geboren am 11. September 1951
ertrunken am 3. September 1986
im Sacrower See
am Außenring zwischen Groß Glienicke (Potsdam-Land) und Berlin-Spandau
Die beiden Männer haben unwegsame Sumpf- und Schilfgebiete zu durchqueren, bis sie bei Dunkelheit an den Sacrower See gelangen. Es sind etwa 500 Meter bis zum anderen Ufer. Vorsicht ist geboten, da Scheinwerfer in unregelmäßigen Abständen das Gebiet ableuchten. Während der Jüngere zügig vorweg schwimmt, dürfte Rainer Liebeke seine Schlüsselbeinverletzung zunehmend behindert haben.
Kurz vor seinem 35. Geburtstag, am 3. September 1986, ertrinkt Rainer Liebeke bei dem Versuch, nach West-Berlin zu flüchten, im Sacrower See nördlich von Potsdam. Bis dahin hat er mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn in seiner Geburtsstadt Gotha gelebt. Er ist gelernter Kraftfahrzeugschlosser und arbeitet als Taxifahrer beim VEB Kraftverkehr Erfurt. Seine Leidenschaft gilt dem Motorradsport. Als Mitglied des Motorclubs Gotha nimmt er an allen wichtigen Rennen der 50 ccm-Klasse in der DDR teil. 1985 steigt er zum Lizenzrennfahrer im "Allgemeinen Deutschen Motorsportverband" (ADMV) der DDR auf. [1]
Die Begeisterung für den Motorradsport teilt er mit dem neun Jahre jüngeren Dirk K. aus dem Kreis Eisenach, den er 1980 in seinem Sportclub kennen gelernt hat. Über ihn kommt Rainer Liebeke 1982 mit einem Rennfahrer und dessen Familie aus der Bundesrepublik zusammen, der auch für den Nachschub an raren Ersatzteilen sorgt. In den folgenden Jahren treffen sich die Motorsportler aus dem Osten gelegentlich in Gotha mit dem Sportkameraden aus dem Westen, 1986 verbringen sie einen gemeinsamen Urlaub in Ungarn am Balaton.
Kaum aus dem Urlaub zurück, häufen sich bei Rainer Liebeke die schlechten Nachrichten. Zunächst erfährt er, dass der ADMV die Rennen in seiner Klasse einstellen will, dann stürzt er beim Schleizer Dreieck-Rennen und bricht sich das Schlüsselbein. Seine Familie rät ihm, den Rennsport aufzugeben. Doch kaum geht es ihm gesundheitlich wieder etwas besser, beginnt er damit, sein Motorrad auf eine größere Hubraumklasse umzurüsten. Dirk K., der genauso wie Rainer Liebeke von den Veränderungen im Motorsport betroffen ist, hilft ihm dabei. [2]
Am 1. und 2. September 1986 ist Dirk K. wieder zu Gast bei dem noch immer krankgeschriebenen Rainer Liebeke. In dieser Zeit müssen die beiden Männer nach Ansicht der Mutter von Dirk K. den Entschluss gefasst haben, nach West-Berlin zu fliehen. [3] Rainer Liebekes Unzufriedenheit mit dem Leben in der DDR reicht bis in die Anfänge der 1970er Jahre zurück. Damals hatte er eine Spritztour mit einem BMW unternommen, der seiner in Gotha zu Besuch weilenden Cousine aus dem Westen gehörte. Einen Tag später wurde er an seiner Arbeitsstelle von der Staatssicherheit abgeholt und stundenlang verhört. Nach Aussage seiner Schwester veränderte ihn dieses Erlebnis. Seither habe er sich eingeengt und gegängelt gefühlt. [4]
Am Tag seiner Flucht, dem 2. September 1986, erzählt Rainer Liebeke seiner Frau, er wolle mit Dirk K. einen Mechaniker in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) besuchen, um Ersatzteile für sein Motorrad zu besorgen. [5] Doch statt nach Karl-Marx-Stadt fahren die beiden Männer mit dem Zug nach Potsdam. Von dort aus machen sie sich auf den Weg zum Sacrower See, dessen östliche Seite Grenzgebiet ist. Der Begleiter von Rainer Liebeke ist mit diesem Grenzabschnitt bestens vertraut, hier leistete er zwischen 1983 und 1985 seinen Wehrdienst ab. [6]
Die beiden Männer haben unwegsame Sumpf- und Schilfgebiete zu durchqueren, bis sie bei Dunkelheit an den Sacrower See gelangen. Es sind etwa 500 Meter bis zum anderen Ufer. Vorsicht ist geboten, da Scheinwerfer in unregelmäßigen Abständen das Gebiet ableuchten. Während der Jüngere zügig vorweg schwimmt, dürfte Rainer Liebeke seine Schlüsselbeinverletzung zunehmend behindert haben. Bereits in Potsdam hatte er Dirk K. darum gebeten, seinen Schulterverband noch einmal festzuziehen. [7] Mit leisen Zurufen versuchen die Männer, miteinander in Kontakt zu bleiben. Doch als Dirk K. das Ufer erreicht, merkt er, dass der Ältere nicht mehr hinter ihm ist. Er sucht noch einige Zeit nach ihm, dann setzt er, um sich nicht selbst zu gefährden, seine Flucht durch den Wald fort. Ziemlich genau in der Mitte zwischen zwei weit auseinander liegenden Postentürmen und von diesen nicht einsehbar, überwindet Dirk K. mit Hilfe eines Baumpfahles schließlich die Grenzanlagen, die ihn noch vom Havelufer trennen. Er löst dabei Alarm aus, doch als die Grenzposten nach ihm fahnden, ist er schon über die Grenze geschwommen, die hier in der Flussmitte verläuft. "Die Spur verliert sich feindwärts des vorderen Sperrelements in Richtung Havel" [8], heißt es in einem Bericht des Grenztruppenkommandeurs. Unversehrt erreicht er das West-Berliner Ufer. [9]
Rainer Liebeke hingegen überlebt die Flucht nicht; zwei Schüler entdecken eine Woche später seinen Leichnam im Sacrower See und benachrichtigen die Volkspolizei. Kurz darauf wird er von der Besatzung eines Bootes der DDR-Grenztruppen geborgen und anhand der mitgeführten persönlichen Unterlagen identifiziert. [10]
Vergeblich wartet Rainer Liebekes Frau auf eine Nachricht ihres Mannes; gegenüber der Staatssicherheit gibt sie an, nicht in seine Fluchtpläne eingeweiht zu sein. Von einer Bekannten aus der Bundesrepublik erfährt sie am 5. September 1986 telefonisch, dass ihr Mann mit seinem Freund einen Fluchtversuch unternommen hätte, aber nicht im Westen angekommen sei. Da sie annimmt, ihr Mann sei noch am Leben und möglicherweise verhaftet worden, gibt sie vier Tage später eine Vermisstenanzeige auf. Doch erst am 19. September erfahren sie und die anderen Angehörigen von der Stasi die Todesnachricht. [11] In den folgenden Tagen wird die Witwe mehrmals von der Staatssicherheit befragt; am Arbeitsplatz fühlt sie sich ausgestoßen, wird hin- und hergeschoben. [12] Selbst ihr Sohn wird an der Schule abgefangen und nach seinen Eltern befragt. [13]
Unfallsterbegeld und eine Lebensversicherung werden der Witwe nicht ausgezahlt, da nach Auffassung der DDR-Behörden "der Eintritt des Todes [von Rainer Liebeke, d. Vf.] im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen des Verstorbenen stand". [14] Am 3. Oktober 1986 wird die Urne mit den sterblichen Überresten von Rainer Liebeke auf dem Friedhof in Gotha beigesetzt. [15] Seine Witwe siedelt nach der Bewilligung ihres Ausreiseantrages 1988 mit ihrem Sohn in die Bundesrepublik über.
Text: Udo Baron
Die Begeisterung für den Motorradsport teilt er mit dem neun Jahre jüngeren Dirk K. aus dem Kreis Eisenach, den er 1980 in seinem Sportclub kennen gelernt hat. Über ihn kommt Rainer Liebeke 1982 mit einem Rennfahrer und dessen Familie aus der Bundesrepublik zusammen, der auch für den Nachschub an raren Ersatzteilen sorgt. In den folgenden Jahren treffen sich die Motorsportler aus dem Osten gelegentlich in Gotha mit dem Sportkameraden aus dem Westen, 1986 verbringen sie einen gemeinsamen Urlaub in Ungarn am Balaton.
Kaum aus dem Urlaub zurück, häufen sich bei Rainer Liebeke die schlechten Nachrichten. Zunächst erfährt er, dass der ADMV die Rennen in seiner Klasse einstellen will, dann stürzt er beim Schleizer Dreieck-Rennen und bricht sich das Schlüsselbein. Seine Familie rät ihm, den Rennsport aufzugeben. Doch kaum geht es ihm gesundheitlich wieder etwas besser, beginnt er damit, sein Motorrad auf eine größere Hubraumklasse umzurüsten. Dirk K., der genauso wie Rainer Liebeke von den Veränderungen im Motorsport betroffen ist, hilft ihm dabei. [2]
Am 1. und 2. September 1986 ist Dirk K. wieder zu Gast bei dem noch immer krankgeschriebenen Rainer Liebeke. In dieser Zeit müssen die beiden Männer nach Ansicht der Mutter von Dirk K. den Entschluss gefasst haben, nach West-Berlin zu fliehen. [3] Rainer Liebekes Unzufriedenheit mit dem Leben in der DDR reicht bis in die Anfänge der 1970er Jahre zurück. Damals hatte er eine Spritztour mit einem BMW unternommen, der seiner in Gotha zu Besuch weilenden Cousine aus dem Westen gehörte. Einen Tag später wurde er an seiner Arbeitsstelle von der Staatssicherheit abgeholt und stundenlang verhört. Nach Aussage seiner Schwester veränderte ihn dieses Erlebnis. Seither habe er sich eingeengt und gegängelt gefühlt. [4]
Am Tag seiner Flucht, dem 2. September 1986, erzählt Rainer Liebeke seiner Frau, er wolle mit Dirk K. einen Mechaniker in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) besuchen, um Ersatzteile für sein Motorrad zu besorgen. [5] Doch statt nach Karl-Marx-Stadt fahren die beiden Männer mit dem Zug nach Potsdam. Von dort aus machen sie sich auf den Weg zum Sacrower See, dessen östliche Seite Grenzgebiet ist. Der Begleiter von Rainer Liebeke ist mit diesem Grenzabschnitt bestens vertraut, hier leistete er zwischen 1983 und 1985 seinen Wehrdienst ab. [6]
Die beiden Männer haben unwegsame Sumpf- und Schilfgebiete zu durchqueren, bis sie bei Dunkelheit an den Sacrower See gelangen. Es sind etwa 500 Meter bis zum anderen Ufer. Vorsicht ist geboten, da Scheinwerfer in unregelmäßigen Abständen das Gebiet ableuchten. Während der Jüngere zügig vorweg schwimmt, dürfte Rainer Liebeke seine Schlüsselbeinverletzung zunehmend behindert haben. Bereits in Potsdam hatte er Dirk K. darum gebeten, seinen Schulterverband noch einmal festzuziehen. [7] Mit leisen Zurufen versuchen die Männer, miteinander in Kontakt zu bleiben. Doch als Dirk K. das Ufer erreicht, merkt er, dass der Ältere nicht mehr hinter ihm ist. Er sucht noch einige Zeit nach ihm, dann setzt er, um sich nicht selbst zu gefährden, seine Flucht durch den Wald fort. Ziemlich genau in der Mitte zwischen zwei weit auseinander liegenden Postentürmen und von diesen nicht einsehbar, überwindet Dirk K. mit Hilfe eines Baumpfahles schließlich die Grenzanlagen, die ihn noch vom Havelufer trennen. Er löst dabei Alarm aus, doch als die Grenzposten nach ihm fahnden, ist er schon über die Grenze geschwommen, die hier in der Flussmitte verläuft. "Die Spur verliert sich feindwärts des vorderen Sperrelements in Richtung Havel" [8], heißt es in einem Bericht des Grenztruppenkommandeurs. Unversehrt erreicht er das West-Berliner Ufer. [9]
Rainer Liebeke hingegen überlebt die Flucht nicht; zwei Schüler entdecken eine Woche später seinen Leichnam im Sacrower See und benachrichtigen die Volkspolizei. Kurz darauf wird er von der Besatzung eines Bootes der DDR-Grenztruppen geborgen und anhand der mitgeführten persönlichen Unterlagen identifiziert. [10]
Vergeblich wartet Rainer Liebekes Frau auf eine Nachricht ihres Mannes; gegenüber der Staatssicherheit gibt sie an, nicht in seine Fluchtpläne eingeweiht zu sein. Von einer Bekannten aus der Bundesrepublik erfährt sie am 5. September 1986 telefonisch, dass ihr Mann mit seinem Freund einen Fluchtversuch unternommen hätte, aber nicht im Westen angekommen sei. Da sie annimmt, ihr Mann sei noch am Leben und möglicherweise verhaftet worden, gibt sie vier Tage später eine Vermisstenanzeige auf. Doch erst am 19. September erfahren sie und die anderen Angehörigen von der Stasi die Todesnachricht. [11] In den folgenden Tagen wird die Witwe mehrmals von der Staatssicherheit befragt; am Arbeitsplatz fühlt sie sich ausgestoßen, wird hin- und hergeschoben. [12] Selbst ihr Sohn wird an der Schule abgefangen und nach seinen Eltern befragt. [13]
Unfallsterbegeld und eine Lebensversicherung werden der Witwe nicht ausgezahlt, da nach Auffassung der DDR-Behörden "der Eintritt des Todes [von Rainer Liebeke, d. Vf.] im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen des Verstorbenen stand". [14] Am 3. Oktober 1986 wird die Urne mit den sterblichen Überresten von Rainer Liebeke auf dem Friedhof in Gotha beigesetzt. [15] Seine Witwe siedelt nach der Bewilligung ihres Ausreiseantrages 1988 mit ihrem Sohn in die Bundesrepublik über.
Text: Udo Baron
[1]
Vgl. Telegramm der BVfS Erfurt/Abt. IX an das MfS/HA IX und das MfS/ZKG über Fluchtversuch und Fahndung nach dem Mitflüchtling von Rainer Liebeke, 24.9.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 1, Bl. 87.
[2]
Vgl. Untersuchungsbericht der BVfS Erfurt/Untersuchungsabteilung, 26.11.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 1, Bl. 194-195; Vermisstenanzeige für Rainer Liebeke bei dem VPKA Gotha durch die Ehefrau von Rainer Liebeke, 12.9.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 2, Bl. 86-87.
[3]
Vgl. Niederschrift des MfS/KD Eisenach über eine Aussprache mit den Eltern von Dirk K., 22.11.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 1, Bl. 156-157.
[4]
Vgl. Gespräch von Udo Baron mit der Schwester von Rainer Liebeke, 29.10.2007.
[5]
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Untersuchungsbericht der BVfS Erfurt/Untersuchungsabteilung, 26.11.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 1, Bl. 198.
[6]
Ebd., Bl. 198.
[7]
Vgl. Niederschrift des MfS/KD Eisenach über eine Aussprache mit den Eltern von Dirk K., 22.11.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 1, Bl. 156.
[8]
Untersuchungsbericht des Kommandeurs des Grenzkommandos Mitte zum Grenzdurchbruch DDR/Berlin (West) am 3.9.1986, 5.9.1986, in: BArch, GT 14514, Bl. 134.
[9]
Vgl. Tagesmeldung Nr. 3/9/86 des MfS, 3.9.1986, in: BStU, MfS, HA I Nr. 10341, Bl. 400.
[10]
Vgl. Anzeige durch das VPKA Potsdam über die Auffindung der Leiche von Rainer Liebeke, 12.9.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2103/87, Bd. 3, Bl. 4-5; Tagesmeldung Nr. 12/9/86 des MfS, 13.9.1986, in: BStU, MfS, HA I Nr. 10341, Bl. 377-379.
[11]
Vgl. Gespräch von Udo Baron mit der Witwe von Rainer Liebeke, 18.2.2008; Brief von Beate B., der Schwester von Rainer Liebeke, an Udo Baron, 1.11.2007; Telegramm der BVfS Erfurt/Abt. IX an das MfS/HA IX und das MfS/ZKG über Fluchtversuch und Fahndung nach dem Mitflüchtling von Rainer Liebeke, 24.9.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 1, Bl. 87-88.
[12]
Aktenvermerk des MfS/KD Gotha zum durchgeführten Gespräch mit der Person [Name geschwärzt; der Witwe von Rainer Liebeke, d. Vf.] am 27.10.1986, 28.10.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 1, Bl. 222.
[13]
Vgl. Gespräch von Udo Baron mit der Witwe von Rainer Liebeke, 18.2.2008.
[14]
Schreiben des MfS an die Staatliche Versicherung der DDR/Kreisdirektion Gotha, 11.12.1986, in: BStU, Ast. Erfurt, AU 2100/87, Bd. 4, Bl. 24.
[15]
Vgl. Gespräch von Udo Baron mit der Schwester von Rainer Liebeke, 29.10.2007; Gespräch von Udo Baron mit der Witwe von Rainer Liebeke, 18.2.2008.