Fernschreiben von Staatssekretär Bertele an den Chef des Bundeskanzleramts zur Einschätzung der Arbeit von DDR-Oppositionsgruppen (Auszüge)
Berlin (Ost), 20. September 1989
Fernschreiben von Staatssekretär Bertele an den Chef des Bundeskanzleramts zur Einschätzung der Arbeit von DDR-Oppositionsgruppen (Auszüge)Abschrift:
Betr.: Bildung von Oppositionsgruppen in der DDR
Verf.: Vandersee
- Im Rundsprechverfahren war gestern Abend (19.09.1989) in die Gethsemane-Kirche zur Vorstellung der neu ins Leben gerufenen Gruppe „Neues Forum“ eingeladen worden. Die Veranstaltung wurde von ca. 200 Besuchern besucht. Die Organisatoren äußerten Bedauern darüber, dass es nicht gelungen sei, einen größeren Personenkreis zu erreichen.
Für das Neue Forum sprach Bärbel Bohley als eines der dreißig Gründungsmitglieder. Sie berichtete, dass in einer Woche bereits 2.000 Personen den Gründungsaufruf unterzeichnet hätten. Viele hätten sie persönlich in ihrer Wohnung aufgesucht; erfreulich sei, dass sich nicht nur die bekannte intellektuelle Szene angesprochen fühlte, sondern auch Hausfrauen und langjährige SED-Mitglieder gekommen seien. Auch die Gruppe Arche Netzwerk sei beigetreten. Ziel des Neuen Forums sei es, gegen Verkrustung und Hilflosigkeit anzugehen. Der Gründungsaufruf sei bewusst allgemein gehalten, um für alle offen zu sein. Sie selbst wisse nicht, was eines Tages aus der Bewegung werden könne. Sobald die SED reformiert sei, könne sich das Neue Forum auflösen. Am 19.09.1989 habe man beim Innenministerium und bei verschiedenen Bezirksleitungen die Zulassung der Bewegung beantragt. Bohley betonte, dass sie sich bewusst der Westmedien zur Verbreitung ihrer Anliegen bediene.
(…) - Wertung
Die Veranstaltung zeigte, dass die Arbeit neuer und alter Gruppen in der DDR weit entfernt ist von effektiver Oppositionsarbeit. Die in unserer Presse veröffentlichten Berichte über die „Opposition“ in der DDR sind übertrieben und aufgebauscht. Bärbel Bohley konnte keine Orientierung geben, ihr amateurhaftes Auftreten zeigte deutlich die Schwierigkeiten bei inhaltlicher und organisatorischer Umsetzung ihrer Ziele. Der Teilnehmerkreis bestand, soweit erkennbar, ausschließlich aus Intellektuellen, unter denen keine politischen Talente sichtbar wurden, die eine solche Versammlung zu einheitlicher Willensbekundung führen können. Die meisten Besucher der Veranstaltung verließen die Kirche ebenso vereinzelt und hilflos, wie sie gekommen waren. (…)
Die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes wird auch weiterhin dafür sorgen, dass die Aufbruchstimmung nicht zu einem tatsächlichen Aufbruch wird.
Bertele
Quelle: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit 1989/90, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, Dokument Nr. 43, S. 409-410.