Material > Dokumente > 1990 > Januar > Rede von DDR-Ministerpräsident Hans Modrow in der Volkskammer, 29. Januar 1990

Rede von DDR-Ministerpräsident Hans Modrow in der Volkskammer, 29. Januar 1990

Rede von DDR-Ministerpräsident Hans Modrow in der Volkskammer, 29. Januar 1990

Präsident Dr. Maleuda



Verehrte Abgeordnete! Das Präsidium der Volkskammer unterbreitet Ihnen den Vorschlag, die Tagung nicht um 10.00, sondern um 11.00 Uhr zu beginnen und in Vorbereitung dieser Tagung jetzt noch einmal in den Fraktionen zu beraten.

Die Notwendigkeit ergibt sich zwangsläufig aus der Beratung, die am gestrigen Abend stattgefunden hat. Ministerpräsident Modrow hatte die Vertreter der Koalitionsregierung und Vertreter der Opposition zu einem Gespräch eingeladen.

Es sind nach einer sehr umfangreichen Diskussion Empfehlungen ausgearbeitet worden, die unseres Erachtens sehr dringend und notwendig zunächst in den Fraktionen zu beraten sind, zumal in der heutigen Veröffentlichung durch die Presse bereits eine solche Darstellung erfolgt, als ob es sich um feststehende Beschlüsse handele.

(Zustimmung)

Das kann man so natürlich dem Hohen Haus nicht anbieten.

(Sehr richtig! und Beifall)

Wir erachten es für dringend notwendig, daß nach der Beratung in den Fraktionen Ministerpräsident Hans Modrow zu Beginn der Plenartagung eine Erklärung abgibt.

Ich bitte Sie, dafür Verständnis zu haben, daß wir jetzt in die Beratung der Fraktionen eintreten. - Danke schön.

(Unterbrechung der Sitzung)

Verehrte Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 15. Tagung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik und begrüße Sie sehr herzlich. Wir begrüßen alle Gäste, unter ihnen die Vertreter des Runden Tisches.

Vor Eintritt in die Tagesordnung wird, meine Damen und Herren, Ministerpräsident Modrow eine Erklärung zu den Ergebnissen der Beratung vom gestrigen Abend mit Vertretern der Koalitionsregierung und mit weiteren Vertretern des Runden Tisches abgeben. Das Präsidium schlägt Ihnen vor, danach erneut in eine Beratungspause für die Fraktionen einzutreten.

Zu der Ihnen vorliegenden Tagesordnung gibt es zunächst zwei Veränderungen:

Von der Fraktion des DFD wird gewünscht, auch zu Punkt 2 der Tagesordnung eine Aussprache zu ermöglichen. Sicher ist das im Zusammenhang mit der Erklärung und den Diskussionen in den Fraktionen richtig, da es um Fragen des Wahlgesetzes geht.

Des weiteren wird vom Präsidium der Vorschlag unterbreitet, den Tagesordnungspunkt 6 "Beschluß über Veränderungen in Ausschüssen der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik" von der Tagesordnung abzusetzen.

Ich möchte die Frage stellen, ob Sie mit diesen Ergänzungen und Veränderungen der Ihnen vorliegenden Tagesordnung einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann bitte ich um Ihre Zustimmung. - Danke schön. Gibt es Gegenstimmen? Eine Gegenstimme. Gibt es Stimmenthaltungen? Eine Stimmenthaltung. Dann verfahren wir so, meine Damen und Herren.

Ich bitte jetzt Ministerpräsident Dr. Hans Modrow, das Wort zu nehmen.

Vorsitzender des Ministerrates, Abg. Dr. Modrow:



Werte Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einige Ausführungen zur Lage in unserem Land machen in Verbindung mit einer Veröffentlichung, die am heutigen Tag in allen Zeitungen zu finden ist, Wahlen zur Volkskammer für den 18. März seien vereinbart. Sie sind - das ist klar - durch die Volkskammer selbst zu entscheiden.

Ich möchte damit zugleich die Begründung geben und Vorschläge unterbreiten, über die Sie zu entscheiden haben, ganz allein in Ihrer Verantwortung als Abgeordnete dieses Hohen Hauses. Es sind Vorschläge, die allen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik die Möglichkeit eröffnen sollen, in freier Entscheidung die Situation in unserem Land zu bessern, zu beruhigen, die stabilisieren. Ich darf besonders auf die folgenden Probleme hinweisen.

Die gegenwärtige Regierungskoalition erweist sich, wie Sie selbst wissen, zunehmend als zerbrechlich. Die ökonomischen und sozialen Spannungen in der Gesellschaft haben zugenommen und berühren bereits das tägliche Leben vieler Menschen. In wachsendem Maße werden Forderungen nach Erhöhung der Löhne und Gehälter, nach Verlängerung des Urlaubs, nach Erhöhung der Renten und nach weiteren sozialen Verbesserungen erhoben. Allein die bisher bekannten Forderungen würden Mittel in Höhe von mehr als 40 Mrd. M voraussetzen. Das wäre wertmäßig etwa ein Drittel des gesamten Einzelhandelsumsatzes der DDR. In diesem Vergleich können wir bereits erkennen, daß diese Forderungen die Möglichkeiten des Staates bei weitem Übersteigen und, wenn ihnen nachgegeben wird, die Existenz der DDR gefährden.

Ich muß in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß der Fehlbetrag im Staatshaushalt bereits 17 Mrd. Mark beträgt und auf diese Summe angewachsen ist. Sie kennen diese Situation bereits aus den Beratungen des Hohen Hauses.

Voraussetzungen für umfangreiche Lohnmaßnahmen und andere soziale Leistungen können nur durch effektives Wirtschaften geschaffen werden. Tatsächlich aber verschlechtert sich die ökonomische Lage besorgniserregend, weil Streiks und befristete Arbeitsniederlagen, langsameres Arbeiten und andere Störungen zu erheblichen Produktionsausfällen führen. Diese Ausfälle haben Kettenreaktionen für viele Betriebe, für die Versorgung der Bürger sowie für die gesundheitliche Betreuung zur Folge. Daraus erwachsen weitere soziale Spannungen, die mit den vorhandenen politischen Strukturen immer weniger beherrscht werden können.

In einer Reihe von Kreisen haben sich örtliche Volksvertretungen nahezu aufgelöst oder sind nicht mehr beschlußfähig. Die bestehenden örtlichen Volksvertretungen widerspiegeln nicht in jedem Falle die im jeweiligen Territorium vorhandenen politischen Interessen, zum Teil werden auch die Abgeordneten nicht mehr anerkannt. Überprüfungen von Wahlmanipulationen während der Kommunalwahlen im vergangenen Jahr beschleunigen diesen Prozeß der Demontage von örtlichen Volksvertretungen.

Er führt auch zur Unsicherheit im gesamten Staatsapparat. Rechtsstaatlichkeit und Rechtsordnung werden zunehmend in Frage gestellt. Geltende Rechtsvorschriften werden von verschiedenen Interessengruppen oder einzelnen Bürgern gröblichst verletzt. Der Schutz der Bürger ist nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Wort des Dankes und der Anerkennung allen Angehörigen der Volkspolizei sagen, die sich bemühen, Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie verdienen dabei die Unterstützung aller rechtschaffenen Bürger, aller Parteien und politischen Gruppierungen.

(Beifall)

Ich möchte herzlichen Dank all denen sagen, die als Unruhige in den Oktobertagen in unserem Lande begonnen haben, Veränderungen einzuleiten, den Kirchen, all denen, die nun auf Besonnenheit orientieren und diese von allen Bürgern im Lande erwarten.

Die Radikalisierung der politischen Szene in der DDR zeigt sich in der zunehmenden Anzahl anonymer Bombendrohungen gegen Betriebe, örtliche Räte, öffentliche Einrichtungen und Wohngebäude. Die notwendige Räumung einer Kinderklinik und von Feierabendheimen ist nur eines von zahlreichen anderen Anzeichen für die Gefährlichkeit des Radikalismus. Es gibt auch tätliche Angriffe auf Bürger, Zerstörung von Wohnungseinrichtungen, Zerstörung von gesellschaftlichem Eigentum. Damit wächst unter der Bevölkerung die Unsicherheit.

Die Ausreisewelle hält unvermindert an. Alle Maßnahmen und Appelle der Regierungen haben es bisher nicht vermocht, diesen Aderlaß aufzuhalten, der die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in besonderem Maße schmälert, ganz abgesehen von der außerordentlichen Tragik, die mit dieser Ausreisewelle verbunden ist.

Dies ist, kurz gesagt, ein Blick auf die Situation im Lande, und jeder von Ihnen, verehrte Abgeordnete, kann dem sicherlich aus eigener Erkenntnis und aus eigenem Erleben weitere Fakten hinzufügen und die analytischen Bemerkungen auch aus seiner Sicht weiterführen und bestätigen. Ich glaube, daß ich hier nicht dramatisiere, sondern daß ich hier die reale Lage und Situation, in der wir uns befinden, nur bemüht war, in aller Knappheit und Kürze Ihnen noch einmal vor Augen zu führen.

Aus der Erkenntnis dieser Lage und eingedenk der Verantwortung, die ich als Ministerpräsident mit Ihrer Zustimmung übernommen habe, hat auf meine Einladung gestern bis Mitternacht eine Beratung mit den verantwortlichen Vertretern aller Parteien und politischen Gruppen stattgefunden, die den Runden Tisch bilden. Nach siebenstündiger intensiver Diskussion, unterbrochen von zwei gesonderten Beratungen, wurde ein Konsens erreicht, der uns geeignet scheint - jedenfalls nach Einschätzung der Beteiligten und meiner eigenen Einschätzung -, eine Beruhigung und allmähliche Stabilisierung der politischen Situation zu erreichen und dieser zu dienen.

Dieser Konsens besteht erstens darin, daß der Volkskammer vorgeschlagen wird, die Wahlen für die Volkskammer auf den 18. März vorzuziehen. Zweitens besteht der Konsens darin, daß vorgeschlagen wird, die Wahlen zu den Volksvertretungen sämtlicher Städte und Gemeinden, wie vorgesehen, am 6. Mai abzuhalten. In dieser Situation wird auch von einigen die Frage gestellt, ob darin die Wahl der Kreistage einzubeziehen wäre, da die Situation vieler Kreise auch ein solches Erfordernis wahrscheinlich mit in die Betrachtung einbeziehen läßt.

Drittens wurde Einigkeit darüber erzielt, daß eine Regierung der nationalen Verantwortung geschaffen werden sollte. Dies kann dadurch erreicht werden, daß die bisher in der Regierung nicht vertretenen Parteien und politischen Gruppen des Runden Tisches jeweils einen Vertreter in die Regierung entsenden, der als Minister ohne Geschäftsbereich Sitz und Stimme im Ministerrat erhält und auf weitere geeignete Weise aktiv in die Arbeit des Ministerrates, insbesondere bei der Vorbereitung wichtiger, grundlegender Entscheidungen, einbezogen wird.

Viertens wurde Übereinstimmung dahingehend erzielt, daß die Regierung einen ständigen Vertreter im Range eines Ministers an den Runden Tisch entsendet, um die Zusammenarbeit auch auf diese Weise zu vertiefen.

Ich habe von den betreffenden Parteien und Gruppierungen die personellen Vorschläge bis zum kommenden Mittwoch erbeten, und ich möchte, sofern die Volkskammer dem zustimmen wird, auf der nächsten Tagung der Kammer die Persönlichkeiten zur Wahl vorstellen, die als Minister meine Regierung ergänzen und sie zu einer Regierung der nationalen Verantwortung in dieser so schicksalhaften Situation unseres Landes machen sollen.

Jetzt ist es an Ihnen, verehrte Abgeordnete, Ihr Wort zu diesen Vorschlägen zu sprechen. Ich bitte Sie, bei Ihrer Entscheidung gewiß zu sein, daß die Bürger im ganzen Land auf Sie blicken, die Bürger, die von uns allen erwarten, daß in der DDR geordnete Verhältnisse einziehen, Rechtsstaatlichkeit gewährleistet wird, das tägliche Leben nicht als Last empfunden werden muß, jeder wieder Vertrauen in die Zukunft gewinnen kann.

Denken Sie bitte auch daran, daß die Entwicklung in der DDR von ganz Europa, ja, auch darüber hinaus mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wird. Die Länder Europas erwarten, daß die DDR in ihrer demokratischen Entwicklung den Prozeß der europäischen Einigung fördert. Wenn wir eine stabile DDR gestalten und dafür sorgen, dienen wir einem übergeordneten nationalen Interesse, schaffen wir Voraussetzungen für eine Vertragsgemeinschaft und eine weitergehende Annäherung beider deutscher Staaten, erweisen wir uns aber zugleich der europäischen Verantwortung würdig. Wir alle stehen jetzt und heute in dieser Verantwortung vor den Bürgern unseres Landes, und wir sollten uns dieser Verantwortung gemeinsam würdig erweisen.

(Beifall)

Präsident Dr. Maleuda:



Meine Damen und Herren! Wir danken Ministerpräsident Dr. Modrow für diese Erklärung und verfahren so wie beschlossen. Wir treten jetzt in eine Pause von 45 Minuten ein, um uns in den Fraktionen zu beraten. - Wir setzen die Beratung um 12.00 Uhr fort.

(Pause)

Quelle: Stenografische Niederschrift der 15. Tagung der Volkskammer, 29. Januar 1990.
Zum Seitenanfang