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Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der Berliner Nikolaikirche, 29. Juni 1990

Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der Berliner Nikolaikirche, 29. Juni 1990

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 85, 3.7.1990, S. 733-736.



Verleihung der Ehrenbürgerwürde von Berlin an den Bundespräsidenten



Ansprache des Bundespräsidenten in der Nikolaikirche

Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde von Berlin in der Nikolaikirche In Berlin-Mitte am 29, Juni 1990 folgende Ansprache:

I.


Frau Präsidentin, Herr Präsident, Herr Regierender Bürgermeister, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren!

Von Herzen danke ich für die Ehre, die mir Berlin heute durch Sie zuerkennt. Es ist für mich ein wahrhaft bewegendes Erlebnis. Glücklich bin ich zunächst, selbst ein Anlaß dafür zu sein, daß das ganze Berlin mit seinen Abgeordneten zu einer Feier versammelt ist und gemeinsam handelt.

Wir alle empfinden dadurch wieder zutiefst, wie die Berliner - aller jahrzehntelangen Teilungsgewalt zum Trotz - unzertrennlich geblieben sind und immer bleiben werden.

Ich habe aber auch ganz persönliche Gründe zur Freude über diese hohe Auszeichnung, und ich hoffe, daß Sie sie mir nachfühlen werden. Im zweiten Schuljahr kam ich als Kind hierher. So wurde ich im frühen Alter mit dieser Stadt vertraut und wuchs ganz unbewußt in eine Zuneigung zu ihr hinein, die nie aufgehört hat. In meiner schwäbischen Familie lernte ich als erster und einziger, mich der unnachahmlichen Wohllaute der hiesigen Sprache zu bedienen. Ihre trockene Kraft, in guten und schweren Zeiten Ausdruck des unerschütterlichen Berliner Gemüts, hat auch meinen Selbstbehauptungswillen im Kreise von lauter älteren, reiferen und weiseren Geschwistern ungemein gestärkt. Mein Herz, das ich auf der Zunge trug, hatte von ihr gelernt, berlinerisch zu schlagen.

Ich bin dieser charaktervollen Sprache dankbar geblieben und habe sie nicht vergessen. So kam es, daß ich als neunter Regierender Bürgermeister der Nachkriegszeit doch wohl der erste war, der berlinern konnte, obwohl ich dann von meinem unmittelbaren Nachfolger in dieser hohen Kunst alsbald übertroffen wurde.

II.


Zu den Zierden Deutschlands gehören seine Städte. Unter ihnen ist Berlin weder die älteste noch die schönste. Unerreicht aber ist seine Lebendigkeit. Stets hat es die Chancen zu materieller und geistiger Blüte ebenso entschlossen genutzt, wie es seine Vitalität gerade in Zeiten schwerster Belastung bewiesen hat.

Die Stadtgeschichte ist von Weltoffenheit, von Toleranz und Liberalität geprägt. Unzählige verfolgte Menschen haben hier eine neue Heimat gefunden. Unsere heutigen Grundsätze von einem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat sind das Ergebnis einer langen und kämpferischen Entwicklung. Sie hat auf Berliner Boden neben schweren Rückschlägen entscheidende Impulse empfangen, durch große Reformer und Pioniere, durch die Kunst und den kritischen Geist, vor allem aber durch den wachen Sinn der Bevölkerung selbst.

Fast auf noch stärkere Weise als früher rückte die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Es kam die Lebenszeit der Teilung. So unterschiedlich die Lasten im Osten und Im Westen der Stadt auch verteilt waren, so bewährte sich Berlin doch im Geist der Gemeinsamkeit.

Mit der Blockade sollte der Westteil ausgehungert und erpreßt werden. Was sie aber hervorbrachte, war eine Kraft des Widerstandswillens, mit der alsbald aus Kriegsgegnern dauerhafte Partner und Freunde wurden, die die Blockade zusammen überwanden.

Beispielhaft für die Welt wurde der mutige Geist der Freiheit, mit dem sich am 17. Juni 1953 die Bevölkerung im Osten gegen fremde Panzer aufbäumte und damit für menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen eintrat.

Mit der Mauer entstand ein Bauwerk, das die Völker um seiner Unmenschlichkeit willen nie vergessen werden. Wer auf Erden für die Freiheit eintreten wollte, bekannte sich nun als Berliner. So gingen die Worte des unvergessenen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy um die Welt, so sprach Kenneth Kaunda für die Afrikaner, und ihm taten es die anderen Besucher in der geteilten Stadt gleich.

Für alle Deutschen aber blieb Berlin Unterpfand der Einheit der Nation. Die Mauer, die uns an eine endgültige Spaltung gewöhnen sollte, wurde nur immer stärker der tägliche Beweis für unsere Zusammengehörigkeit, sonst hätte es ihrer ja nicht bedurft. Berlin selbst lebte von der Gewißheit, daß die Geschichte weitergeht und eines Tages die Teilung überwunden sein wird.

Nirgends als in Berlin begriffen die Menschen so gut, daß es keine zumutbare Alternative ist, sich entweder für die Freiheit oder für die Einheit zu entscheiden. Die Berliner setzten und vertrauten darauf, daß die Freiheit Maßstab für die Einheit sein muß, daß sie aber auch der Motor dafür sein wird.

Als dann am 9. November 1989 die Mauer überwunden wurde, ging das Echo rund um den ganzen Erdball. An diesem Tag, wie vielleicht noch nie zuvor in unserer Geschichte, nahm buchstäblich die ganze Welt mit freudigem herzen Anteil am Schicksal der Deutschen und insbesondere der Berliner. Eine geduldige, entbehrungsbereite und tapfere Freiheitsliebe hatte sich durchgesetzt.

III:


Nun stellt die Stadt Ihre Einheit wieder her. im Vordergrund stehen die täglichen, praktischen Probleme der Menschen. Aber alle Fragen der Versorgung und des Verkehrs, der Wohnung, der Beschäftigung und der sozialen Sicherheit sind zentral davon beeinflußt, wie die zukünftige Aufgabe Berlins lautet. Was soll Berlin in Europa, was soll es vor allem in Deutschland selbst sein?

Das ist die Kernfrage, die uns alle betrifft. Es ist die Frage nach der Hauptstadt.

Klarheit darüber ist geboten. Es geht nicht um abstrakte Prinzipien oder politische Ehrgeize. Benötigt werden vielmehr konkrete, eindeutige Ziele für die Stadtentwicklung und für die Lebensentscheidung der Menschen. Das gilt selbstverständlich für beide von dieser Frage betroffenen Städte, für Berlin und für Bonn.

Die besondere Dringlichkeit deiner Klärung ergibt sich aber für Berlin aus seiner derzeitigen, in vollem Gange befindlichen Aufgabe, unter demnächst vielleicht fünf Millionen Menschen wieder zu einer Stadt zusammenwachsen.

Nicht ich habe die Hauptstadtfrage zu entscheiden. Das ist die Aufgabe des deutschen Volkes, vertreten durch seine Parlamentarier. Dennoch gehört es zu meinem Amt, auf ein klares Verständnis der Probleme und auf eine Entscheidung hinzuwirken. Darüber werde ich in der Stadt Bonn, der ich gleichfalls persönlich und dankbar verbunden bin, nicht anders reden als hier in Berlin.

Auch war zu einem abweichenden Urteil kommt, wird mir zubilligen und von mir erwarten, daß ich meine Meinung sage und begründe. Eines versteht sich von selbst: Ich werde mich mit ganzer Kraft für das gute Gelingen jeder Entscheidung einsetzen, wie auch immer sie ausfällt.

IV.


Bonn ist eine überschaubare und humane Stadt. Sie hat sich als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland bewährt, und das weiß man auch in Berlin. Die Demokratie hat sich am Rhein stabil entwickelt. Der von Bonn ausgehende Ruf der Deutschen bedeutet Zuverlässigkeit. In der Zeit der Teilung verbindet sich mit der Hauptstadt Bonn ein gutes Kapitel deutscher Geschichte.

Wenn wir jetzt der Einheit entgegengehen, scheint es nahezuliegen, an dieser positiven Erfahrung auch für die Zukunft anzuknüpfen. Gewichtige Gründe werden also im In- und Ausland für Bonn genannt. Manchmal heißt es, sie sprächen nicht nur für Bonn, sondern vor allem auch gegen Berlin. Das gilt es zu prüfen.

Während der vergangenen vierzig Jahre haben in der Bundesrepublik zwei Grundentscheidungen mit Bonn einen überzeugenden Ausdruck gefunden: unser Föderalismus und unsere Bindung an den Westen. Ohne Zweifel wird das vereinigte Deutschland an beidem festhalten.

Entscheidet sich aber damit bereits die Hauptstadtfrage?

Zunächst zum Föderalismus. Es wird ins Feld geführt, nur kleinere Hauptstädte mit geringerem Einfluß auf die Gesellschaft des ganzen Landes seien dem Charakter eines Bundesstaates zuträglich. Auf Beispiele aus anderen Ländern wie Kanada und Australien wird verwiesen.

Freilich kommt es für uns auf die deutschen Verhältnisse an. Und da erscheint mir dieses Argument wenig stichhaltig. Ist unser Föderalismus in der Bundesrepublik denn nur deshalb so gut gediehen, weil sich die Bundesländer mit ihren Hauptstädten durch das bescheidene Bonn nicht beeinträchtigt fühlten?

Müßte er so viel Angst vor einer großen, eigenständigen Metropole als Hauptstadt haben, daß er auf die verfassungsrechtliche Schlüsselstellung, die er den Ländern in Bundesangelegenheiten gibt, nicht vertrauen dürfte?

Und wenn es an Befugnissen der Länder fehlen sollte, wäre dies dann eine Frage der Hauptstadt und nicht vielmehr der Verfassung? Können München und Hamburg, Stuttgart, Köln und Frankfurt nur deshalb so selbstbewußt auftreten, weil sie in der Zentrale keinen Rivalen sehen?

Wäre es wirklich so, dann stünde dieser Föderalismus bei uns auf schwachen Beinen. Unsere Geschichte lehr uns in Wahrheit etwas anderes. Wir Deutschen waren, historisch betrachtet, nur in Ausnahmefällen zentralistisch organisiert. In Wahrheit prägt uns schon durch die Jahrhunderte ein zutiefst föderales Empfinden. Es gibt unserem nationalen Bewußtsein seine eigene Qualität und Wärme.

Ein ausgewogener Föderalismus ohne Vorherrschaft durch eines der Länder ist heute das besondere Markenzeichen unseres staatlichen Ausbaus. Er prägt das Lebensgefühl der Menschen in Deutschland. Er ist eine Quelle der Kraft und nicht zuletzt ein charakteristischer Beitrag, ich möchte sagen, ein Beispiel der Deutschen für Europa.

Auch im Zuge der werdenden Einheit wird es beim Föderalismus bleiben. Gerade darin werden sich Sachsen und Rheinländer, Bayern und Brandenburger und alle die anderen Deutschen auf Anhieb einig sein.

Wer meint, nur mit dem kleinen Bonn lebe der Föderalismus fort, während ihm von der Metropole Berlin Gefahr drohe, enthüllt sich als ein Föderalist von höchst dürftigem Selbstbewußtsein.

Seine Argumente wären furchtsam und sie wären auch historisch ebenso falsch wie die Behauptung, Berlin sei auf Grund geschichtlicher Erfahrung gleichbedeutend mit Macht, Übermacht, Machtmißbrauch.

Gewiß ist es wahr, daß sich bei uns und in Europa mit dem Namen Berlin nicht nur gute Erinnerungen verbinden. Daraus sind Vorbehalte erwachsen, mit denen wir uns ernsthaft auseinandersetzen müssen. Aber gerade wenn wir dies tun, erkennen wir, daß sie sich im Ernst eben nicht gegen Berlin richten dürfen, sondern gegen deutsche Machthaber, die überall ihr Unwesen treiben können.

Die Berliner selbst haben vielerlei Herrscher erlebt, sie haben ihnen gedankt, wenn sie Vernunft und Mäßigung bewiesen, ihren Exzessen aber mißtraut und soweit wie möglich widerstanden. In den zwanziger Jahren haben sie auf ihren Straßen beinahe täglich mit großem Einsatz um die erste deutsche Republik gekämpft.

Als Berlin später Machtmittelpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft und damit Ausgangspunkt für Weltkrieg und Holocaust wurde, lag dies zuallerletzt an den Berlinern. Die Wahlergebnisse, die die Nazis noch nach ihrer Machtergreifung im Wahlkreis Berlin erzielten, gehörten zu den schlechtesten in ganz Deutschland.

Man lese bei Goebbels in seinen Aufzeichnungen nach, wie unglaublich schwer sich die neuen Machthaber getan haben, um - wie er schreibt - den Beninern "unter Strömen von Blut und Tränen" die neue Herrschaft "einzuhämmern und aufzuzwingen". Auch jener Aufstand gegen Hitler, für den wir die Männer und Frauen des 20. Juli ehren, ist mit Berlin verbunden.

Die Berliner beanspruchen keinen Sonderglorienschein. Aber was auch immer die Deutschen in ihrer jüngeren Geschichte auf sich geladen und erlitten haben - es ist unhistorisch und ungerecht, einfach unsinnig, die Berliner stellvertretend für alle dafür haftbar zu machen.

V.


Und wie steht es mit dar Westbindung? Was bedeutet und was erfordert sie? Sie entspricht, wie ich glaube, unserer Überzeugung und ist unsere Leitlinie für die Zukunft. Sie bildet den Kern unserer Wertentscheidungen im Innern, und dies wird die Verfassung des vereinten Deutschlands kennzeichnen, völlig unbeeinträchtigt von jeder Hauptstadtwahl.

Die Westbindung ist und bleibt auch das Fundament unserer Außenpolitik. Das bedeutet zunächst, daß wir gemeinsam vor allem mit Frankreich zum Zusammenwachsen der Europäischen Gemeinschaft energisch beitragen wollen und werden. Diese Gemeinschaft ist der Motor in Europa. Nicht zuletzt ihrer beispielhaften Entwicklung verdanken wir die Reformansätze in der Sowjetunion und damit auch den Erfolg dar friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa. Mit ihrer werdenden Einheit muß und kann sich der Gemeinschaftsimpuls der Deutschen noch verstärken.

Westbindung heißt aber nun durchaus nicht, uns geographisch auf den Westen zurückzuziehen oder gar eine westeuropäische Festung auszubauen. Das genaue Gegenteil ist unser Ziel: Die Stärkung des Westens hat zum Inhalt, das er in voller Offenheit auf den Osten zugehen kann. Niemand sieht dies deutlicher, niemand hat ein vitaleres Interesse daran als wir Deutschen. Der Erfolg und die Verantwortung des Westens wird sich im Osten erweisen.

Und welche Konsequenz hat dies für die Hauptstadtfrage? Bonn hat eine gute Tradition und Übung in den Aufgaben der Gemeinschaft. Berlin erscheint durch Lage und Erfahrung für ostpolitische Zusammenarbeit prädestiniert.

Aber beides kam doch nicht im Ernst heißen, nur Bonn garantiere eine verläßliche Gemeinschaftsorientierung und nur Berlin die dringend gebotene Ostkooperation. Warschau und Prag, Budapest und auch Moskau hätten eine allzu dürftige Aussicht auf eine wirksame Zusammenarbeit mit uns, wenn dies von einer Hauptstadtentscheidung für Berlin abhinge, so wie auch unsere Partner in der Gemeinschaft wenig Vertrauen in die Zukunft unserer Mitgliedschaft haben könnten, wenn dies lediglich von einer Hauptstadt Bonn erwarten wäre.

Solche nur geographischen Argumente wären in Wahrheit klägliche Zeichen von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Ganz gewiß ist eine aktive Ostpolitik auch von Bonn aus möglich. Und was die Westbindung anbetrifft, so sind es gerade die Westberliner, die dafür die entscheidenden Weichen in dar Nachkriegszeit gestellt haben.

Es war Ernst Reuter, der die zögernden westdeutschen Ministerpräsidenten von der Notwendigkeit überzeugte, die Bundesrepublik zu gründen. Und das dauernde Freundschaftsverhältnis mit den Amerikanern wurde nicht am Rhein begründet, sondern in Berlin.

Unsere Interessen und unsere Verantwortung als Deutsche sind und bleiben in unserer unaufgebbaren Westbindung fest verwurzelt. Eben deshalb zielen sie auf Sicherheit und Frieden für ganz Europa und auf die west-östliche Zusammenarbeit in allen ihren Bereichen.

Je offener eine Stadt dafür ist und je mehr sie dafür zu bieten hat, desto besser ist sie gerade auch unter außenpolitischen Aspekten als Hauptstadt qualifiziert.

VI.


In den goldenen zwanziger Jahren hieß es, das Beste am Berliner Theaterleben sei die Kritik mit ihrer inspirierenden Wirkung für die Bühnen gewesen. Politik ist oft nicht so unterhaltsam wie Theater. Aber eine Bühne ist sie auch, und ihre Qualität bekommt jeder zu spüren, im guten und im schlechten. Es kann dar Politik nur nützen, inmitten des wachen, weltoffenen, kritischen Publikums einer Metropole zu leben, anstatt dort, wo sie wirkt, nur sich selbst zu begegnen. Je mehr sie auch im gewöhnlichen Tageslauf der Gesellschaft im ganzen ausgesetzt ist, desto besser für ihre Maßstäbe, desto heilsamer für ihren Horizont.

Diese allgemeine Erfahrung gewinnt für uns Deutsche heute eine besondere Bedeutung. Mit der Vereinigung liegt eine Bewährungsprobe vor uns, die von uns allen in Ost und West neues, offenes Denken und Handeln erfordert. Materielle und geistige Aufgaben durchdringen einander wechselseitig.

Wirtschafts-, Sozial- und Umweltunion stehen jetzt mit Recht im Vordergrund. Wir werden sehr rasch auf die Probe gestellt, wie tragfähig unser Föderalismus gesamtstaatlich ist, das heißt, wie gut es gelingen wird, ein dauerndes, materielles Gefälle zwischen verschiedenen Regionen zu vermeiden, überdies eine Gefahr, die in manchen anderen europäischen Ländern, selbst ohne die Last einer politischen Teilung, bisher nicht gebannt werden konnte.

Für dies Aufgabe ist es erforderlich, daß die Regierenden den ganz unterschiedlichen Realitäten in den beiden Teilen Deutschlands täglich konkret und praktisch begegnen. Erst recht gilt dies aber für die geistigen Prozesse. Dazu gehört die empfindsame Verarbeitung der Geschichte, zumal der letzten vierzig Jahre, mit ihren glänzlich unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West. Wie wir uns in dieser Aufgabe bewähren, wird wesentlich zur Antwort darauf beitragen, wie gut uns die Vereinigung gelingt und wer wir zusammen sein werden.

Die Lasten waren völlig ungleich verteilt. Jeder hat, so gut er es vermochte, sein Leben geführt. Nichts kann und nichts darf als ungeschehen behandelt oder als vergeblich abgetan werden. Wer meint, vierzig Jahre für sich oder bei anderen abschütteln zu können, der verleugnet das Leben.

Bewunderung oder Vorwürfe über Kreuz sind wenig hilfreich. Dennoch gehören nun unser beider Erfahrungen uns gegenseitig und uns allen gemeinsam in Deutschland.

Es ist für unsere Zukunft wichtig, daß sich aus einem so unterschiedlichen Gelingen zweier Vorgeschichten keine Dauerlasten für den einen Teil der Deutschen bilden. Auch im historisch-geistig-moralischen Sinne stimmt die Aussage, daß wir die Teilung nur überwinden, wenn wir teilen lernen. Es dürfen keine inneren Mauern zurückbleiben oder gar neue entstehen.

Deshalb müssen wir uns einander aussetzen, damit wir die Unterschiede besser verstehen. Es ist ganz gewiß keine menschliche und politische Herabsetzung der Bonner Atmosphäre, sondern eine nüchterne Lagebeschreibung, für die niemanden eine Schuld trifft, festzustellen, daß man dort dieser so notwendigen Begegnung zweier Realitäten unvergleichlich viel weiter entzogen ist als in Berlin.

Nirgends wurde die Teilung so erlebt wie in Berlin. Nirgendwo anders begegnen wir heute so nachdrücklich der Aufgabe, die uns die werdende Einheit stellt, nämlich dafür zu sorgen, daß auf die Dauer kein Nebeneinander zweier völlig unterschiedlich belasteter Bevölkerungsteile bestehenbleibt.

Nur in Berlin kommen wir wirklich aus beiden Teilen und sind doch eins. Das ist die große Chance für ein gesundes, allmähliches Zusammenwachsen. Die Politik muß es täglich unmittelbar miterleben, denn sie trägt die Verantwortung dafür, daß unsere Vereinigung dauerhaft gelingt.

VII.


Es gibt weitere Aspekte, so die Kostenfrage. Sie ist wie stets und mit Recht in der Politik von großem Gewicht. Nur sollte niemand glauben, es gebe zwei Lösungen, von denen die eine überaus kostspielig und die andere kostenlos wäre. Jede Entscheidung ist teuer, und zwar um so mehr, je länger sie auf sich warten läßt.

Augenmaß für den angemessenen Platz der Kostenfrage wird uns weiterhelfen. Wer die Finanzierbarkeit seiner Politik nicht ernst nimmt, der handelt verantwortungslos. Wer sich aber allein von den Kosten für seine politischen Grundsätze leiten läßt, der hat keine.

Die Aufgaben, vor die uns die Geschichte heute stellt, sind wahrhaft groß. Das wird uns den richtigen Rang der Kostenüberlegung finden lassen.

Menschlich wichtiger als die Finanzfragen sind harte persönliche Lebensentscheidungen, die für eine große Zahl von Bürgern mit einer Hauptstadtentscheidung notwendig werden können. Niemand darf sie auf die leichte Schulter nehmen. Es gilt, angemessene Lösungen für individuelle Schicksale zu finden. Die werdende Einheit bringt historisch unglaublich viel in Bewegung, aber unvermeidlicherweise auch Belastungen im persönlichen Bereich.

Nur darf uns auch dies nicht nahelegen, einer Entscheidung so lange wie möglich aus dem Wege zu gehen. Damit wäre niemandem gedient. Es gibt zwar bekanntlich Probleme, die sich von selbst erledigen, vorausgesetzt, daß man sie dabei nicht stört. Es wäre jedoch unverantwortlich, die Hauptstadtfrage dazuzuzählen. Sie läßt sich nicht auf die lange Bank schieben.

Es mag wichtige äußere Gründe geben, eine Entscheidung für Berlin als Hauptstadt nicht sofort umzusetzen, sondern erst nach einiger Zeit, in ausgewogener Verteilung und schrittweise. Aber das darf unsere Volksvertretung nicht daran hindern, die Entscheidung so bald wie möglich zu treffen.

Denn kleine und große, öffentliche und private Schritte müssen täglich unternommen werden, sie stehen im bewußten oder unbewußten Zusammenhang mit der Hauptstadtfrage. Wer immer sie tut, hat Anspruch auf eine verbindliche politische Perspektive. Es muß jetzt bald klar sein, wohin die Reise geht. Dann kann der Fahrplan selbst mit seinen Zeiten beweglich sein.

Lediglich gegen die Stimmen der damaligen KPD hatte der Bundestag am 3. November 1949 beschlossen, daß die leitenden Bundesorgane ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands Berlin verlegen, sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen überall durchgeführt sind, so der Wortlaut.

Dieser Beschluß liegt lange zurück. Widerrufen wurde er nie. Sein Inhalt entspricht vielmehr der Haltung, die wir in der Bundesrepublik Deutschland und im ganzen Westen seit über vierzig Jahren vertreten haben. Wir haben es getan, ohne zu wissen, ob es wieder zur deutschen Einheit kommen würde. Aber nun, wo sie zu unserer tiefen Freude Wirklichkeit wird, soll nicht mehr stimmen, was alle Deutschen in der DDR ständig von uns gehört und worauf sie vertraut haben?

Um der Geltung unserer Worte und um unseres eigenen Interesses willen haben wir allen Grund, dieses Vertrauen jetzt zu honorieren. Denn mit Berlin handelt es sich um etwas vom Wertvollsten, was auch die DDR in die Vereinigung einzubringen hat.

Nach eine vierzigjährigen Trennung ist die werdende Einheit etwas historische Großes und Neues, zu dem jeder das Seine zum Wohle des Ganzen beitragen soll. In Berlin haben wir, wie nirgends sonst, erfahren, was die Teilung bedeutet. In Berlin erkennen wir, wie nirgends sonst, was die Vereinigung von uns erfordert.

Hier ist der Platz für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands.

Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, ganz zum Schluß noch einen Bezug zu dem Ort, an dem wir uns heute versammelt haben. Wir sind hier in der Nikolaikirche. Ihr berühmtester Diakon war Paul Gerhardt. Ihm verdanken wir einige der schönsten Kirchenlieder deutscher Sprache. Obwohl sie es immer wert sind, und obwohl wir die besten instrumentalen Begleiter der Welt bei uns haben, will ich uns nicht auffordern, eines davon zu singen. Wir leben ja bewußt und gewollt in einem weltanschaulich neutralen Staat.

Aber da unter den Politikern der DDR die Theologie so stark vertreten ist, weit stärker als in der Bundesrepublik, darf ich vielleicht einen Vers aus seinem Lied "Nun danket all und bringet Ehr..." zitieren, er hat ihn kurz vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges gedichtet. Da heißt es:

Er lasse seinen Frieden ruhn
auf unserm Volk und Land
er gebe Glück zu unserm Tun
und Heil zu allem Stand.

So einfach und direkt wie damals können wir heute kaum noch sprechen. Aber auch in unserer zeit tut es gut, uns um einen solchen Geist zu bemühen. Möge es uns zusammen mit allen unseren Nachbarn gelingen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 85, 3.7.1990
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