Gerhard Schürer: Persönliche Aufzeichnungen über die Sitzung des SED-Politbüros am 17. Oktober 1989
Gerhard Schürer: Persönliche Aufzeichnungen über die Sitzung des SED-Politbüros am 17. Oktober 1989Abschrift
Gerhard Schürer
Persönliche Aufzeichnungen über die Sitzung des SED-Politbüros am 17. Oktober 1989
[1]
- 1 -
- Antrag Stoph [2]
- Kurt Hager:
Unterstützt den Antrag von Stoph.
Verdienste E. Honecker.
Zeit verlangt flexible Führung.
Acht Gen(ossen) des ZK fordern die Ablösung.
ZK soll entscheiden weitere Konsequenzen.
ZK nicht nach übl(ichem) Schema.
Erwartung erfüllen, die Erklärung im ZK geweckt hat. - Krolikowski:
Leben in der DDR ist über Deine Arbeit hinweg gegangen.
Ignoranz hat Vertrauensverlust bewirkt.
Es geht um die Rettung der Partei und des Sozial(ismus).
Flüchtlingsstrom - eigene Verantwortung nicht gezeigt (?).
„Niemand Träne nachweinen".
Erklärung Innenministerium.
Weiter nichts.
Partei ist sprachlos.
Es gibt Eskalation.
Honecker hat Chancen gehabt.
Kein Signal an alle Genossen - Siehe die Rede bei der Festveranstaltung.
- 2 -
Das große Blatt ND zeigt nichts Neues.
Die Führung ist nicht da.
Die jetzige Lage ist nicht in den letzten Tagen entstanden.
Grundfragen der Beziehungen DDR-UdSSR gestellt.
Harry Tisch:
Wir sind unglaubwürdig geworden.
Arbeiter glauben uns nicht mehr.
Erstmals haben sich Arbeiter abgedreht, als ich mit ihnen sprechen wollte.
Unterstützung für Vorschlag Stoph.
Gen. Lorenz:
Mir blutet das Herz.
Nord - Süd - Darstellung ist falsch.
- 3 -
Neumann:
Ein Teil der Führung ist uns entrissen worden.
Ohr an den Massen.
Massenbewegung ist heute die Fluchtbewegung.
Die Lage ist so beschissen, wie sie noch nie in der SED war.
Der Ministerrat wird vor vollendete Tatsachen gestellt.
??? Erklärung ??? - bei uns passiert nicht.
- 4 -
Sindermann:
Unterstützt Antrag Stoph.
Bitte stimme dem Beschluß zu, es geht nicht um deine Person.
Jeder muß bereit sein.
Axen:
Er betont, daß er die längste Zeit Zusammenarbeit mit Erich Honecker hatte.
Nächte lang Überlegungen angestellt.
Obj(ektiver) Fakt ist ,daß die Lage so ist.
Antrag Willi Stoph ist richtig.
Verweist auf verdienstvolle Geschichte Honeckers.
Eberlein:
Anteil [3] Stoph zugestimmt, auch wenn Bezirke Vollmachten geben.
Mittag:
Für Vorschlag Stoph.
Honecker hat das Vertrauen der Partei verloren.
Müssen es wiedergewinnen.
Sehr bewegt.
Eskalation.
- 5 -
Es geht um den Erhalt der Arbeiter- und Bauernmacht.
Dohlus:
Wir brauchen Maßnahmen.
Politbüro diskutiert nur.
Sofort Maßnahmen zur Sicherung der Lebensbedingungen treffen.
Zur Situation eine Beratung mit den Ersten Sekretären der Bezirksleitungen durchführen.
Opposition formiert sich.
Böhme:
Für Vorschlag Willi Stoph.
Honecker hat sein Lebenswerk zerstört.
Es wächst innerer Widerstand.
Wir führen nicht mehr, wir reagieren.
Der Generalsekretär trägt die Erkl(ärung) des Politbüros nicht mit.
Über die Sitzung mit den Bezirksleitungs-Sekretären habe ich mich „geschämt".
Kleiber: [4]
Für Veränderung bei den Medien.
- 6 -
Mückenberger:
Die Erklärung des Politbüros ist nur Öl ins Feuer [5].
Inge Lange:
Für Argumente S. Lorenz.
Auf dem VIII. Parteitag hat Erich die Wende herbeigeführt.
Einfluß von G. Mittag auf Erich Honecker ist zu stark.
Die ökonomischen Grundfragen (?) sind die Hauptangriffe (?).
G. Schürer hat die Hauptverantwortung (?). [6]
M. Müller:
Es ist 5 Minuten vor 12.
Der Norden ist auch voller Spannungen.
J. Herrmann:
Wir brauchen eine Art und Weise der Berichterstattung, die diesem Leben gerecht wird.
- 7 -
Werner Walde:
Für Vorschlag W. Stoph.
Nicht einverstanden, daß wir ein Signal brauchen.
Wenn wir überzeugt wären unvollständig.
Erich Honecker ist nicht in der Lage unvollständig.
Er ist eine große Persönlichkeit.
Die Sache geht vor der unvollständig.
Die DDR bleibt ein ???.
Wieder eine Woche verloren.
Kurz- und mittelfristige Maßnahmen.
Gerhard Müller:
Für die Ablösung E. Honeckers und die Einsetzung von E. Krenz.
Ganz straffe Führung des Politbüros durch den Generalsekretär.
Die 1. Sekr. der Bezirksleitungen müßten an Punkt 1 der Tagesordnung der Sitzungen des Politbüros immer teilnehmen, wenn die „polit(ische). Lage der DDR" erörtert wird.
Wie geht es mit der Prod(uktion) weiter.
Der Plan 1990 muß auf den Tisch.
Wir bauen Schleifmaschinen - wo bleiben diese.
Artikel über Strolche in Dresden.
Gen. E. Mielke:
In tiefer Bewegung zugehört.
Vorschlag ist richtig.
- 8 -
Lage sehr sehr ernst.
Wir werden auch als Politbüro angegriffen.
Mut, rechtzeitig was zu sagen.
Bedenken: Viele haben Vorschläge gehabt.
Die Bevölkerung erwartet Antwort.
Es geht um die Macht.
Ein Teil der Dinge ist Feindtätigkeit.
Während wir sitzen, hat sich die Lage schon verändert.
Vielleicht muß man auf manches verzichten.
In den Betrieben herrscht noch Ruhe.
Versorgung spielt große Rolle.
Kontinuierliche Arbeitsprod(uktivität).
Honecker soll nicht nach Erklärungen suchen, sondern den Vorschlag von Stoph akzeptieren.
Wir haben vieles mitgemacht.
Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen.
Erich Schluß: Ich akzeptiere das.
Egon Krenz:
Heute geht es um die Einheit und Geschlossenheit der Partei und das Schicksal der DDR.
Vor einer Woche haben wir eine wahre Einschätzung über die Tiefe der politischen Krise gegeben.
Ausreise Situation (?).
- 9 -
Signale hat es gegeben.
Ich will nicht wiederholen, was gesagt wurde.
1985/86 haben wir uns abgeschottet gegenüber der Entwicklung.
Was ist Erneuerung.
Nicht kopieren was in der Sowjetunion ist.
Tiefe - Sozial(ismus) DDR nur mit UdSSR - nicht in Distanz.
1986 Einschätzung Demokratie, aber es wurde konzeptionell daran nicht gearbeitet.
Versorgung DDR nicht mit UdSSR vergleichbar.
Kommu(nistische) Offenheit mit Gorbatschow.
DDR angeblich in Ordnung.
Vertrauen, daß er das in die Hand nimmt.
Mir tut das weh! Erklärung ist Kompromiß.
Erich hat das alles nicht verstanden.
Nicht dem Volk zumuten, daß Kontinuität gebrochen wird.
Kollektivität muß Entwicklung (?) bestimmen.
- 10 -
In wenigen Tagen kann es zu Emotionen kommen.
Stolpe hatte ein Gespräch mit Jahn.
Die Partei muß ihre führende Rolle wahrnehmen.
Es gibt für Erich Honecker eine sehr ehrenhafte Lösung.
Bereit, die Verantw(ortung) zu übernehmen.
Es muß aber zu einer anderen Atmosphäre im Politbüro kommen.
Jarowinsky:
Bei Begegnung mit Walter Ulbricht: Die Zeit ist gekommen. Das hat Erich Honecker gesagt.
75 Mrd. Außenwirtschaft belastet, 100 Mrd. Staatshaushalt.
Komplexe Maßnahmen sind notwendig.
Ich war erschüttert über die Beratung mit den Ersten Sekretären der Bezirksleitung.
E. Krenz braucht die Unterstützung.
Schabowski:
Blick auf morgige Tagung des Zentralkomitees richten.
Personelle Entscheid(ungen) treffen.
Viel hängt morgen von E. Krenz ab.
- 11 -
Mielke hat den Ernst der Lage unterstrichen.´
Wir sind in einer Krise.
Polit(ische) Krise mit polit(ischen) Mitteln lösen.
Wir müssen eine neue ökonomische Politik ausarb(eiten).
Egon Krenz' Linie muß sein Kontinuität und Erneuerung.
Die Erklärung von voriger Woche haben wir nur gegen den Widerstand des Generalsekretärs durchgesetzt.
Die Medienfrage ist eine ganz zentrale Frage. Nicht Hosenscheißer-Arbeit. Auf wiss(enschaftlich)-konstr(uktiver) Basis müssen wir ihnen die Probleme darlegen. Katalog der Erneuerung vorlegen.
Die Thesen von Otto Reinhold kann man vergessen: Das ist alles verwaschenes Zeug!
Die heutige Entscheidung hat enorme Bedeutung.
Internationale Verantwortung der DDR.
Wenn DDR kaputt geht.
Wir leben nicht auf der Insel der Seligen.
Wir haben eine schwere Situation.
Wir haben nicht die Mittel, um die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik auszuführen.
- 12 -
Als Führung müssen wir auf eigenen Beinen stehen.
Selbst die Autorität von Egon Krenz ist schon in Frage gestellt.
Neue Etappe für Arbeit des Politbüros hat schon begonnen.
Sofort Meldung fertig machen.
Die Abberufung muß auch vom Vorsitz des Nationalen Verteid(igungs)rates und Vorsitz des Staatsrates erfolgen.
Nichts vergessen.
Die ZK-Tagung soll nicht zu organisatorischen Fragen stattfinden.
Rede E. Honecker.
Erklärung E. Krenz.
Erich Honecker:
Zu den Problemen seine Meinung sagen:
Tief getroffen, daß der Vorschlag von Stoph kam. Was wir zwei Tage diskutiert haben, war, daß wir - in der Krise - die Einheit der Partei erhalten müssen. Ich muß davor warnen, daß damit mit seiner Ablösung, d. Hrsg. die inneren Probleme beruhigt sind. Der Feind wird weiter heftig arbeiten. Nichts wird beruhigt werden.
Die Partei hat einen Vertrauensschwund, aber sie ist noch handlungsfähig.
- 13 -
Wir haben gemeinsam die Republik geschaffen. Der Sozialismus steht nicht zur Disposition.
Die Teilnahme der UdSSR und anderer hoher Gäste am 40. Jahrestag, d. Hrsg. zeigt den Platz in der Welt, den die DDR einnimmt. Das war eine Sympathieerklärung für die DDR.
In der UVR hat der Sozialismus verloren, in der VRP hat er keine Macht mehr.
Errungenschaften der DDR nicht antasten. Bei den Demonstrationen gibt es Leute mit Eisenstangen und Mitläufer.
Die Arbeiter- und Bauernmacht ist nicht erpressbar.
Das Auswechseln von Personen auf der ZK-Tagung zeigt, daß wir erpreßbar sind.
Der Gegner wird das ausnutzen.
Die gleichen Pflichten gibt es für uns alle.
Am 19. Oktober findet eine Sitzung zur Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat statt.
Mielke wollte immer Pfarrer verhaften lassen.
Der Gegner differenziert uns auseinander
Die Hoffnungen gehen weit über alle Möglichkeiten.
Personell.
???
??? ??? ???
- 14 -
Ich habe das Sekretariat niemals über das Politbüro gestellt.
Ich übernehme die Verantwortung vor den Arbeitern, Bauern und der Intelligenz für die sozialistische Demokratie.
Warum Angriff auf Kant zugelassen.
Der XII. Parteitag ist einberufen. Das 7. Plenum hat alle Grundfragen enthalten.
Keine Position bezogen.
Ehrlichkeit: Vor Reiseverord(nung).
Mielke: 1 Mio. Menschen wollen DDR verlassen.
Die Grenzsicherung war notwendig gegen Ausplünderung der DDR
(100 Mrd.).
Damals war die Partei in einer anderen Situation.
Damals konnte man nicht in die Betriebe gehen.
Jetzt kommt der Hauptstoss von der Intelligenz.
Die Stimmungswelle hat sich geändert.
Wir haben Fragen der Leistung, des Warenangebots, der Medien besprochen.
Über die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde immer Übereinst(immung) erzielt.
U. - ohne Investitionen keine Verbesserung des Warenangebots.
Was ist Erneuerung? Welche Richtung
Bisher gibt es keine Linie.
Zum Neuen Forum gibt es keine Stellungnahme.
- 15 -
Gestern (16. Oktober, Tag der Montagsdemonstration in Leipzig, d. Hrsg.) haben die Betriebe sich zurückgehalten.
Es gibt eine Doppelzüngigkeit der Kirche.
Demonstrat(ionen) ohne Provokationen.
Wer offen gegen die Arbeiter- und Bauernmacht ist, gegen den muß man auftreten.
Seit 1970 ist das Nationaleinkommen auf 3,5 Bill. Mark gestiegen. Liest Halbritters Erfolgsbericht vor. - Wohnungsbauprogramm.
(Halbritter hat seinen Vorschlag eingepackt in die Summe der Erfolge).
Man kann mit Preiserhöhungen viel verderben.
Ich respektiere die Beschlüsse des Politbüros.
Mit der Ablösung der Kader bin ich nicht einverstanden.
In der UVR hat dieser erste Schritt auch nicht geholfen.
Hier haben Genossen gesprochen, von denen ich das nie erwartet habe.
Wenn alle Bezirkssekretäre meinen, das Mandat zu haben, dann sollen sie reden.
Aber nur, wenn alle da sind.
- 16 -
Es ist bedauerlich, daß ich im August und September außer Verkehr gewesen bin.
Ich sage das nicht als geschlagener Mann, sondern als Genosse, der bei voller Gesundheit ist.
Kapazitäten für eine Million Telefone.
Quelle: BA, E-1-56321, abgedruckt in: Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, 2. Aufl., Opladen 1996, S. 430-437.
[1]
Die von Gerhard Schürer für die Politbüro-Sprache verwendeten Abkürzungen (z.B. PB = Politbüro, AK = Arbeiterklasse, AuB = Arbeiter- und Bauernmacht) wurden bei der Transkription des Textes ebenso ausgeschrieben wie andere gebräuchliche Kürzel oder Zeichen (z.B. evtl. = eventuell, Mio. = Millionen, % = Prozent). Zweifel über die richtige Transkription eines Wortes sind durch ein in Klammern nachgestelltes Fragezeichen (?) kenntlich gemacht. Für jedes nicht-lesbare Wort steht eine Klammer mit drei Fragezeichen (???). Einfügungen (in runden Klammern) vervollständigen von Schürer im Original abgekürzte Wörter; Einfügungen sind vom Herausgeber vorgenommene Satzergänzungen. Alle Einfügungen wurden nach einer gemeinsamen Durchsicht der handschriftlichen Notizen mit Gerhard Schürer am 14. März 1995 vom Herausgeber in dessen alleiniger Verantwortung vorgenommen.
[2]
Krenz zufolge lautete der zu Beginn der Politbüro-Sitzung von Stoph vorgebrachte Antrag, Erich Honecker von seinen drei Funktionen abzulösen und ihn, Krenz, in die Funktion des Generalsekretärs zu wählen (Krenz 1990, S. 144). Die Forderung, auch Günter Mittag und Joachim Herrmann von ihren Funktionen zu entbinden, sei erst in der Diskussion laut geworden (Krenz 1990, S. 144, aber auch Honecker, in: Andert/Herzberg 1990, S. 31, und Siegfried Lorenz, Oktobertage im Politbüro, in: Freie Presse, 30.11.1989, S. 3). Schabowski und Mittag berichten dagegen, Stoph habe gleich zu Beginn der Politbüro-Sitzung neben der Ablösung von Honecker auch die von Mittag und Herrmann beantragt (Schabowski 1991, S. 268; Mittag 1991, S. 23). Gerhard Schürer dagegen erinnert sich, daß Günther Kleiber vorschlug, Joachim Herrmann abzulösen und Inge Lange einen entsprechenden Antrag in bezug auf Günter Mittag stellte (Mitteilung von Gerhard Schürer an den Vf., 14.3.1995).
[3]
Richtig muß es vermutlich heißen: Antrag.
[4]
Kleiber schlug einer mündlichen Auskunft Schürers zufolge auch die Abberufung Joachim Herrmanns vor, was Schürer aber offensichtlich nicht notierte.
[5]
Trotz dieses Satzes unterstützte Mückenberger laut Schürer den Antrag Stophs.
[6]
Inge Lange schlug Schürer zufolge die Abberufung Mittags vor, was er jedoch ebenfalls nicht festhielt.