Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektor- und Zonengrenze sowie auf S- und Reichsbahngelände für den Monat Juli 1962
Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektor- und Zonengrenze sowie auf S- und Reichsbahngelände für den Monat Juli 1962Anlage
S 1 – 1/62
Berlin, den 7. August 1962
App. 2921
Bericht über Lage an Sektor- und Zonengrenze sowie auf S- und Reichsbahngelände für Monat Juli 1962
I. Allgemeines
1. Auch im Monat Juli hat sich die Lage an der Sektor- und Zonengrenze nicht entspannt. Wenn die Zahl der von Grenzpolizisten verursachten Grenzzwischenfälle zurückgegangen ist, so dürfte das nicht auf neue Anordnungen und menschlicheres Verhalten, sondern allein auf den unverminderten Ausbau der Grenzsperren und die damit immer geringer werdenden Fluchtmöglichkeiten zurückzuführen sein.
Grepo schossen in
6 Fällen auf Flüchtlinge,
1 Fall auf Polizeibeamte und in
24 Fällen aus unbekannter Ursache.
Dabei wurden – soweit der Polizei bekannt – vermutlich mindestens
1 Flüchtling erschossen und
2 Personen verletzt.
In 7 Fällen warfen Grepo insgesamt 33 Tränengaskörper auf West-Berliner Gebiet.
Außerdem wurden Polizeibeamte mehrfach mit Steinen beworfen und die rechte Türseite eines die Potsdamer Chaussee von Spandau nach Kladow befahrenden Pkw vermutlich mittels einer Steinschleuder beschädigt.
Gegen Touristen, die Aufnahmen von den Arbeiten an den Grenzsperren machen wollten, setzten Grepo wiederholt Nebelkerzen ein.
2. Bemerkenswert ist die Zunahme von Versuchen, die Sperrmauer zu sprengen. Von bisher insgesamt 6 Fällen ereigneten sich allein 3 im Monat Juli. (Einzelheiten siehe Ziff. II. 3.)
3. Die östliche Lautsprecherpropaganda hat nachgelassen. Im Allgemeinen wurden nur dann und örtlich begrenzt Sendungen (überwiegend Musik) ausgestrahlt, wenn auf westlicher Seite das Studio am Stacheldraht eingesetzt war.
4. Von den Vorkommnissen auf S- und Reichsbahngelände ist die Beschädigung eines S-Bahnzuges durch Sprengkörper hervorzuheben. (Einzelheiten siehe Ziff. III. 1.)
II. Im einzelnen:
1. Schwere Grenzzwischenfälle mit Schußwaffengebrauch durch Grepo
a) Am 1.7.1962, gegen 02.45 Uhr, vernahmen Schutzpolizeibeamte an der Sektorgrenze des Bezirks Wedding einen Schuß aus Richtung Bornholmer Brücke (SBS). Anschließend beobachteten sie, wie 4 Trapo eine männliche Person in Richtung Stellwerk Bornholmer Str. abführten. Der Festgenommene war offensichtlich durch den Schuß verletzt worden, da ihn 2 Trapo stützten, als sie ihn gegen 03.20 Uhr zur Behmbrücke brachten. Von dort transportierte ihn sowjetsektorale Feuerwehr in das Stadtinnere ab.
b) Am 19.7.1962, gegen 21.35 Uhr, versuchte ein West-Berliner in Wittenau, in der Nähe des Städtischen Friedhofs Rosenthal, die Stacheldrahtsperren zu durchschneiden, um seiner im SBS wohnhaften Ehefrau zur Flucht zu verhelfen. Grepo entdeckten ihn und gaben ca. 30 Schüsse aus MP ab. Die männliche Person konnte sich unverletzt in Sicherheit bringen.
Als Schutzpolizeikräfte nach diesem Zwischenfall die Umgebung absuchten, wurden sie gegen 22.20 Uhr von Grepo mit insgesamt 8 Schüssen beschossen. Mit 6 Schüssen erwiderten die Pol.-Beamten das Feuer. Verletzungen traten weder auf westlicher Seite noch – soweit erkennbar – bei den Grepo ein.
c) Am 25.7.1962 meldete sich in den frühen Morgenstunden eine männliche Person bei der Polizei und gab an, mit 2 weiteren Flüchtlingen gegen 02.50 Uhr auf der Flucht vom SBS nach West-Berlin in Treptow, in der Nähe der Karpfenteichstr., von Grepo entdeckt und beschossen worden zu sein. Die Grepo sollen ca. 15 Schüsse abgegeben und die beiden anderen Flüchtlinge – davon einen verletzt – festgenommen haben.
d) Am 29.7.1962, gegen 03.00 Uhr, hörten Beamte der seit dem 3.7.1962 vorübergehend eingerichteten "Polizeiwache Eiskeller" (siehe auch Ziff. II. 7.) an der Südspitze der Kolonie in der SBZ 3 einzelne Schüsse. Gegen 03.45 Uhr fuhr dort ein Lkw auf. Grepo trugen eine unbekannte, vermut¬lich tote männliche Person, die ca. 3 m von den Stacheldrahtsperren entfernt auf sowjetzonalem Gebiet lag, zum Lkw und transportierten sie ab.
2. Arbeiten an den Grenzsperren
a) Im Juli hielt der Ausbau der Grenzsperren durch starke Arbeitskommandos der Grepo an. Es besteht der Eindruck, daß die Arbeiten im Zusammenhang mit dem Jahrestag des 13. August stehen und bis dahin zum Monatsende "termingemäß" beendet sein müssen.
U.a. wurden
- im Bezirk Mitte, in der Boyen-, Scharnhorststr. und Kieler Str. sowie in der Stresemannstr., Niederkirchner Str. und Zimmerstr. die Sperrmauern verstärkt,
- an mehreren Stellen der Zonengrenze neue Mauern und Panzersperren errichtet (besonders in Staaken),
- im Bezirk Mitte die Wohnhäuser Kieler Str. 18, Kommandantenstr. 67 und Stallschreiberstr. 32 geräumt,
- weitere mit Schießscharten versehene bauliche Anlagen geschaffen und
- im Teltowkanal in Teltow, ca. 200 m westlich der Zonengrenze (in Höhe des Geländes der Orenstein und Koppel AG) sowie in Dreilinden, ostwärts der Teltowkanalbrücke, und in der Spree, zwischen Landwehrkanal und Oberbaumbrücke, Wassersperren angelegt.
b) Anzahl der an der Sektor- und Zonengrenze festgestellten
baulichen Anlagen mit Schießscharten: 147
Beobachtungstürme: 115
Lautsprecher: 212
3. Beschädigung an den Grenzsperren
a) Am 3.7.1962, gegen 00.05 Uhr, hörten Polizeibeamte an der Sektorgrenze des Bezirks Kreuzberg, Niederkirchner Str., zwischen Wilhelm- und Stresemannstr., eine Detonation an der Sperrmauer und sahen eine Rauchwolke aufsteigen. In der Nähe des Detonationsortes stellten Pol.-Beamte eine 20jährige männliche Person fest, die zugab, einen Sprengkörper entzündet zu haben. Bei der anschließenden Durchsuchung ihrer Wohnung wurden weitere vorbereitete Sprengladungen und dazugehöriges Werkzeug gefunden und sichergestellt.
Schäden an der Mauer konnten nicht festgestellt werden. Nach der Detonation leuchteten Grepo die Grenzsperren mit Scheinwerfern ab.
Eine weitere Detonation an der Sperrmauer wurde am 21.7.1962, gegen 21.30 Uhr, in SW 61, Stresemannstr./Köthener Str., wahrgenommen. Die sofort durchgeführten polizeilichen Ermittlungen ergaben, daß ca. 3 m vom "Haus Vaterland" entfernt ein ca. 2.50 x 1 m großes Loch in der Mauer entstanden und das viersprachige Sektorgrenzschild umgestürzt war. Am Tatort wurden 4 Batterien, Teile einer Weckeruhr sowie Metallteile gefunden und sichergestellt. Ein Arbeitskommando der Grepo mauerte den Durchbruch wieder zu.
Am 25.7.1962, gegen 20.50 Uhr, ereignete sich an der Sektorgrenze des Bezirks Kreuzberg erneut eine Detonation, die in der Niederkirchner Str., ca. 100 m von der Stresemannstr. entfernt, zwei 20 x 80 cm bzw. 10 x 30 cm große Löcher in die mauer riß. Mit Verletzungen am rechten Unterarm wurde eine männliche Person, die teilweise das Gehör verloren hatte, in SW 61, Kochstr. 11, in hilflosem Zustand aufgefunden und von der Feuerwehr dem Urban-Krankenhaus zugeführt. Sie gab zu, die Sprengkörper – auch die am 21.7.1962 – gelegt zu haben.
Beamte der Abt. I stellten 2 Sprengstücke sicher. Die Grepo verstärkte nach der Detonation die Streifentätigkeit, fuhr einen Schützenpanzerwagen sowie einen Wasserwerfer auf und mauerte die Löcher wieder zu.
b) Unbekannte Personen warfen am 19.7.1962, gegen 23.10 Uhr, in Neukölln, Heidelberger/Treptower Str., und am 22.7.1962, gegen 22.30 Uhr, Heidelberger Str./Sinsheimer Weg, brennendes Material über die Grenzsperren in den SBS.
Personen- und Sachschaden trat nicht ein.
Am 26.7.1962, gegen12.05 Uhr, warf eine 21jährige männliche Person in SW 61, Niederkirchner Str., ca. 100 m westlich der Wilhelmstr., einen Rauchkörper über die Sperrmauer. Grepo löschten ihn mit einem Wasserwerfer.
Die männliche Person wurde Abt. I überstellt.
4. Interzonen- und Sektorgrenzverkehr
a) Im Interzonen- und Sektorgrenzverkehr ergaben sich keine wesentlichen Veränderungen. Trotz des starken Reiseverkehrs kam es an den Zonengrenzübergängen kaum zu Stauungen.
b) Nach polizeilichen Unterlagen sind an der Sektor- und Zonengrenze 74 und im Interzonenverkehr 51 Personen von den bewaffneten Organen des Sowjetzonenregimes festgenommen worden.
c) Polizeibeamte kontrollierten 2 696 CD- und CC-Fahrzeuge, die in beiden Richtungen die Sektor- und Zonengrenze passierten.
5. Flüchtlinge
Im Juli flüchteten nach polizeilichen Feststellungen 84 Personen, davon 13 Angehörige der bewaffneten Organe des Sowjetzonenregimes, nach West-Berlin.
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Quelle: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin