Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektoren- und Zonengrenze, Vorkommnisse auf S- und Reichsbahngelände und sonstige Ereignisse von politischer Bedeutung für den Monat Dezember 1962
Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektoren- und Zonengrenze, Vorkommnisse auf S- und Reichsbahngelände und sonstige Ereignisse von politischer Bedeutung für den Monat Dezember 1962S 1 – 1/62
Berlin, den 8. Januar 1963
App. 2921
B e r i c h t
über die Lage an der Sektoren- und Zonengrenze, Vorkommnisse auf S- und Reichsbahngelände und sonstige Ereignisse von politischer Bedeutung für den Monat Dezember 1962
A) Lage an der Sektoren- und Zonengrenze
I. Allgemeines
1. Im Monat Dezember 1962 war die Lage an der Sektoren- und Zonengrenze im wesentlichen unverändert und ruhig.
Hervorzuheben sind 3 Sprengungen an der "Mauer", die bei verhältnismäßig geringen Schäden an den Grenzsperren erheblichen Sachschaden auf westlicher Seite – überwiegend durch Zerstören von Fensterscheiben – verursachten.
Außerdem sind 2 Fluchten besonders erwähnenswert; die eines Majors der Grepo und der Durchbruch einer achtköpfigen Flüchtlingsgruppe mit einem Autobus am Kontrollpunkt Babelsberg.
2. Grepo schossen in
5 Fällen auf Flüchtlinge und in
18 Fällen aus unbekannter Ursache.
Dabei wurde – soweit der Schutzpolizei bekannt – vermutlich ein Flüchtling angeschossen.
II. Im einzelnen
1. Vermutlich angeschossener Flüchtling
Am 15.12.1962, gegen 04.55 Uhr, gaben Grepo an der Sektorengrenze von Kreuzberg, in Höhe des Behala-Geländes, von einem Streifenboot aus ca. 25 Schüsse auf eine ca. 45jährige männliche Person ab, die versuchte, die Spree zu durchschwimmen. Ca. 15 m von der Sektorengrenze entfernt zogen Grepo den Flüchtling ins Boot und transportierten ihn in Richtung Brommybrücke ab. Dabei rief der Flüchtling West-Berliner Polizeibeamten zu, er sei verwundet worden. Später wurden 6 Einschüsse auf West-Berliner Gebiet festgestellt und ein Geschoß gefunden.
2. Suchaktion nach Flüchtling
Am 18.12.1962, gegen 23.10 Uhr, hörte ein Polizeibeamter an der Sektorengrenze von Neukölln, Ernst-Keller-Brücke, aus dem SBS den Ruf: "Halt! Stehenbleiben oder ich schieße!". Anschließend nahm er einen Aufschlag im Teltowkanal wahr.
Die sofort von der West-Berliner Feuerwehr eingeleitete Suchaktion nach einem evtl. Flüchtling wurde gegen 00.30 Uhr erfolglos abgebrochen.
3. Sprengungen an der "Mauer"
a) Am 2.12.1962, gegen 02.30 Uhr, sprengten unbekannte Personen an der Sektorengrenze von Neukölln, Harzer Str., ein ca. 1,50 x 0,50 m großes Loch in die "Mauer" hinein. Durch den Luftdruck wurden auf West-Berliner Gebiet ca. 140 Fensterscheiben zertrümmert und mehrere Jalousien sowie vor dem Grundstück Harzer Str.1 ein Feuermelder und 1 Pkw erheblich beschädigt.
Beamte der Abt. I stellten am Tatort eine ca. 1,50 m lange Lunte und braune Pappkartonreste sicher. Im Verlaufe des Vormittags wurden die im SBS entstandenen Schäden behoben.
b) Am 16.12.1962, gegen 21.15 Uhr, wurden an der Sektorengrenze von Kreuzberg, Zimmer-/Jerusalemer Str., ca. 3 qm aus der "Mauer" herausgesprengt und dabei ca. 60 Fensterscheiben zertrümmert, ein Sektorgrenzschild zerstört und ein Radioapparat in einer Wohnung beschädigt.
Ein Polizeibeamter nahm 3 männliche Personen, die die Sprengung durchgeführt hatten, vorläufig fest.
Abt. I übernahm die weitere Bearbeitung. Grepo riegelten die Sprengstelle ab und mauerten das Loch während der Nacht wieder zu.
c) Am 28.12.1962, gegen 01.15 Uhr, brachten unbekannte Personen an der Kreuzberger Sektorengrenze, Linden-/Zimmerstr., eine Sprengladung zur Entzündung, durch die in einem Ausmaß von ca. 1 qm Teile aus der "Mauer" herausgerissen wurden.
Die Druckwelle zerstörte auf westlicher Seite ca. 1.500 Fensterscheiben und beschädigte in den angrenzenden Straßen Wohnungen Geschäftsräume, die Hauptfeuerwache Lindenstr. und einen Beobachtungs-Hochstand.
Abt. I übernahm die weitere Bearbeitung.
4. Interzonen- und Sektorengrenzverkehr
a) Nach schutzpolizeilichen Unterlagen wurden an der Sektoren- und Zonengrenze 24 und im Interzonenverkehr 19 Personen von den bewaffneten Organen des Sowjetzonenregimes festgenommen.
b) Vom 21. – 31.12.1962 ergaben sich auf Grund der Witterungsverhältnisse im Interzonenverkehr von und nach West-Berlin häufig mehrstündige Verspätungen.
c) In der Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel kam es am Kontrollpunkt Babelsberg und am Sektorengrenzübergang Heinrich-Heine-Str. infolge des verstärkten Reiseverkehrs mehrfach zu Stauungen und längeren Wartezeiten im Kfz-Verkehr.
d) Am 28.12.1962 errichteten Angehörige des sowjetzonalen Zolls am Kontrollpunkt Heerstraße – offensichtlich auf Grund des Durchbruchs einer Flüchtlingsgruppe am Kontrollpunkt Babelsberg (s. Ziffer II., 6. b) – 4 Panzersperren.
Am 29.12.1962 wurden die Arbeiten am Kontrollpunkt Heerstraße fortgesetzt und weitere 2 bewegliche Sperren unter Verwendung eines Feldbahngleises und zusammengeschweißter Stahlträger quer über die Hälfte der Fahrbahn aufgestellt. Auf dem zur Fahrbahn geneigten Gleis befinden sich 2 Loren, die durch eine besondere Vorrichtung festgehalten werden.
5. Arbeiten an den Grenzsperren
Im Dezember wurde der Ausbau der Sperren an der Sektoren- und Zonengrenze in unvermindert starkem Maße fortgesetzt.
Dabei traten an der Zonengrenze von Zehlendorf und Steglitz erstmals kleinere Arbeitskommandos sowjetischer Soldaten bei Abrißarbeiten an einem Wohnhaus und Pferdestall in Erscheinung.
Anzahl der an der Sektoren- und Zonengrenze festgestellten
baulichen Anlagen mit Schießscharten = 215,
Beobachtungstürme = 125,
Lautsprecher = 231.
6. Flüchtlinge
a) Nach schutzpolizeilichen Feststellungen flüchteten im Dezember 58 Personen, davon 10 Angehörige der bewaffneten Organe des Sowjetzonenregimes – u.a. ein Major der Grepo – , nach West-Berlin.
b) Besonders bemerkenswert ist folgende Flucht:
Am 26.12.1962, gegen 05.30 Uhr, trafen 2 männliche und 2 weibliche Personen sowie 4 Kinder als Flüchtlinge mit einem durch Stahlplatten gesicherten und vorn mit einem Schneepflug versehenen sowjetzonalen Autobus am Kontrollpunkt Dreilinden ein.
Kurze Zeit vorher hatten sie mit dem Kfz unter dem Feuer der Grepo die 3 Sperrschranken des Kontrollpunktes Babelsberg durchbrochen. Drei der zahlreichen Schüsse trafen den Autobus, verursachten jedoch keinen Personenschaden.
Durch die beim Durchbrechen der Schlagbäume zersplitternde Windschutzscheibe zog sich der Fahrer geringfügige Handverletzungen zu.
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Quelle: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin