Brief von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow an SED-Generalsekretär Erich Honecker, 4. Juni 1987
Brief von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow an SED-Generalsekretär Erich Honecker, 4. Juni 1987Vertraulich
Persönlicher Brief Michail Gorbatschows
Lieber Genosse E. Honecker!
Ich möchte Sie über die Umstände im Zusammenhang mit der Landung eines ausländischen Flugzeuges am 28. Mai in Moskau informieren.
Um 14.29 Uhr Moskauer Zeit wurde mit bodengestützten funkmeßtechnischen Mitteln der Truppen der Luftverteidigung im Luftraum ein Objekt ausgemacht, das die Staatsgrenze überquert hatte und seinen Flug über den Finnischen Meerbusen fortsetzte. Der Kommandeur der zuständigen Einheit meldete das Vorkommnis 14.52 Uhr an den Operativen Diensthabenden des zentralen Gefechtsstandes der Truppen der Luftverteidigung und begann mit der Aufklärung des von den Funkmeßstationen aufgefaßten Objekts. Es wurde Alarm ausgelöst, und von verschiedenen Flugplätzen stiegen mehrere Abfangjäger auf. Zwei von ihnen beobachteten das Ziel und bestimmten es als ein leichtmotoriges Zivilflugzeug. Allerdings wurde die Staatszugehörigkeit dieses Flugzeuges nicht definitiv aufgeklärt.
Der Flug des Luftraumverletzers hätte natürlich mit den vorhandenen Kampfmitteln leicht unterbunden werden können. Er stellte kein allzu schwieriges Ziel für eine Vernichtung mit der Bewaffnung der Abfangjäger bzw. mit Fla-Raketenkomplexen dar. Doch entsprechend den bestehenden Weisungen, die im Befehl des Verteidigungsministers der UdSSR gemäß den üblichen internationalen Vorschriften festgelegt sind, waren die Truppen der Luftverteidigung verpflichtet, den Flug des Luftraumverletzers ohne Einsatz von Kampfmitteln zu unterbinden.
Die Dienststellen der Luftverteidigung haben jedoch in dieser Situation elementare Sorglosigkeit, Unbeweglichkeit und Unorganisiertheit an den Tag gelegt. Das Zusammenwirken der Truppen war nicht gewährleistet, Hubschrauber oder leichte Flugzeuge wurden nicht rechtzeitig eingesetzt, und die Überwachungsmittel stellten die Verfolgung des Ziels in der Annahme ein, daß es im Gebiet des Ilmen-Sees verschwunden sei. Mehr noch, die Führung des zentralen Gefechtsstandes hielt es nicht für notwendig, das leistungsstarke Luftverteidigungssystem für die unmittelbare Sicherung Moskaus zu alarmieren. Unter diesen Bedingungen setzte das Flugzeug seinen Flug fort und landete 19.05 Uhr im Zentrum der Hauptstadt.
Wie Ihnen bekannt ist, hat das Politbüro des ZK der KPdSU zu diesem Vorfall unverzügliche und harte Maßnahmen ergriffen. Dabei haben wir in vollem Umfang die betroffene Reaktion der sowjetischen Menschen auf den Vorfall berücksichtigt. Die zuständigen Organe wurden beauftragt, eine sorgfältige Untersuchung aller Umstände vorzunehmen, die mit dieser Verletzung des Luftraums der UdSSR und den Handlungen der zuständigen Kommandeure in dieser Situation im Zusammenhang stehen sowie die Verantwortlichkeit des Bürgers der BRD, der das Flugzeug führte, betreffen.
Die Ursachen, die diese Verletzung unseres Luftraumes ermöglichten, wurden von uns auf das sorgfältigste analysiert. Dabei konnten wir uns erneut davon überzeugen, daß dieser Vorfall keineswegs von einer Schwäche des Luftverteidigungssystems der Sowjetunion zeugt. Die Sowjetarmee und die Seekriegsflotte verfügen über modernste Komplexe zum Auffassen und Vernichten beliebiger Luftangriffsmittel, einschließlich niedrigfliegender Marschflugkörper, die wesentlicher schwerer auszumachen sind als dieses Flugzeug.
Die entscheidende Ursache für den Vorfall sehen wir im Fehlen der gebührenden Wachsamkeit und Disziplin, in der Verletzung der entsprechenden Vorschriften der Truppenführung, im unzureichenden Verantwortungsbewußtsein einer Reihe Offiziere und Generale. Dabei kann sich das Politbüro des ZK der KPdSU natürlich nicht allein auf die Bestrafung der Schuldigen beschränken. Es werden alle Maßnahmen eingeleitet, die notwendig sind, um eine effektive Führung der Truppen der Luftverteidigung zu gewährleisten, die Gefechtsbereitschaft der Truppen weiter zu erhöhen, die Ordnung im Diensthabenden System zu sichern und die militärische Disziplin nachdrücklich zu erhöhen. Eben in dieser Richtung wird die Führung der Streitkräfte durch die Partei weiter verstärkt und die Umgestaltung in der Sowjetarmee durchgesetzt werden, die zuverlässig auf Wacht für die sozialistischen Errungenschaften stand und steht.
Mit aufrichtiger Hochachtung
M. Gorbatschow
4. Juni 1987
Quelle: SAPMO-BA, DY 30/N2/2039/294, Bl. 104-106.