht ganz geklärt sei. Zur Identifizierung des Leichnams bringen sie die Eltern ins Gerichtsmedizinische Institut der Charité.

Noch am gleichen Tag entscheidet die Staatssicherheit in Absprache mit der Transportpolizei, dass der gescheiterte Fluchtversuch „als Unfall mit Todesfolge durch Überfahren mit einem Zug weiterbearbeitet und abgeschlossen wird". [5] Vom Inhalt des Abschiedsbriefes sollen die Eltern deshalb keine Kenntnis erhalten, nicht einmal von dessen Existenz. [6] Sorgfältig wird recherchiert, wer den Vorfall von Ost- oder West-Berlin oder von einem vorbeifahrenden Zug aus gesehen haben könnte. [7] Offenbar ist die Staatssicherheit wegen des deutsch-deutschen Gipfeltreffens am Werbellinsee besonders daran interessiert, Thomas Taubmanns tödlichen Fluchtversuch nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Drei Tage nach seinem Tod werden die Eltern zur Transportpolizei nach Karlshorst vorgeladen und dort mehr als drei Stunden getrennt verhört. Dem Vater will man zunächst einen Freitod nahelegen – den er jedoch für unmöglich hält. Weil er auf der Mitteilung von Einzelheiten besteht, erfährt er von dem Abschiedsbrief seines Sohnes, den man ihm aber nicht aushändigen und den er auch nicht einsehen dürfe. Schließlich liest ihm sein Vernehmer dennoch einige Sätze vor – und er erfährt, dass sich der „Unfall" im Grenzbereich an der Bornholmer Straße ereignete, mehr aber auch nicht.
Thomas Taubmann wird Ende Januar 1982 auf dem Städtischen Friedhof Weißensee in Anwesenheit von Westverwandten beigesetzt - unter argwöhnischer Beobachtung der Sicherheitsorgane. Da die Familie keinerlei Beweise für den Fluchtversuch hat, macht sie das Geschehen im Westen nicht öffentlich.

So wird der gescheiterte Fluchtversuch von Thomas Taubmann erst nach 1990 bekannt. 27 Jahre nach seinem Tod, den die 1999 verstorbene Mutter nie verkraftet hat, erfährt der Vater aus den Stasi-Unterlagen die genauen Todesumstände seines Sohnes. Und erst jetzt hält er zwar immer noch nicht das Original, aber eine Kopie des ihm vorenthaltenen Abschiedsbriefes seines Sohnes in Händen, der mit den Worten schließt: „Ich weiß, daß ich durch diesen Schritt sämtliche Türen hinter mir zuschlage, aber ich bin mir der Konsequenzen völlig bewusst. Ich melde mich spätestens am Montag bei Euch." [8]

Text: Hans-Hermann Hertle

[1] Die folgenden Ausführungen beruhen, soweit nicht anders ausgewiesen, auf: Gespräch von Hans-Hermann Hertle und Lydia Dollmann mit dem Vater von Thomas Taubmann, 8.12.2008, sowie Aufzeichnungen des Vaters zum Umgang mit den Eltern.
[2] Vgl. [Trapo], Ereignisortbefundsbericht, 12.12.1981, in: BStU, MfS, AP 7643/82, Bl. 9.
[3] Vgl. [BVfS Berlin/Abt. IX], Information, Berlin, den 13.12.1981, in: BStU, MfS, AP 7643/82, Bl. 4-6; [Trapo], Ereignisortbefundsbericht, 12.12.1981, in: Ebd., Bl. 8-9; Bericht der [MfS-]Hauptabteilung I/Grenzkommando Mitte/Abwehr/Unterabteilung GR-33 über das Auffinden einer tödlich verletzten Person, 13.12.1981, in: Ebd., Bl. 10-11. [4] Vgl. Abschiedsbrief von Thomas Taubmann an seine Eltern, 11.12.1981, in: BStU, MfS, AP 7643/82, Bl. 59. – Wiedergegeben mit Genehmigung des Vaters.
[5] [BVfS Berlin/]Abt. IX/SK, Aktenvermerk, Berlin, den 14.12.1981, in: BStU, MfS, AP 7643/82, Bl. 61.
[6] Ebd. [7] BVfS Berlin/Untersuchungsabteilung, Vernehmungsprotokoll des Zeugen K., Klaus-Peter, Berufsoffizier, Grenzregiment 33, Berlin, 13.12.1981, in: BStU, MfS, AP 7643/82, Bl. 33-34.
[8] Abschiedsbrief von Thomas Taubmann an seine Eltern, 11.12.1981, in: BStU, MfS, AP 7643/82, Bl. 59. – Zitiert mit Genehmigung des Vaters.
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