Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektor- und Zonengrenze sowie auf S- und Reichsbahngelände für den Monat Juni 1962
Bericht der West-Berliner Schutzpolizei über die Lage an der Sektor- und Zonengrenze sowie auf S- und Reichsbahngelände für den Monat Juni 1962S 1 – 1/62
Berlin, den 5. Juli 1962
App. 2921
Bericht
über die Lage an der Sektor- und Zonengrenze sowie auf S- und Reichsbahngelände für Monat Juni 1962
I. Lage an der Sektor- und Zonengrenze
Im Monat Juni hat sich die Lage an der Sektor- und Zonengrenze nicht entspannt.
Unvermindert haben Grepo von ihren Schußwaffen Gebrauch gemacht und in
19 Fällen auf Flüchtlinge,
3 Fällen auf Polizeibeamte,
1 Fall auf West-Berliner und in
11 Fällen aus unbekannter Ursache
geschossen.
Dabei wurden – soweit der Polizei bekannt –
1 Flüchtling und
1 Grepo getötet (s. hierzu Ziff. I. 1. e) sowie
4 Personen verletzt.
(Die Umstände verschiedener Zwischenfälle lassen befürchten, daß die Zahl der tatsächlich getöteten bzw. verletzten Personen höher liegt.)
Außerdem warfen Grepo in 4 Fällen 15 Tränengaskörper auf West-Berliner Gebiet.
Um die Fluchtmöglichkeiten und damit die dem Sowjetzonenregime offensichtlich unangenehmen Zwischenfälle auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken, wurden seit Anfang des Monats die Grenzsperren in dem sowjetisch besetzten Gebiet in der Tiefe erheblich verstärkt und dabei zahlreiche mit Schießscharten versehene bauliche Anlagen (überwiegend Erdbunker) errichtet.
Östliche Lautsprecher (z.T. Großraumlautsprecher) übertrugen häufig kommunistische Propaganda- und Hetzsendungen. U.a. wurden die West-Berliner Polizeibeamten dabei aufgefordert, den "Schießbefehl" des Regierenden Bürgermeisters nicht zu befolgen.
Im Einzelnen:
1. Schwere Grenzzwischenfälle mit Schußwaffengebrauch durch Grepo
a) Am 1.6.1962, gegen 21.10 Uhr, wurde eine 16jährige West-Berlinerin an der Zonengrenze von Lichterfelde-Süd, zwischen Ostpreußendamm und Teltowkanal, von einen Grepo angeschossen und mit einem Beckenschuß in das Graf-Botho-Schwerin-Krankenhaus eingeliefert. Mit ihrer 17jährigen Freundin hatte sie versucht, einer Bekannten die Flucht nach West-Berlin zu ermöglichen. Dabei war die Freundin von Grepo festgenommen worden.
b) Am 5.6.1962, gegen 17.25 Uhr, versuchte ein Flüchtling zwischen Marschallbrücke und Reichstagsgebäude die Spree in Richtung West-Berlin zu durchschwimmen. Ein auf der Kaimauer des Reichstagufers ca. 150 m von der Sektorgrenze entfernt im SBS stehender Grenzpolizist gab aus seiner MP 6 Schüsse ab, worauf der Flüchtling offenbar getroffen unterging. Zwei Boote der Volkspolizei und ein Feuerlöschboot suchten das Wasser nach dem Erschossenen ab und bargen gegen 19.45 Uhr die Leiche.
c) Am 8.6.1962, gegen 05.05 Uhr, befuhr das sowjetzonale Fahrgastschiff "Friedrich Wolf" aus Treptow kommend die Spree in westlicher Richtung. In Höhe des Landwehrkanals änderte es plötzlich seine Fahrtrichtung und hielt auf die bereits in West-Berlin gelegene Schleuse zu. Sofort eröffneten Vopo (Streifen, Posten und 3 Besatzungen von Vopo-Booten) das Feuer. Als das Schiff West-Berliner Gebiet erreicht und provisorisch an der Schleuseneinfahrt festgemacht hatte, erwiderten Schutzpolizeibeamte das anhaltende Feuer der Vopo und zwangen ein in Richtung West-Berlin fahrendes Vopo-Boot zum Abdrehen. Unter diesem Feuerschutz erreichten 14 Flüchtlinge (13 Erwachsene und 1 Kleinkind) unverletzt West-Berliner Gebiet. Der Kapitän und der Maschinist, die von den Flüchtlingen für die Dauer der Flucht überwältigt worden waren, kehrten mit dem Fahrgastschiff in den SBS zurück. Bei diesem Zwischenfall gaben Vopo ca. 200, Schutzpolizeibeamte 10 Schüsse ab. Auf West-Berliner Gebiet wurden 12 Einschüsse festgestellt und 2 Projektile gefunden. Eines der Geschosse hatte die Fensterscheibe einer Kantine durchschlagen.
d) Am 10.6.1962, gegen 00.30 Uhr, flüchteten eine 15- und eine 18jährige männliche Person in N 4, Bernauer Str./Bergstr., nach West-Berlin. Als sie die Mauer des Friedhofs der Sophien-Kirchengemeinde überstiegen, wurden sie von Grepo entdeckt und beschossen. Dabei erhielt der 18jährige Flüchtling je einen Schuß in den in den rechten Ober- und in den linken Unterschenkel, konnte jedoch trotzdem West-Berliner Gebiet erreichen.
e) Am 18.6.1962, gegen 18.40 Uhr, flüchteten 2 weibliche Personen und 2 Kinder durch einen in W8, Zimmerstr. 62 (SBS), beginnenden Tunnel nach West-Berlin. Als Grepo die Flucht bemerkten, gaben sie 8 Schüsse auf die Flüchtenden ab. Dabei wurde ein Grepo, der sich den Flüchtlingen genähert hatte und offensichtlich die Flucht verhindern wollte, erschossen. Weitere 3 weibliche und 2 männliche Personen, die vermutlich ebenfalls durch den Tunnel flüchten wollten, wurden von Grepo vorher festgenommen.
Gegen 22.00 Uhr fuhren in W 8, Schützenstr./Jerusalemer Str., 3 Lkw auf und transportierten alle in der Zeitungsdruckerei des ehem. "Mosse-Hauses" beschäftigten Personen ab. Am 25.6.62 wurden die Wohnungen des Hauses Zimmerstr. 62 zwangsgeräumt.
f) Am 22.6.1962, gegen 04.40 Uhr, gab ein Grepo in Niederschöneweide, an der Forsthausalleebrücke, aus einer MP einen Feuerstoß auf eine flüchtende männliche Person ab. Der Flüchtling brach zusammen und wurde nach ca. 15 Minuten anscheinend leblos von Angehörigen der sowjetsektoralen Feuerwehr in einer Zeltbahn abtransportiert.
2. Sonstige Zwischenfälle
a) Am 3. 6.1962, gegen 16.40 Uhr, brachte ein Boot der Grenzpolizei auf der Oberhavel, gegenüber von Konradshöhe, ein mit 6 französischen Soldaten besetztes Motorboot auf, das auf sowjetzonales Gewässer geraten war. Die französischen Soldaten wurden in Richtung Niederneuendorf abtransportiert und kehrten gegen 20.00 Uhr mit dem Boot nach West-Berlin zurück.
b) Am 11. 6.1962, gegen 04.20 Uhr, entdeckten Sportangler in der Nähe von Nikolskoe, im Wasser der Unterhavel treibend, die Leiche der 54jährigen Erna Kelm, Sakrow, Kladower Str. 3 wohn¬haft gewesen.
Vermutlich ist die Ertrunkene bei dem Versuch, schwimmend nach West-Berlin zu flüchten, ums Leben gekommen. Unter einem schwarzen Hausanzug trug sie einen Schwimmkorken. Im Strumpf versteckt wurde der SBZ-Personalausweis gefunden. Sichtbare Verletzungen konnten nicht festgestellt werden.
c) Am 16. 6.1962, gegen 16.15 Uhr, hörten Polizeibeamte 2 Schüsse in N 4, Scharnhorststr., auf dem Invalidenfriedhof. Kurze Zeit später liefen ein Arzt und ein Grepo zu einer von den Polizeibeamten nicht einzusehenden Stelle. Außerdem wurden dort mehrere Grepo-Offiziere beobachtet. Weitere Einzelheiten konnten nicht festgestellt werden.
3. Arbeiten an den Grenzsperren
a) Im Juni wurde der Ausbau der Grenzsperren auf sowjetisch besetztem Gebiet verstärkt durchgeführt. Arbeitskommandos der Grepo, die an mehreren Tagen eine Stärke bis zu 800 Mann erreichten,
- erstellten an der Heinrich-Heine-Str. eine zweite Mauer,
- erneuerten und verstärkten die Mauer am Bhf. Wilhelmsruh (37 m lang, 1,20 m breit, 1,80 m hoch) und in Schönholz, Klemkestr. (50 m lang, 2,2 m hoch, 1 m breit),
- errichteten an der gesamten Sektor- und Zonengrenze insgesamt 109 mit Schießscharten versehene bauliche Anlagen (überwiegend Erdbunker) und
- brachten im Humboldthafen, in der Havel (zwischen Niederneuendorf und ehem. Gutshaus Papenberge) und in der Spree (an der Schillingbrücke und in Höhe der Einmündung des Landwehrkanals) Wassersperren an.
Außerdem wurden entlang der gesamten Sektor- und Zonengrenze die bereits vorhandenen Sperren in der Tiefe ausgebaut.
b) Anzahl der an der Sektor- und Zonengrenze angebrachten Lautsprecher: 209, Beobachtungstürme: 112.
4. Beschädigungen an den Grenzsperren
a) Am 11. 6.1962, gegen 17.20 Uhr, ereignete sich an der Mauer der Niederkirchner Str., ca. 80 m von der in SW 61 gelegenen Stresemannstr. entfernt, eine Detonation.
Sofort durchgeführte Ermittlungen ergaben, daß unbekannte Personen von der Ruine des Völkerkunde-Museums aus 2 Sprengkörper zur Mauer gelegt hatten.
Während ein Sprengkörper detonierte und ein ca. 20 cm großes Loch in die Mauer riß, versagte beim zweiten die Zündanlage. Der Sprengkörper, die Zündanlage und eine 30 cm lange sowie 10 cm starke Preßluftflasche wurden sichergestellt.
Zu einem weiteren Vorkommnis dieser Art kam es am 26. 6.1962. Gegen 22.30 Uhr erfolgte an der Mauer, gegenüber dem in SW 61, Zimmerstr. 13 gelegenen Grundstück, eine Detonation. In Höhe der Bordsteinkante wurde ein ca. 400 cm² großer Durchbruch festgestellt. Außerdem zersprangen durch die Druckwelle 26 Fensterscheiben des in West-Berlin gelegenen Hauses Zimmerstr. 13 (Verwaltungsgebäude einer Versicherung). Mehrere Metallbruchstücke des Sprengkörpers wurden aufgefunden und sichergestellt. Unmittelbar nach der Detonation verstärkte die Grepo ihre Streifentätigkeit. Nach Angaben von Zivilpersonen sollen darüber hinaus im SBS bis 00.40 Uhr 5 vermutlich mit NVA-Angehörigen besetzte Lkw bereitgehalten worden sein.
b) Am 23. 6.1962, gegen 22.20 Uhr, setzten 5 männliche Personen 2 qm der in N 58, Schwedter Str., ca. 20 m südlich des Gleimtunnels stehenden Sichtblende in Brand. Die Personalien der Täter wurden festgestellt. Sowjetzonale Feuerwehr löschte den Brand.
5. Interzonen- und Sektorgrenzverkehr
a) Im Interzonen- und Sektorgrenzverkehr traten keine wesentlichen Änderungen ein.
b) Nach polizeilichen Unterlagen sind an der Sektor- und Zonengrenze 90 und im Interzonenverkehr 17 Personen von den bewaffneten Organen des Sowjetzonenregimes festgenommen worden.
c) Im Sektorgrenzverkehr sind folgende Vorkommnisse hervorzuheben:
(1) Am 22. 6.1962, gegen 23.50 Uhr, hielten Vopo den fahrplanmäßigen U-Bahnzug der Linie D auf dem U-Bhf. Alexanderplatz bis 00.20 Uhr an. Um 00.24 Uhr wurde dieser Zug kurz vor dem U-Bhf. Bernauer Str. erneut im SBS gestoppt. Ca. 25 Vopo überprüften die Fahrgäste und nahmen eine ca. 30jährige unbekannte männlich Person, die keine Ausweispapiere mitführte, fest. Gegen 00.40 Uhr konnte der Zug seine Fahrt fortsetzen.
Gegen 00.05 Uhr hatte die sowjetsektorale BVG die Leitung der West-Berliner BVG verständigt, daß ab sofort die U-Bahnlinie D gesperrt sei. Ein Grund für die Sperrung wurde nicht genannt. Mit Betriebsbeginn verkehrten die U-Bahnzüge der Linie D wieder planmäßig in beiden Richtungen.
(2) Bewohner der Bundesrepublik meldeten in mehreren Fällen, daß Grepo ihre Ausweispapiere beanstandet und das Betreten des SBS verweigert hätten. Gründe der Zurückweisungen waren u.a.
- angeblich undeutliche Verlängerungsvermerke und Ausweisnummern,
- Paßbilder von Personen, die eine Brille tragen, auf dem Bild jedoch ohne eine solche dargestellt waren,
- gelöste Ösen an Lichtbildern.
d) Polizeibeamte kontrollierten 3 019 CD- und CC-Fahrzeuge, die in beiden Richtungen die Sektor- und Zonengrenze passierte.
6. Flüchtlinge
Im Monat Juni flüchteten nach polizeilichen Feststellungen 86 Personen, davon 6 Angehörige der bewaffneten Organe des Sowjetzonenregimes, nach West-Berlin.
7. Maßnahmen der West-Berliner Polizei an Sektor- und Zonengrenze
a) Am 9. 6.1962, 14.00 Uhr, wurden die Absperrmaßnahmen am Brandenburger Tor im Einvernehmen mit der britischen Schutzmacht gelockert. Seitdem ist es Passanten möglich, während der Tageszeit in einem abgegrenzten Raum südlich der Straße des 17. Juni bis zum Hindenburgplatz zu gehen.
b) Am 19. 6.1962 begannen Kräfte der BerPol für die an der Sektor- und Zonengrenze eingesetzten Polizeibeamten durch Sandaufschüttungen, Sandsäcke usw. Schutz- und Deckungsmöglichkeiten gegen Waffeneinwirkungen sowjetzonaler Organe zu schaffen.
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Quelle: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin