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Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektoren- und Zonengrenze, Vorkommnisse auf S- und Reichsbahngelände und sonstige Ereignisse von politischer Bedeutung für den Monat Oktober 1962

Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektoren- und Zonengrenze, Vorkommnisse auf S- und Reichsbahngelände und sonstige Ereignisse von politischer Bedeutung für den Monat Oktober 1962

S 1 – 1/62

Berlin, den 7. November 1962
App. 2921

B e r i c h t
über die Lage an der Sektoren- und Zonengrenze, Vorkommnisse auf S- und Reichsbahngelände und sonstige Ereignisse von politischer Bedeutung für den Monat Oktober 1962


A) Lage an der Sektoren- und Zonengrenze

I. Allgemeines

1. Die Kubakrise im Monat Oktober hatte nur geringe Auswirkungen auf die Tätigkeit und den Einsatz der Schutz- und Bereitschaftspolizei. Vorsorglich angesetzte Alarmstufen konnten bereits nach kurzer Zeit wieder aufgehoben werden.

An der Sektoren- und Zonengrenze Lage unverändert.

2. Grepo schossen in

4 Fällen auf Flüchtlinge,
1 Fall auf Fluchthelfer und in
25 Fällen aus unbekannter Ursache.

Dabei wurden – soweit der Schutzpolizei bekannt –

1 Flüchtling erschossen und
1 Fluchthelfer verletzt.

Im 11 Fällen warfen Grepo insgesamt 64 Tränengaswurfkörper auf West-Berliner Gebiet.

II. Im einzelnen

1. Erschossener Flüchtling

Am 8.10.1962, gegen 22.10 Uhr, versuchte eine unbekannte männliche Person in Friedrichshain, in Höhe des Grundstückes Gröbenufer 5, die Spree zu durchschwimmen. Vom sowjetsektoralen Ufer aus gab ein Grepo ca. 30 Schüsse aus Maschinenpistolen auf den Flüchtling ab, der nach Zeugenaussagen ca. 50 m vom West-Berliner Ufer entfernt unterging.

Da die Geschosse teilweise West-Berliner Gebiet erreichten – an Häusern wurden 3 Einschüsse festgestellt – und die alarmierte Funkwagenbesatzung sowie Straßenpassanten gefährdeten, er¬widerten die Polizeibeamten das Feuer mit 5 Schüssen. Daraufhin stellten die Grepo das Feuer ein. Anschließend suchten sie mit 4 Booten die Wasserfläche ab.

Kräfte der Feuerwehr, des DRK und der amerikanischen MP waren am Ort. Außerdem wurde vorsorglich der alliierte Sanitätswagen alarmiert, dessen Einsatz jedoch nicht erforderlich war.

In den Morgenstunden des 9.10.1962 setzten die Besatzungen von 2 Grepo-Booten und einem Feuerlöschboot sowie ein Taucher die Suche nach dem erschossenen Flüchtling fort.

Obwohl die Boote die Arbeit des Tauchers verdeckten, konnte aus dem Verlauf der Bergungsarbeiten geschlossen werden, daß es gelang, die Leiche zu bergen.

2. Angeschossener Fluchthelfer

Am 6.10.1962 wurde in den frühen Morgenstunden eine männliche Person, die an der Sektorengrenze des Bezirks Neukölln Bewohnern des SBS die Flucht durch einen Tunnel ermöglichen wollte, von bewaffneten Organen des Sowjetzonenregimes angeschossen. Ein weiterer Fluchthelfer konnte unverletzt West-Berliner Gebiet erreichen.

Einzelheiten über den Verbleib der verletzten Person sind nicht bekannt.

3. Beschädigung von Grenzsperren

Im Oktober 1962 wurden vorwiegend von unbekannt gebliebenen Personen mehrfach Versuche unternommen, die "Mauer" teilweise zu beseitigen.

Am 1.10.1962, gegen 17.05 Uhr, beobachteten Polizeibeamte, daß ein 31jähriger West-Berliner in W 30, Linkstraße, die "Mauer" einriß und bereits ein ca. 0,5 x 0,5 m großes Loch geschaffen hatte. Auf den Anruf der Polizeibeamten kehrte die männliche Person auf West-Berliner Gebiet zurück. Sie wurde in polizeiliche Verwahrung genommen.

Am 4.10.1962, gegen 00.35 Uhr, beschädigte ein von unbekannten Personen gelegter Sprengkörper im Bezirk Mitte, Stresemannstr./Köthener Str., die "Mauer".

Bei einem weiteren, ebenfalls von unbekannten Personen verübten Sprengstoffunternehmen wurden am 6.10.1962 im Bezirk Mitte, in Höhe des Grundstückes Sebastianstr. 52, in einem Umfang von ca. 50 x 40 cm Steinsplitter aus der "Mauer" herausgerissen und 3 Fensterscheiben einer Kellerwohnung zertrümmert.

Am 8.10.1962, gegen 19.00 Uhr, stellten Polizeibeamte fest, daß unbekannte Personen im Bezirk Mitte, Sebastianstr. 81, versucht hatten, unter Verwendung eines Wagenhebers die "Mauer" zum Einsturz zu bringen. Dabei waren sie vermutlich gestört worden und unter Zurücklassung des Wagenhebers geflüchtet.

4. Sonstige Protestaktionen gegen die "Mauer"

a) In einem Schreiben an Ulbricht hatte der indische Staatsangehörige Zutshi mitgeteilt, daß er am 2.10.1962 an der Bernauer Str., in Höhe der Versöhnungskirche, die "Mauer" aufbrechen wolle. Nach Bekanntwerden dieser Absicht entschloß sich der 51jährige Ordinarius für Geschichte an der Universität Köln, Prof. Dr. Rubin, bei dieser gewaltlosen Aktion mitzuwirken. Beide erklärten jedoch schließlich, wegen der schwerwiegenden Folgen, die eine Verwirklichung dieses Planes haben mußte, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen.

Trotzdem versuchte Prof. Dr. Rubin am 2.10.1962, gegen 00.15 Uhr, in N 65, Bernauer Str. 4, die "Mauer" aufzubrechen. Zur Vermeidung von Gefahren wurde er in polizeiliche Verwahrung genommen.

Am 2.10.1962 trafen Grepo in den Vormittagsstunden in der Umgebung der Versöhnungskirche bis 15.10 Uhr umfangreiche "Sicherheitsvorkehrungen".

U.a. brachten sie auf dem Dachstuhl der Kirche ein MG in Stellung.

Zwischen 11.30 Uhr und 14.00 Uhr kam es in der Bernauer Str. und in den angrenzenden Straßen zu Ansammlungen von Schaulustigen (zeitweise bis zu 1.000 Personen).

Eine Gruppe von ca. 200 Personen, die sich gegen 11.45 Uhr bei der Ankunft Zutshis vor der Versöhnungskirche ansammelte, wurde ohne Zwischenfälle durch Schutzpolizeikräfte zerstreut.

Gegen 14.00 Uhr konnten die polizeilichen Maßnahmen im wesentlichen aufgehoben werden.

Seit dem 14.10.1962 führt Zutshi in der Hussitenstr. sonntags Gebetsstunden durch. Bisher keine Zwischenfälle.

b) Am 2.10.1962, gegen 22.00 Uhr, trat ein westdeutscher Student vor dem Gedenkstein für den erschossenen Flüchtling Günter Litfin in Tiergarten, am Humboldthafen, aus Protest gegen die "Mauer" in einen Sitz- und Hungerstreik, dem sich am 3.10.1962, gegen 18.00 Uhr, eine weitere männliche Person anschloß.

Am 5.10.1962, gegen 22.10 Uhr, beendeten beide Personen den Sitz- und Hungerstreik, der ohne Zwischenfälle verlief.

c) Vom 11. – 21.10.1962 führte eine ca. 25jährige männliche Person in SO 36, am Gröbenufer, eine Sitzdemonstration durch. Der Unbekannte hatte ein Pappschild mit der Aufschrift "Wir können stark sein ohne Gewalt" aufgestellt und ließ sich nur zeitweilig von Gleichgesinnten ablösen.

5. Interzonen- und Sektorgrenzverkehr

a) Nach schutzpolizeilichen Unterlagen sind an der Sektoren- und Zonengrenze 45 und im Interzonenverkehr 30 Personen von den bewaffneten Organen des Sowjetzonenregimes festgenommen worden.

[...]

Quelle: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin
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